Über Geschmack lässt sich nicht streiten? Von wegen! Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen erklärt in seinem neuen Buch «Wut und Wertung», warum wir so emotional werden, wenn jemand unsere kulturellen Lieblinge in den Dreck zieht, und wer heutzutage eigentlich darüber entscheidet, was gute Kunst ist.
annabelle: Egal, ob Koriander oder ein Gemälde von Picasso – man hasst es oder man liebt es. «Ist halt Geschmackssache», sucht man im Streitfall zu beschwichtigen. Warum eigentlich?
Johannes Franzen: In der Regel versuchen wir erst mal, kooperativ zu kommunizieren und niemandem auf die Füsse zu treten. Wir ahnen instinktiv, dass eine Ablehnung des Geschmacks anderer Menschen ein grosses Verletzungspotenzial birgt.
Gerade wenn es um Lieblingsserien oder Bücher geht, sind wir ja in der Tat schwer getroffen, stinksauer oder auch einfach nur beleidigt, wenn jemand das geliebte Werk langweilig oder nervig findet. Ist doch nur eine Serie, ein Roman, ein Film, warum nimmt man sich das denn so zu Herzen?
Wir haben uns gesellschaftlich leider ein wenig daran gewöhnt, Musik, Filmen oder auch Büchern die Relevanz abzusprechen. Dabei ist Geschmack oft eine sehr wichtige Erzählung darüber, wer wir sind oder wer wir nicht sein wollen. Wenn mich ein Lied zu Tränen rührt, dann ist es alles andere als unwichtig, wenn mich eine andere Person fragt, wie ich nur diesen schnulzigen Song so gut finden kann. Durch unseren Kulturkonsum bauen wir soziale Identitäten auf. Ein Angriff auf meine Lieblingsband ist damit auch ein Angriff auf meine Freund:innen, die ganze Fan-Gruppe.
Von Swifties zu Michael Jacksons Soldiers of Love – Fans formieren sich und feuern gerade in den Weiten des Internets kriegerische Beschimpfungen ab. Sind Sie auch schon mal zur Zielscheibe geworden?
Ja. Als ich über die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen Michael Jackson nach der «Leaving Neverland»-Dokumentation schrieb. Ich habe nicht gesagt, dass er schuldig oder unschuldig ist, sondern lediglich geschrieben, wie sich unsere Wahrnehmung des Künstlers verändert hat. Ich bekam über 200 wütende Online-Kommentare und noch Wochen später wollten mich Leute anzeigen und forderten Entschuldigungen.
«Game of Thrones» ist ein weiteres Paradebeispiel für hyperinvolvierte Fans: Von Heiratsanträgen hin zu Morddrohungen an Darsteller:innen ist alles dabei. Klingt schon ein bisschen durchgeknallt, nicht?
Der Begriff der «parasozialen Beziehung» wird oft verwendet, um diese Bindung als verrückt oder übertrieben darzustellen. Ich habe in meinem Buch versucht, das zu entpathologisieren. Wenn man ein grosser Fan einer Autorin ist und alle ihre Romane gelesen hat, interessiert man sich eben auch für die Person dahinter. Man stellt eine Verbindung her zwischen dem, was man in den Büchern liest, und der Fantasie oder Persönlichkeit dieser Person. Und wenn die es dann richtig vergeigt, fühlt man sich betrogen.
Gérard Dépardieu, Kevin Spacey, Johnny Depp – die Auswahl an mutmasslich gewalttätigen oder übergriffigen Stars ist lang. Trotzdem ist man meist nachsichtiger als im privaten Umfeld, verdrängt, verteidigt sein Idol. Woran liegt das?
Weil man schockierende Informationen – etwa über sexuellen Missbrauch – erhält, die die alten Bilder aus glücklichen Fan-Tagen überschreiben. Viele Menschen reagieren darauf mit Wut, nicht nur auf die Künstler:in, manchmal auch auf die Opfer. Sie fühlen sich ihrer Beziehung beraubt. Zumal man sich als Fan in eine Art Komplizenschaft hineingezogen fühlt. Man hat diese wertende Bindung aufgebaut, manchmal schon seit Kindertagen, und muss sich nun plötzlich fragen, ob man den Film, den Song, den Auftritt des Übeltäters überhaupt noch geniessen darf.
Darf man?
Als Kultur haben wir diese Trennung zwischen Werk und Künstler aufgebaut, um genau solche Situationen zu entschärfen. Wer nun weiter einen Kevin-Spacey-Film schaut und das nicht unbedingt auf Twitter teilt, läuft vermutlich keine Gefahr, Sanktionen zu erleben. Es wird einem ja niemand die Tür eintreten und überprüfen, was man privat schaut. Aber die Rezeption ist vergiftet, die Unschuld ist weg – für die Betroffenen eine Katastrophe.
Bücher, Musik, Filme – alles harmlos im Gegensatz zu den Hasstiraden, die Lyriker:innen auf sich ziehen. Warum sind gerade Gedichte zu einer Zielscheibe geworden?
Das ist wirklich faszinierend, weil man ja eigentlich denken würde, dass ein Gedicht etwas Unschuldiges ist. Im Januar 2023 erhielt die Lyrikerin Judith Zander den mit 15’000 Euro dotierten Peter-Huchel-Preis, was der SWR auf seiner Facebookseite veröffentlichte. Daraufhin gab es über 1000 Kommentare, in denen die Dichterin, die Institution und die Kultur im Allgemeinen beschimpft wurden. Das fand ich zunächst sehr rätselhaft. Was mir bei näherer Betrachtung der Kommentare auffiel, war aber, dass viele Menschen eine Art Demütigungserfahrung zum Ausdruck brachten, die nicht selten in der Schulzeit wurzelte. Sie fühlten sich wieder einmal ausgeschlossen, weil ein Gedicht ihnen das Gefühl vermittelt hat, nicht dazuzugehören. Wie bei einer Matheaufgabe, die man nicht versteht. Und das frustriert natürlich.
Der Deutschunterricht als Quelle allen Übels? «Effi Briest» scheint ja noch so ein Beispiel für ungeliebte Zwangslektüre zu sein. Wie kommts?
Es ist fast ein bisschen traurig, wenn man sich vorstellt, dass ein ursprünglich zur Unterhaltung geschriebener Roman wie «Effi Briest» zur Pflichtaufgabe wird. Aber es stimmt, ich habe nie wieder so viele Kommentare wie zu «Effi Briest» gefunden, in denen Menschen über ihre Leidenslektüre schreiben, ihren Hass bis hin zu Ekel kundtun. Eine traumatische Erfahrung offenbar.
Wenn viele spätere Blockaden in der Schulzeit wurzeln, wie sollte man dann Kindern Literatur schmackhaft machen?
Sich stärker auf den hedonistischen Aspekt zu konzentrieren, wäre eine Idee. Wir sollten fragen: Warum ist man von einem Buch fasziniert und kann es nicht mehr aus der Hand legen? Ist doch klar, dass Zwangsrezeption nicht dazu beiträgt, eine positive Beziehung zur Kultur aufzubauen. Das betrifft übrigens nicht nur die Schule, sondern die Gesellschaft generell. Viele Menschen fühlen sich gezwungen, Dinge zu rezipieren – sei es durch institutionellen oder kulturellen Druck. «Ich sollte mir jetzt endlich mal diese Serie auf Netflix anschauen, aber ich muss doch auch noch dieses Buch lesen!»
Sind die negativen Erfahrungen der Schulzeit auch der Grund, weshalb Geisteswissenschaften in unserer Gesellschaft einen so niedrigen Stellenwert haben?
Die Neoliberalisierung der letzten 50 Jahre hat Kunst und Kultur stark getroffen. Diese Bereiche werden oft als gesellschaftlicher Luxus angesehen. Das merkt man an allen Ecken und Enden: Kulturinstitutionen werden gekürzt, das Mediensystem ist teilweise zusammengebrochen und auch in den Universitäten wird ohne Ende gespart. Das hat viel mit der jahrzehntelangen Propaganda für ein bestimmtes Nützlichkeitsdenken zu tun, das sehr auf Effizienz und Wirtschaftlichkeit ausgerichtet ist. Ein Problem, gegen das man kämpfen muss.
Habe ich deswegen auch immer ein latent schlechtes Gewissen, wenn ich mir schnulzige Weihnachtsfilme anschaue oder fluffige Popsongs höre, mich also nicht in Sachen Hochkultur bilde, sondern meine «Guilty Pleasures» auslebe?
Es gibt in der Kulturgeschichte einen Diskurs, der davon ausgeht, dass wahre Kultur auf eine Art und Weise auch Arbeit sein muss, genau das spielt hier mit hinein. Ein Dogma, das mitverantwortlich dafür ist, dass sich viele Menschen von der Hochkultur abwenden. Was ich aber fast noch interessanter finde als «Guilty Pleasure», ist das Gegenteil: Man mag bestimmte Dinge nicht, obwohl man sie mögen sollte.
Was mochten Sie denn nicht?
Kann ich das jetzt überhaupt laut sagen? «Barbie». War für mich nicht die Revolution. Ich habe mich dann aber auch umgehend hinterfragt: «Liegt es daran, dass ich ihn zu spät gesehen habe? Ein Mann bin? Ein bestimmtes Alter habe?» Das ist ein wichtiger Bestandteil der Rezeption – es geht nicht nur um Genuss oder Nicht-Genuss, sondern vor allem auch um das Nachdenken darüber.
«Es wird behauptet, dass etwas grosse Kunst ist, obwohl es eigentlich keine ist. Was im Museum steht, wird als Kunst angesehen, einfach durch den Kontext, in dem es präsentiert wird»
Wer entscheidet eigentlich heute darüber, was gute und was schlechte Kunst ist?
Im Grunde gibt es in der Moderne drei grosse Machtfaktoren: die Verständigen, den Markt oder die Masse – also entweder die Elite oder die breite Bevölkerung. Institutionen wie Universitäten, Preiskomitees und Medien setzen als Wertungsinstanzen Massstäbe, was als gut oder schlecht gilt. Auf der anderen Seite entscheidet die Masse durch Konsumverhalten, etwa durch Bestsellerlisten. Diese Machtverhältnisse verschieben sich im Laufe der Moderne immer wieder.
Ob die Reinigungskraft, die Joseph Beuys Fettecke wegputzte, oder der weggeschmissene Plastiksack Gustav Metzgers, der Teil einer Installation in der Tate Gallery war: Warum sind wir so freudig besessen von Kunstskandalen?
Weil sie lustig sind, Geschichten über das vermeintliche Unverständnis der Leute. Aber es steckt auch eine Heldengeschichte dahinter: Die Putzfrauen, die sagen: «Das gehört hier weg», machen sich stark gegen die elitäre Kunstwelt. Dahinter verbirgt sich eine unfreiwillige Satire auf den Kulturbetrieb – so etwas wie «Des Kaisers neue Kleider». Es wird behauptet, dass etwas grosse Kunst ist, obwohl es eigentlich keine ist. Was im Museum steht, wird als Kunst angesehen, einfach durch den Kontext, in dem es präsentiert wird. Das bedeutet, dass sich die Autorität darüber, was schön ist und was nicht, immer mehr vom eigentlichen Gegenstand löst. Sie wird zur Autorität von Personen und Institutionen, die Macht haben. Dadurch entsteht manchmal – und das ist gar nicht unbegründet – der Eindruck, dass es sich um reines Machtspiel oder sogar um Schwindel handelt.
In die Richtung geht dann auch der berühmte Ausspruch vor modernen Kunstwerken: «Das hätte auch mein Kind malen können»?
Genau, bis heute als Kampfschrei des unverständigen Bürgertums abgetan. Oft dient er den Verständigen dazu, sich über eben diese sogenannten Philister lustig zu machen. Die moderne Kunst als Schwindel zu sehen, weil sie sich im Verlauf der Kulturgeschichte immer mehr vom Handwerk entfernt hat hin zu einer auratisierten Form von Innovationsgenie. Heute sehen wir jemanden wie Picasso als Genie. Aber wenn man sich seine Bilder im Vergleich zu einem realistisch malenden Rembrandt anschaut, dann sieht man da nur Dreiecke, krumme Nasen und Geschmiere. Und da kann man schon verstehen, warum Leute sagen: «Das hätte mein Kind malen können.»
Liegt es in der Natur des Menschen, dass wir uns immer über andere erheben wollen?
Wert entsteht durch den Unwert anderer Dinge – das heisst, ich bin gut, weil jemand anderes nicht so gut ist. In manchen Bereichen ist das nicht so wichtig, aber in anderen gibt es handfeste Konsequenzen: wer wird besser oder schlechter bezahlt, wer darf wo wohnen und so weiter.
Als ich las, dass eines meiner Lieblingsbücher «Ein wenig Leben» mittlerweile als Tiktok-Phänomen gehandelt wird, war ich dennoch unzufrieden. Warum?
Pierre Bourdieu erklärt in «Die Regeln der Kunst», dass ökonomisches und kulturelles Kapital oft im Widerspruch stehen. Wer nur von wenigen anerkannt wird, gilt als exklusive Ressource für Kenner. Damit fühlen sich Verfasser:in und Leser:in natürlich cool. Um auf dem Markt zu bestehen, muss eine Künstler:in aber viele Bücher verkaufen. Sobald ökonomischer Erfolg eintritt, entsteht der Verdacht, man habe Kompromisse gemacht, um massentauglich zu werden. Das führt oft zum Verlust von kulturellem Kapital – ein Dilemma, dem zeitgenössische Künstler und Autoren ständig begegnen. Und Sie als Leser:in finden das natürlich auch nicht toll, weil man plötzlich zur breiten Masse gehört.
Haben Sie ein Beispiel, welcher Künstler:in es so erging?
Jonathan Franzen, dessen Buch «Die Korrekturen» von Oprah Winfrey für ihren Buchclub ausgewählt wurde. Er sah sich im Spannungsfeld die Achtung seiner gebildeten Akademiker-Freund:innen verlieren, als er auf dem Massenmarkt zu erfolgreich wurde, wusste aber auch, dass ihm nur so Millionengewinne und Bekanntheit sicher wären. Es endete damit, dass Franzen aufgrund seines öffentlichen Händeringens aus Winfreys Sendung wieder ausgeladen wurde.
Wie ist es für Jonathan Franzen ausgegangen?
Er hat tatsächlich kulturelles Kapital verloren und wird heute in manchen Kennerkreisen als jemand gesehen, der «falsche» Literatur schreibt, eine, die vorgibt, literarisch anspruchsvoll zu sein, obwohl sie eigentlich Massengeschmack bedient. Es dürfte ihn und seine Fans aber gefreut haben, dass er von der «New York Times» auf Platz 5 der 100 besten Bücher des 21. Jahrhunderts gewählt wurde.
«Wut und Wertung: Warum wir über Geschmack streiten» (S. Fischer Verlage) ist ab 9. Oktober im Handel erhältlich.
Johannes Franzen, Jahrgang 1984, ist ein deutscher Literaturwissenschaftler und Erforscher von Skandalen. Seinen Newsletter «Kultur & Kontroverse» kann man hier abonnieren.