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Literatur-Superstar Leïla Slimani: Ein Spagat zwischen zwei Kulturen

Popkultur

Literatur-Superstar Leïla Slimani: Ein Spagat zwischen zwei Kulturen

Die Autorin Leïla Slimani ist Marokkanerin, Französin und der Stolz der literarischen Grande Nation. Wie sie den Spagat zwischen zwei Kulturen meistert.

Am liebsten wäre sie unsichtbar, sagt Leïla Slimani. Denn sie sei nicht mehr sie selbst, seit sie 2016 den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis bekommen habe, sondern jemand, dem das Etikett Literatur-Superstar angeheftet worden ist. Nur die Corona-Maske, die sie auf der Strasse trägt, hilft ein bisschen, um sich zu verstecken. Der Fluch der Pandemie ist also auch ein kleiner Segen, zumindest für Leïla Slimani.

Die 39-Jährige ist im marokkanischen Rabat geboren und als junge Frau zum Studieren nach Paris gekommen. Heute wohnt sie mit ihrer Familie im bürgerlichen 9. Arrondissement. Ihr Mann, ein Franzose, ist Banker, die Kinder sind zehn und vier Jahre alt. Wenn sie über sich und ihre Arbeit spricht, wirkt sie sehr professionell und zielstrebig. Kein Wort zu viel, keine Phrasen, kein Geplänkel übers Wetter. Nur wenige Male lacht sie befreit auf, etwa als sie erzählt, dass sie nichts für ihre Gesundheit tue, gar nichts, um die vielen Stunden am Schreibtisch auszugleichen. «Ich rauche und trinke. Sport ist einfach nicht mein Ding.»

Sehnsucht nach dem Alleinsein

Das Buch, für das sie den Prix Goncourt bekommen hatte, es war ihr zweiter Roman, handelt von einer scheinbar perfekten Familie in Paris. Beide Eltern arbeiten, eine fürsorgliche Nanny kümmert sich um die kleinen Kinder. Doch eines Tages geschieht eine Tragödie: Die Nanny, die aus prekären Verhältnissen stammt, tötet die Kinder. «Dann schlaf auch du» hiess der kurze Roman, er war meisterhaft komponiert, spannend und schockierend. Mehr als eine Million Exemplare wurden allein von der französischen Fassung verkauft. Auch ihr Debüt «All das zu verlieren» über eine sexsüchtige Frau aus bürgerlichen Kreisen war bereits ein Erfolg gewesen.

Der Prix Goncourt hatte Leïla Slimani komplett überrascht. Zunächst machte er sie glücklich, dann laugte er sie aus. Sie absolvierte unzählige Lesungen und Interviews, war pausenlos auf Reisen. Die Sehnsucht nach dem Alleinsein, nach dem Rückzug an den Schreibtisch wuchs. «Ich habe begriffen, dass so ein Preis auch die Gefahr birgt, die Bodenhaftung oder den Verstand zu verlieren. Ich wusste, dass ich mich wieder an die Arbeit machen muss.» Stand sie unter Erwartungsdruck, den vergangenen Erfolg noch toppen zu müssen? «Nein», sagt Slimani, «diesen Stress hatte ich nicht. Aber der Preis hat mir auch nicht die Angst genommen, die ich immer habe, wenn ich ein neues Buch beginne. Ich bin streng mit mir, suche die Herausforderung. Wenn etwas zu leicht ist, ist es für mich nicht erstrebenswert.»

Der neue Roman ist völlig anders

Leicht wärs gewesen, wenn Slimani wieder einen kurzen Roman geschrieben hätte, der im bürgerlichen Pariser Milieu spielt. Der neue Roman, Auftakt einer Trilogie, spielt jedoch überwiegend in Marokko und ist etwas völlig anderes geworden. War der Ton in den ersten Büchern trocken und lapidar, schreibt sie jetzt ausufernd, bildhaft, süffig. Die französische Presse hat sich vor Lob für den ersten Teil der Familiensaga überschlagen – zu Recht.

Im Herbst 1944 lernen sie sich kennen: Mathilde, 20 Jahre, Elsässerin mit breiten Schultern, und Amine, 28, Marokkaner aus Meknès, der einen Kopf kleiner ist als sie. Amine kämpft in der französischen Armee, sein Regiment ist im Elsass stationiert. Als er mit dem Militärjeep in Mathildes Dorf eintrifft, sehen sie sich zum ersten Mal. Kein romantischer Anlass, um eine grosse Liebe zu beginnen. Trotzdem verfallen sie einander und heiraten. Sie folgt ihm nach Marokko, auf seine abgelegene Farm bei Meknès.

Geschichte von eigenen Grosseltern inspiriert

Im Elsass war er der Exot gewesen, jetzt ist Mathilde die Fremde. Sie muss damit klarkommen, dass Amine ein anderer ist als der Mann, in den sie sich verliebt hatte; ein Perfektionist, der seine Farm mit eiserner Disziplin bewirtschaftet. Doch damit nicht genug: Marokko steht kurz vor der Unabhängigkeit, und die französischen Kolonisatoren werden von den Einheimischen gehasst. Mathilde erfährt als Französin nicht nur von vielen Marokkanern Ablehnung, auch die Kolonisatoren verachten sie, weil sie einen Marokkaner geheiratet hat. Amine wiederum wird von seinen Landsleuten schief angesehen, weil er eine Französin zur Frau genommen hat, die sich zu allem Übel nicht in die Rolle des Heimchens am Herd drängen lässt.

Die Geschichte, die die Autorin hier mit vielen Zeitsprüngen erzählt, ist von ihren eigenen Grosseltern mütterlicherseits inspiriert: Auch Slimanis Grossmutter war Elsässerin, lernte ihren Mann, einen Marokkaner, 1944 im Elsass kennen, wo er als Soldat stationiert war. Aus Liebe ist sie ihm nach Marokko gefolgt.

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«Wenn etwas zu leicht ist, ist es für mich nicht erstrebenswert»

Das Motiv der Fremdheit durchzieht «Das Land der anderen» wie ein roter Faden, viele der Figuren fühlen sich unbehaust, nicht eins mit sich selbst, nicht mit den Umständen, in denen sie leben. Differenziert und klischeefrei leuchtet die Autorin ihre Protagonisten aus, macht sie so plastisch, dass man das Gefühl hat, selbst auf die Farm verbannt worden zu sein und den Figuren dabei zuzuschauen, wie sie sich durch den Alltag lavieren. Gelegentlich versetzt Slimani uns auch in die Stadt, nach Meknès, mit ihren Märkten, Boulevards und Cafés. Die Autorin schafft farbige Szenen, bisweilen ist auch magischer Realismus im Spiel. Wenn etwa Aïcha, die Tochter von Mathilde und Amine, sich zu einer anderen, spirituellen Welt hingezogen fühlt, in der Geister zuhause sind.

Spagat zwischen Kulturen

Die Fremdheit, der Spagat zwischen den Kulturen, ist Leïla Slimani vertraut. Sie hat zwei Nationalitäten, zwei Pässe. Präsident Macron hat sie, die Einwanderin, zum Aushängeschild gemacht, zur «Botschafterin für Frankophonie », um das Ansehen der französischen Sprache weltweit zu fördern. Wo würde sie sich selbst verorten? «Ich habe keine Ahnung. Ich weiss eigentlich gar nicht, wer ich bin. Ich fühle mich in beiden Ländern wohl, aber habe immer das Gefühl, von den anderen Menschen durch irgendetwas getrennt zu sein. In Frankreich heisst es gelegentlich, ich sei zu sehr Marokkanerin, in Marokko heisst es, ich sei zu sehr Französin und quasi eine Verräterin meiner Kultur.» Sogar als islamfeindlich ist sie schon von Landsleuten gebrandmarkt worden, was wohl daran lag, dass sie in ihrem Buch «Sex und Lügen» die Frauenfeindlichkeit in ihrem Geburtsland vehement anprangerte und auch in Interviews kein Blatt vor den Mund nimmt.

Leïla Slimani mag um Identität und Zugehörigkeit ringen, doch sie strahlt alles andere als Unsicherheit aus. Ihre Stärke bezieht sie vielleicht auch daraus, dass ihr der Spagat zwischen den Kulturen gelingt. Zudem hat sie in ihrer Familie zwei wichtige Vorbilder: ihre Mutter und die 2016 verstorbene Grossmutter, beides starke Frauen. Wie Mathilde im Roman war Slimanis Grossmutter eine emanzipierte Frau, die sich in ihrem marokkanischen Dorf um die Kranken kümmerte. Wenn ihr Mann abends ausgehen wollte, natürlich ohne seine Frau, ist sie ihm einfach hinterhergelaufen und hat resolut gefordert: «Ich komme mit!» Als Leïla klein war, erzählte die Grossmutter der Enkelin von ihren Erfahrungen. «Auch meine Mutter und meine Tante haben immer viel erzählt. In Marokko gibt es eine grosse Tradition des mündlichen Erzählens, das hat mich sicherlich geprägt.»

Ihr erster Roman wurde nie veröffentlicht

Leïla Slimani, die mittlere von drei Schwestern, kommt aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Der Vater war Ökonom, die Mutter Ärztin, beide hatten in Europa studiert – ein aufgeklärtes, offenes Elternhaus. Mit 18 ging Slimani nach Paris, wo sie Politik und Medien studierte. Fünf Jahre arbeitete sie als Journalistin für «Jeune Afrique», hatte aber stets das Gefühl, dass der Job nur ein Anfang war. «Ich wusste immer, dass ich Schriftstellerin werden wollte.» Ihr erster Roman – «langweilig, schlecht geschrieben, total misslungen », O-Ton Slimani – wurde nie veröffentlicht. Dafür sorgte ihr Debüt «All das zu verlieren» über eine verheiratete Nymphomanin für Aufsehen – nicht nur in Frankreich. Als sie damit in Marokko auf Lesereise ging, schockierte sie etliche ihrer Landsleute: In Marokko ist Ehebruch eine Straftat. Viele Marokkanerinnen vertrauten der Autorin ihre geheimen sexuellen Wünsche und Gewissensnöte an.

Zehn Stunden am Tag sitzt Leïla Slimani am Schreibtisch. «Das Land der anderen» hat sie in einem Jahr geschrieben, für ein so komplexes Werk ist das eine kurze Zeit. Zuvor hatte sie drei Monate recherchiert, die Geschichte studiert, mit Zeitzeugen gesprochen. Jedes Detail aus dem Alltag der Fünfzigerjahre in Marokko sollte stimmen.

Disziplin ist zur Gewohnheit geworden

Kennt sie auch lustlose Tage, an denen der Schreibtisch sich anfühlt wie ein Feind? «Natürlich. Ich würde dann lieber weiterschlafen oder rausgehen. Aber die Disziplin überwiegt, sie ist für mich zur Gewohnheit geworden.» Möglich, dass ihr die pflichtbewussten Eltern in den Knochen stecken, die, wie sie sagt, sehr fleissig waren und sich nie beklagt hätten. Nur einmal verliert sie während des Skype-Interviews ihre professionelle Beherrschtheit: als ihr zehnjähriger Sohn Emile wiederholt ins Zimmer platzt und sie ihn wütend anschreit.

Am Ende des neuen Romans steht ein Dank. An ihren Mann Antoine, der «liebevoll vor der Tür meines Arbeitszimmers Wache hält und mir jeden Tag beweist, wie sehr er mich liebt und unterstützt ». Man kennt solche Sätze von männlichen Schriftstellern, die sich bei ihren treusorgenden Frauen bedanken. Wie gut, dass es auch umgekehrt geht.

Leïla Slimani: Das Land der anderen. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand-Verlag, München 2021, 384 Seiten, ca. 31 Fr.

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