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Die Kultur-Highlights 2020: Was uns dieses Jahr bewegte

Popkultur

Die Kultur-Highlights 2020: Was uns dieses Jahr bewegte

  • Text: Melanie Biedermann; Fotos: ZVG

Covid hat unser Jahr geprägt. Doch aller Widerstände zum Trotz haben zahlreiche Kulturschaffende 2020 unglaubliche Arbeit geleistet. Wir haben die Highlights zusammen gefasst: 15 Musik-, Film-, Buch- und Streaming-Highlights, die 2020 Inspiration, Hoffnung und manchmal auch Ekstase in unser Leben brachten. 

1. «Queen & Slim» / Ein letzter Paukenschlag vor BLM

Es beginnt mit einem mässig lässigen Tinder-Date und endet in einer der aufwühlendsten Leinwandgeschichten der letzten Jahre: Auf dem Rückweg vom ersten Treffen werden Anwältin Queen (Jodie Turner-Smith) und ihr Match Slim (Daniel Kaluuya) von einem Polizisten angehalten. Die Situation eskaliert und der weisse Polizist eröffnet ohne triftigen Grund das Feuer auf das afroamerikanische Paar. Regisseurin Melina Matsoukas und Drehbuchautorin Lena Waithe blicken im gemeinsamen Roadmovie auf eine moderne Welt voll ungeklärter Konflikte. Dem Duo ist zudem ein Film gelungen, der Liebe und Empathie nüchtern und leidenschaftlich zugleich zeigt: als etwas, das nicht einfach passiert, sondern nur keimen kann, wenn Barrieren fallen.

Der Release von «Queen & Slim» nur wenige Monate vor George Floyds Ermordung am 25. Mai 2020 macht heute doppelt Gänsehaut:

2. Dua Lipa, «Future Nostalgia»: Dua Lipa läutet die neue Disco-Ära ein

Auch hier war das Timing gespenstisch: Zum Peak globaler Pandemie-Restriktionen veröffentlichte Dua Lipa am 27. März ein Album für all die Sehnsüchte, die uns seither schlagartig und bis auf weiteres verwehrt bleiben. Mit «Future Nostalgia» (Universal) servierte die im Kosovo verwurzelte Britin einen ekstatischen Soundtrack für Clubnächte, spontane Abenteuer und Intimität unter Fremden. Im August folgte die Remix-Version «Club Future Nostalgia» mit Clubgrösse The Blessed Madonna und Gast-Mixes von Mark Ronson und House-Legende Moodyman bis zu Hype-Produzentin Yaeji. Mit Gästen von FKA Twigs bis Elton John feierte Dua Lipa am 27. November schliesslich das Live-Stream-Event «Studio 2054». 2020 war ihr Jahr: Dua Lipa schlug Brücken zwischen Mainstream, Nischen und Generationen als lebten wir wieder in der Disco-Ära.

3. Sea Change Festival: Festivals florieren zwischen den Welten

Mit Lockdowns und Restriktionen war die Festival-Saison wie wir sie kannten gestrichen, doch einzelne Veranstalter liefen zu Höchstform auf: Das Sea Change Festival etwa, das im Mai am englischen Küstenort Totnes stattfinden sollte, sattelte auf eine Online-Version um, mit der niemand rechnete: Newcomer wie die britische Band Caroline teilten exklusive Premieren, andere, darunter die grossartige junge Punk-Pop-Band Porridge Radio und der pakistanisch-amerikanische Komponist Qasim Naqvi, sendeten intime Sets aus Schlafzimmern und Küchen. Parallel fanden Live-Twitter-Diskussionen, Tarot-Readings und Dokfilm-Screenings statt. Viele der über zwei Tage verteilten Programm-Slots blieben über das Festival hinaus verfügbar, einschalten konnte man in seinen Bubbles auf Wiesen, allein im Bett, wo immer es passte. Das Format war neu, aufregend und auf eine Art inklusiv, an man 2020 nicht mehr glaubte.

Die britische Newcomer-Band Caroline zeigte am digitalen Festival eine Video- und Songpremiere:

4. «I May Destroy You»: «I May Destroy You» erklärt wie sexuelle Gewalt wirklich wirkt

Eine Serie, die sexuellen Missbrauch darstellt wie er ist: schambehaftet, traumatisch, und noch immer hochgradig unverstanden. Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin Michaela Coel erzählt die Geschichte um Autorin und Social Media-Star Arabella entwaffnend roh und aus der Perspektive einer Person, die von eigenen Erfahrungen zehrt. Am Edinburgh Television Festival 2018 sprach die 33-Jährige erstmals von ihren persönlichen Trauma, ihre Serienfigur Arabella spiegelt dieses in einer emotionalen Achterbahn, im Ringen um Glaubwürdigkeit und die notwendige Zeit zur Heilung. «I May Destroy You» steckt voller Offenbarungen, auch für all jene, die bisher nur am Rande zusahen, zu wenig hinterfragten und vielleicht selber zu oft nicht Nein sagten.

«I May Destroy You» kann man getrost als die Seriensensation 2020 bezeichnen:

Die Koproduktion von BBC und HBO startete am 7. Juni auf BBC und ist seit 19. Oktober auch schweizweit via Sky Show zu sehen.

5. Dara McAnulty, «Diary of A Young Naturalist»: Ein sechzehnjähriger Nordire entfacht den Naturalismus in der Literaturwelt

Der 15-jährige Dara McAnulty wuchs mit seiner Familie im ländlichen Nordirland auf. Mit fünf Jahren wurde bei ihm Autismus diagnostiziert, genau wie davor und danach schon bei seiner Mutter und den zwei Geschwistern. Im Tagebuch notiert der Autor und Naturalist über vier Jahreszeiten und sein 15. Lebensjahr hinweg seine Beziehung zur Pflanzen- und Tierwelt, und er tut das auf eine Art, dass man sich fragt, wie man überhaupt einen Tag ohne verbringen kann. McAnulty hat für sein Debüt mehrere Buchpreise gewonnen, darunter den Wainwright Prize for Nature Writing. Auch Erfolgsautor Robert Macfarlane attestierte dem Nachwuchsautor «eine aussergewöhnliche Stimme und Vision».

BU: «Diary of A Young Naturalist» ist am 21. Mai in englischer Erstausgabe bei Little Toller Books erschienen und bei Orell Füssli verfügbar.

6. «Set My Heart on Fire, Immediately»: Perfume Genius entschlüsselt den Macho-Mann

«Set My Heart on Fire, Immediately», allein dieser Titel ist ein Gewinn. Und wenn man sich das fünfte Studioalbum von Mike Hadreas als Perfume Genius anhört, versteht man schnell: Der US-Musiker hat dieses Feuer längst entfacht, und zwar für sich selber. In «Set My Heart on Fire, Immediately» zeigt Hadreas die Zerbrechlichkeiten des Lebens anhand überzeichneter Maskulinität. Inspiriert von Elvis und Roy Orbison spannt er den Fächer auch musikalisch weiter auf: Seine Gitarren sind schriller, die Hymnen opulenter und die Balladen sinnlicher. «Set My Heart on Fire, Immediately» ist das Erwachen eines Mannes, der im Kampf mit sich selber, mit gesellschaftlichen Konventionen und dem eigenen Körper, oft und immer wieder am Abgrund tanzt, dabei jedoch verwurzelter scheint denn je. Man hört einen Mann, der das Leben spürt.

«Set My Heart on Fire, Immediately» ist am 15. Mai bei Matador Records erschienen.

7. «Endless Vital Activity»: Experten und Designer diskutieren radikales Fortschrittsdenken

2020 war Kreativität gefragt wie nie. Für David Johnston von der Londoner Designagentur Accept and Process war dieser Schluss schnell klar, weil er aber nicht für alles eine Lösung parat hat, lancierte er im Sommer die Podcast-Serie «Endless Vital Activity». Darin spricht der Agenturchef mit Experten aus allen möglichen Feldern über radikale Ideen, die künftig positiven Wandel initiieren können. Zu den Gästen gehörten etwa Extinction Rebellion Co-Gründerin Clare Farrell, Mikrobiologe Zach Bush MD oder Schauspieler und Filmemacher Damon Gameau.

8. «Dark Waters»: Mark Ruffalo erinnert an einen der grössten Umweltskandale der Geschichte

Mark Ruffalo reicht inzwischen fast als Argument um ins Kino zu gehen. Der Schauspieler und Produzent etablierte sich spätestens mit «Spotlight» zum Aushängeschild der Hollywood-Aktivisten. In «Dark Waters» erzählt der 53-jährige Amerikaner die wahre Geschichte um den knapp 20-jährigen Rechtsstreit von Unternehmensanwalt Robert Bilott gegen Chemieindustrie-Riese DuPont. Erst im Jahr 2017 wurde die Firma wegen der Kontaminierung des Trinkwassers von 100’000 Menschen um die US-Stadt Parkersburg verurteilt. Erinnern Sie sich noch an den Moment als plötzlich alle ihre Teflon-Pfannen aussortierten? Der Film dürfte Ihnen den Magen einmal mehr umdrehen.

Mark Ruffalo etabliert sich in der Rolle als Robert Bilott in «Dark Waters» einmal mehr als gutes Gewissen Hollywoods:

DARK WATERS Trailer from AscotElite on Vimeo.

9. «Queen’s Gambit»: «Queen’s Gambit» erklärt den Preis des weiblichen Genies

Wem 2020 nach guter Unterhaltung mit glossy Finish war, hat mit «Queen’s Gambit» den Jackpot geknackt. Die Geschichte um Waisenmädchen Beth Harmon, die als Teenager in den 1960er Jahren zur unwahrscheinlichen Schach-Ikone avanciert, behandelt diverse Traumata des patriarchalen Systems, allen voran, die Unbarmherzigkeit mit sich selber, die ein einsamer Kampf an die Spitze oft nach sich zieht. Aber eben: «Queen’s Gambit» ist nicht nur deep and schwer, sondern genauso schön und schwelgerisch. Die Set-Designs dürften diesen Herbst so manche Heimdeko-Aktion initiiert haben.

«Queen’s Gambit» ist seit 23. Oktober weltweit auf Netflix verfügbar.

10. «Good Love 2.0»: Priya Ragu lanciert ihre globale Musikkarriere

Soulsängerin Priya Ragu macht nicht erst seit gestern Musik, aber 2020 war entgegen vieler Vorzeichen das Jahr, das ihre Karriere kick-starten sollte. Nachdem «BBC»-DJane Annie Mac anfang Jahr einen ihrer Songs spielte, klopften 20 Labels an, alle aus dem Ausland. Das Rennen machte der britische Ableger des international Major-Labels Warner. Seit mit «Good Love 2.0» im Oktober die erste Single unter dessen Obhut erschien, berichtet die Presse aus aller Welt über die St. Gallerin. Die britische «Vogue» listet die die 34-Jährige als eine von sechs Musikerinnen, die 2021 durch die Decke gehen werden. Die «New York Times» erkannte den Grund dafür: «nach zwei Minuten fallen im Lied die Konventionen.» Priya Ragu verwebt die Sounds ihrer tamilischen Heimat derart kompromisslos mit westlichem Pop, dass selbst internationale Kritiker staunen.

Der Song, der um die Welt geht:

Seit Priya Ragu ihre multikulturelle Herkunft voll und ganz annimmt, blickt die Welt auf sie. In der Mini-Doku «damnshestamil» erklärt sie ihren Weg:

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11. «Frieden»: SRF zeigt mit dem Finger auf Schweizer Kriegssünden

Seit 2020 hat die Schweiz eine neue, durchwegs gelungene, selbstbewusste Serienproduktion vorzuweisen. Tatsächlich ist «Frieden» vielleicht die allererste ihrer Art. Das Drehbuch zum SRF-Sechsteiler stammt von Autorin Petra Volpe («Die göttliche Ordnung») und in den Hauptrollen sind mit Max Hubacher («Die göttliche Ordnung»), Annina Walt («Der Bestatter») und Dimitri Stapfer («Sohn meines Vaters») drei der talentiertesten Schweizer Schauspieltalente zu sehen. Das grosse Trumpf allerdings bleibt die Geschichte: «Frieden» hält der Schweiz schonungslos den Spiegel vor, und zeigt wie wir finanziell vom zweiten Weltkrieg profitierten während humanitäre Hilfe unter die Räder kam.

Am 8. November startete das sechsteilige historische Drama «Frieden» auf SRF:

12. «Milla meets Moses»: Milla lehrt uns die kleinen Momente im Leben gross zu machen

Milla ist 15, hat Krebs, aber so gar keine Lust sich die Freude und Neugier am Leben nehmen zu lassen. Im Gegenteil. Statt in schmerzhaften Details zu stochern, die der Schockdiagnose innewohnt, blickt die australische Regisseurin Shannon Murphy in ihrem Spielfilmdebüt auf Bedürfnisse und Sehnsüchte, die Glücksmomente und Neugier am Leben, die derartige Schicksalsschläge oft wecken. Murphy überzuckert nicht, stattdessen erzählt sie die Geschichte aus ungewohnten Blickwinkeln und mit brillanten Darstellern: Von Protagonistin Milla (gespielt von der talentierten Eliza Scanlan) über deren Crush Moses bis zum Geigenlehrer; als Zuschauer lacht und heult man mit jedem einzelnen mit. Manchmal wirft man dabei die Hände über den Kopf und denkt, Danke für diesen wunderbaren Reminder.

«Milla meets Moses» lief am 22. Oktober in den deutschschweizer Kinos an:

13. Manuel Stahlberger & Bit-Tuner, «i däre show» / Eine poetische Club-Saga übers Schweizersein

Mannsein, Frausein, Menschsein: Wir alle hadern mit einer Variante auf dem Spektrum des scheinbar simplen Daseins, und dem St. Galler Duo aus Liedermacher Manuel Stahlberger und Clubgrösse Bit-Tuner ist zu all den Themen eines der schlausten, gleichzeitig poetischsten und tanzbarsten Alben des Jahren gelungen. Auf «I däre Show» sezieren die beiden Musiker Themen von lähmender Depression übers Schweizer Bünzlitum hin zu Selbstliebe. Anspieltipp für die Tage vorm Fest: «Di heilig Famili». Und dabei nicht heulen, sondern lachen, am besten von ganz Tief.

«i däre show» ist am 16. Oktober via Irascible erschienen.

14. Das Radio-Revival: Die Stimmen, die uns durch den Tag begleiten

Radio galt lange als veraltet und für eine Generation, die weiter und stur analog funktioniert. 2020 hat das Gegenteil bewiesen: In Grossbritannien florierte das Medium seit dem ersten Lockdown im März, und nicht nur die ohnehin beliebten Sendungen wie etwa eine Morning Show mit Lauren Laverne auf BBC Radio 6, zahlreiche Initiantinnen und Initianten stampften noch nie gesehen Formate, und teils, siehe No Signal, ganze Sender aus dem Boden. Auch in der Schweiz wurden die Radios wach. Der Zürcher Sender Gds.fm lancierte etwa einen Youtube-Kanal mit Live-Konzert-Streams und -Talks. Es ist ein bisschen wie mit den Podcasts; da ist diese Stimme, die uns unterhält und in Live-Sendungen auch mal ganz konkret nachfragt. Diese Unmittelbarkeit lullt uns in eine Intimität, die rückblickend viel zu lange in Vergessenheit geraten war.

15. Kae Tempests «On Connection»:  Kae Tempest promotet radikale Empathie

Am 6. August wurde aus Kate Tempest via Instagram offiziell Kae. Statt wer zu weisen, wann sich die Dinge ändern werden, stelle Kae sich persönlich inzwischen die Frage: «Wie weit will ich gehen, um den Wandel hervorzubringen, auch in mir selber?» Kae änderte die eigenen Pronomen und begann so einen neuen Lebensabschnitt. Tempests musikalisches Schaffen war stets konfrontativ, aber damit immer auch lösungsorientiert. Dasselbe gilt für das erste Sachbuch «On Connection». Darin gehe es in erster Linie um den Gedanken radikaler Empathie, erklärte Tempest im Buch-Talk mit dem Londoner Southbank Centre: «Neugier, Offenheit und Vorstellungskraft schaffen Nähe». Alles, was für Empathie nötig ist, ist ein gemeinsamer Nenner. Und den gibt es immer, manchmal muss man halt aktiv danach suchen. Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

«On Connection» ist am 1. Oktober bei Faber in Englischer Erstausgabe erschienen. Eine deutsche Fassung ist für 19. April beim Suhrkamp Verlag angekündigt.