Künstler:in Kae Tempest: «Meine Musik wird erst durch die Interpretationen des Publikums lebensfähig»
- Text: Daniel Gerhardt
- Bild: Wolfgang Tillmans
Niemand erzählt gerade treffender von den Fallen und Verführungen des modernen Lebens als Künstler:in Kae Tempest.
Kae Tempest macht ernst. Anders geht es gar nicht. Bei Kae ist jedes Projekt ein persönlicher Mount Everest, jede neue Herausforderung muss grösser sein als die davor.
Drei Alben hat Tempest mit diesem Mindset in den letzten zehn Jahren veröffentlicht, vier Theaterstücke, einen Roman, ein Sachbuch und ein halbes Dutzend Gedichtbände, in denen es immer wieder um verwandte Fragen geht: Was macht eine Stadt wie London mit ihren Bewohner: innen? Was das Internet mit seinen Nutzer:innen? Wo sind noch echte, unbestechliche Verbindungen zwischen zwei oder mehr Menschen möglich? Und wie kommt man raus aus den Verhältnissen eines sogenannten modernen Lebens, das nur noch aus Widersprüchen, Konsumzerstreuung und Kollateralschäden zu bestehen scheint?
Tempest löscht sich selber mit «Priority Boredom»
Tempests Antwort lautet: erst mal gar nicht. Das vierte Album trägt den Titel «The Line Is a Curve» und beginnt mit dem Stück «Priority Boredom», das als Erstes überhaupt in Tempests Karriere nach zynischen Anwandlungen klingt. Jeder Log-in ist ein kleiner Tod in diesem Song, der mit düsterem Bass und Synthesizer vorwärts dröhnt, jede zufällige Berührung zweier Menschen ein Systemfehler.
Also Neustart, Festplatte formatieren, bloss nichts im Kopf behalten, was zu einer schönen Erinnerung taugen könnte. Tempest löscht sich selber mit «Priority Boredom» und alles, was dem Star aus London einmal heilig war. Letzte Hoffnung: möglichst schmerzfrei in der Content-Sosse des eigenen Lebens zu ertrinken.
«Die Leute stellen sich das immer so einfach vor»
Tempest macht ernst, wie gesagt. Auch am Tag des Interviews, der zugleich der erste Tag von Wladimir Putins Angriffs auf die Ukraine ist. Ende Februar, viel zu gutes Wetter in London, mittelgute Stimmung im Apartment von Kae, seit 2020 eine nichtbinäre Person. Selbst der Hintergrund in Tempests Zoom-Fenster passt zur Getriebenheit, die «The Line Is a Curve» ausstrahlt: ein Boxsack zum Abreagieren, ein Hometrainer für die Kalorienverbrennung und ein paar Zimmerpflanzen, die mal wieder jemand giessen müsste. «Ziehen wirs durch», sagt Tempest, wohl wissend, dass gerade niemandem nach Fragen und Antworten zu einem neuen Rap-Album über Schicksal und Auswege von vereinsamten Grossstadt-Seelchen ist.
«Es fühlt sich schon wieder an, als stünde unheimlich viel auf dem Spiel»
«The Line Is a Curve» ist die Tempest-Platte nach der griechischen Tragödie. Buchstäblich. Letztes Jahr im Sommer brachte Kae Tempest das Theaterstück «Paradise» auf die Bühne des Londoner National Theatre, eine rein weiblich besetzte Adaption des Dramas «Philoktetes» von Sophokles, geschrieben und uraufgeführt im Jahr 409 vor Christus. Was sollte danach noch kommen?
Jedenfalls kein halbgares Erholungsprojekt: «Es fühlt sich schon wieder an, als stünde unheimlich viel auf dem Spiel.» In Gedanken fügt man hinzu: weil bei Kae Tempest – auf «The Line Is a Curve» auch und endlich wieder Rapper:in – halt immer viel auf dem Spiel steht.
«Die Leute stellen sich das immer so einfach vor», sagt Tempest. Ein Buch, ein Theaterstück, ein Album und dann das Gleiche von vorn. Tatsächlich ist Kaes Vorgehensweise mehr Zickzack als Geradlinigkeit. Die Projekte verschwimmen ineinander, Kae verzettelt sich und entwirrt die Verwirrung wieder, schiebt Ideen hin und her und kommt – irgendwann, vielleicht – bei etwas an, dass sich fertig anfühlt. Oder zumindest so fertig, dass es raus kann in die Welt.
«Man muss sich meine Arbeit vielleicht wie Sternbilder vorstellen«, sagt Tempest. «Zwei oder drei Dinge, mit denen ich mich gleichzeitig beschäftige, bilden am Ende etwas, das lose zusammengehört.» Wenn man die Verbindungen erkennt. «Ja, genau. Wie bei einem Sternbild eben.»
«Mir war wichtig, dass man auf dem Album hört, wer meine Community ist»
Tempests neustes Sternbild besteht demnach aus dem erwähnten Theaterstück «Paradise», dem ein Jahr zuvor veröffentlichten Buch «On Connection», einer Art künstlerischer Selbstbespiegelung in Essay-Form, und nun eben «The Line Is a Curve». Drei eigenständige und doch voneinander untrennbare Projekte, die den Zeitraum der Corona-Pandemie abdecken und nicht zuletzt deshalb um zwischenmenschliche Verbindungen, Distanz und Hindernisse kreisen.
«Mir war wichtig, dass man auf dem Album hört, wer meine Community ist», sagt Tempest. «Wer die Leute sind, mit denen ich abhänge und arbeite, seit ich 15 oder 16 bin. Natürlich war das auch eine Reaktion auf Corona und die damit einhergehende Isolation. Die Platte musste so kooperativ wie möglich entstehen, damit ich auch mal abschalten und der Intensität meines eigenen Gehirns entkommen konnte.»
Mehr als je zuvor spielt auch die Musik eine Schlüsselrolle
Der Song «Priority Boredom» gibt also nicht den Ton für das Album «The Line Is a Curve» vor. Er markiert stattdessen einen Start- und Tiefpunkt, von dem aus sich Tempest auch zu hoffnungsvollen und – besonders typisch – lösungsorientierten Stücken vorarbeitet. Mehr als je zuvor in Tempests Karriere spielt dabei auch die Musik eine Schlüsselrolle. Beats und Blasinstrumente, Gitarren- und Klavierakkorde sind dieses Mal keine reinen Stimmungsverstärker.
Sie erzählen eigene Geschichten, die parallel und manchmal auch quer zu Tempests Texten über Outlaws und Aussteiger:innen verlaufen. So ist das bisher dynamischste und lebendigste Album entstanden. Der Song «Salt Coast» führt in die raue englische Natur und macht das dortige Wetter mit musikalischen Mitteln spürbar.
«Zwanzig Jahre lang hatte ich versucht, mir das Rappen beizubringen»
Das ist bemerkenswert, weil Tempest noch immer in erster Linie als Dichter:in und Gewächs der Londoner Spoken-Word-Szene gilt. Die Musik kam später hinzu und lange Zeit nicht über begleitende Funktionen hinaus. Das letzte Album, «The Book of Traps and Lessons» aus dem Jahr 2019, war für Tempest noch «eine Art Theaterstück, das es nur in meinem Kopf gab».
Ausgerechnet der legendäre Produzent und Hip-Hop-Pionier Rick Rubin hatte den Entstehungsprozess der Platte betreut und Kae in sein Studio nach Los Angeles eingeladen. Dort überraschte er mit der Ansage, dass er auf keinen Fall ein Rap-Album aufnehmen wolle. «Am Anfang war das schon herzzerreissend», sagt Tempest. «Zwanzig Jahre lang hatte ich versucht, mir das Rappen beizubringen. Dann komme ich endlich beim grössten Rap-Produzenten überhaupt an, und der sagt mir, dass er etwas ganz anderes vorhat.»
«Was die Menschen in meine Arbeit hineinlesen, das ist letztlich auch ihre Bedeutung»
Im Rückblick ist Tempest glücklich mit dem Ergebnis dieser Begegnung, auch wenn «The Book of Traps and Lessons» das erste Album war, das nicht, wie die anderen, ganz selbstverständlich für sämtliche renommierten Preise des britischen Musikgeschäfts nominiert wurde.
Zu abstrakt blieb die Platte, zu wenig greifbar Tempests Erzählstil. Umso eindringlicher erscheint nun die Kurskorrektur, die mit «The Line Is a Curve» vollzogen wird. Diesmal rappt Kae, macht Musik und erzählt Geschichten in gleichberechtigter Personalunion. An die Stelle des Superstar-Produzenten treten alte Weggefährt:innen und neue Vertraute, die dem Album mit ihren Beiträgen das Gefühl einer intimen Jamsession verleihen. Ganz ohne erzählerische Kniffe wollte Tempest die Platte dann aber doch nicht bestreiten.
Drei Mal hat Kae die Texte für «The Line Is a Curve» eingerappt, für drei Musiker:innen mit unterschiedlichem Alter und Background, die im Studio sassen und die Geschichten auf sich wirken liessen. Das fertige Album wurde schliesslich aus diesen drei Performances montiert.
Die Bedeutung der Songs habe sich immer wieder verändert
Die Bedeutung der Songs, glaubt Tempest, habe sich dabei immer wieder verändert, je nachdem, wer ihr gerade gegenübersass. Ein älterer, längst sesshafter Mann reagiert eben anders auf die Landfluchtversuche junger Song-Figuren als eine Person, die sich selbst mit solchen Gedanken herumplagt. Der verzweifelte Social-Media-Konsum einer anderen Figur muss wiederum fremdartig wirken, wenn man selbst überhaupt kein Smartphone bedienen kann.
Tempest hat aus diesen Sessions mit Ein-Personen-Publikum eine grosse Lehre für sich selber abgeleitet. Was auch immer die Botschaft der Songs sein möge: Als kreativer Mensch habe man selbst keine Kontrolle mehr darüber, sobald man die Musik aus der Hand gibt.
«Das finde ich gar nicht beunruhigend», sagt Tempest, «sondern tatsächlich sehr schön. Ich habe mit meinem neuen Album etwas erschaffen, aber lebensfähig wird es erst durch die Interpretationen meines Publikums. Was die Menschen in meine Arbeit hineinlesen, das ist letztlich auch ihre Bedeutung. Alles andere wäre anmassend. Ich weiss ja selbst nicht, wo die Worte herkommen, aus denen meine Texte entstehen.»