Kings Elliott: Eine Schwyzerin startet in den USA durch
- Text: Melanie Biedermann
- Bild: JC Verona
Die Schwyzerin Anja Gmür aka Kings Elliot (29) ist die Schweizer Pop-Newcomerin der Stunde. Mit unserer Autorin spricht sie über ihre noch junge Karriere und über die besondere Gabe, private Themen in einen Schutzwall zu verwandeln.
Der erste Eindruck: Das ist ein gutes Lächeln. Kings Elliot grinst warm und breit, als sie an diesem heissen Juli-Nachmittag die Tür öffnet. Ihr Look – ein übergrosses T-Shirt und weite Sportshorts – passt zur Temperatur und erinnert ein bisschen an Billie Eilish. Er ist nicht die einzige Parallele zwischen den beiden Popsängerinnen – aber dazu später mehr. Elliot – oder bürgerlich Anja Gmür (29) – führt ins Wohnzimmer einer typischen Londoner Stadtwohnung: viktorianischer Bau, hohe Decken, enge Korridore, steile Treppen.
Es ist das Zuhause ihres Produzenten Conway Ellis, der am anderen Ende der Wohnung sein Heimstudio eingerichtet hat. Ein improvisiertes Schlafzimmer-Set-up ist das bei Weitem nicht: Lautsprecher, Mikrofone, Computer und Instrumente sind in diesem Hightech-Wintergarten akribisch mit Mischpulten, allerlei Geräten, Tasten, Knöpfen und Reglern verkabelt. Der Raum ist abgedunkelt, hat direkten Zugang zu Garten und Küche. Es ist ein guter Ort, um sich die Nächte mit kreativer Arbeit um die Ohren zu schlagen.
Das Duo arbeitet gerade an neuer Musik. Ihr Zeitfenster ist knapp, denn die Live-Agentur hat einen grossen Fisch an Land gezogen. Im August und September eröffnet die Newcomerin die US-Shows von Imagine Dragons und Macklemore, zwei der mitunter erfolgreichsten Mainstream-Acts der vergangenen Jahre.
«Ich will einmal für einen Swiss Music Award nominiert sein»
Dazwischen spielt die Schwyzerin erste Headliner-Shows in Los Angeles und New York. Diese Konzerte geben ihr eine Reichweite, von der Newcomer:innen weltweit oft ein Leben lang träumen. Doch Elliot hält den Ball flach: «Ja, diese Tour ist der absolute Wahnsinn, trotzdem stehen wir noch ganz am Anfang.» Vor einem knappen Jahr unterschrieb sie einen Vertrag mit Universal Music in den USA und Deutschland. Die Präsenz in Europa sei ihr sehr wichtig.
Als sie im Mai als Nominierte und Show Act zum ersten Mal Teil der Swiss Music Awards war, ging für die junge Musikerin auch ohne Trophäe ein Traum in Erfüllung: «Ich sagte meinem Manager von Anfang an, dass ich einmal für einen Swiss Music Award nominiert sein will – ich bin nun mal Schweizerin und mache mich selber stolz, wenn ich in der Schweiz etwas erreiche.»
Zuhause eine Karriere zu lancieren, war für Elliot trotzdem nie eine Option. «Ich wusste immer, dass ich meine Lehre machen muss, danach die BMS, ein bisschen Geld verdienen, auswandern und an eine Popmusikschule », erzählt sie. Letzteres auch, um sich ein Netzwerk aufzubauen. Denn Sängerin werden wollte sie immer schon, aber zuhause fühlte sie sich mit ihrem Wunsch nie ernst genommen: «Vielleicht war das auch einfach meine eigene Unsicherheit – ich kannte nicht viele Leute in der Schweiz, war ein bisschen isoliert und wusste nicht, wo anfangen.»
London bringt für die schweizerisch-britische Doppelbürgerin einige Vorteile: Neben der internationalen Kreativ- und Musikszene darf sie mit ihrem Pass bleiben, solang sie will, Brexit hin oder her. Seit 2016 ist sie inzwischen dort, zwei Jahre später lernte sie über einen ihrer Nebenjobs Conway Ellis kennen. «Ich war auf der Suche nach jemandem, der mir bei der Produktion hilft», erinnert sie sich. «Wir hatten beide vorher noch nie mit jemandem zusammengearbeitet und ich war sehr nervös.»
Ellis habe damals jeweils den Raum verlassen, um ihr Privatsphäre zum Schreiben zu geben. Inzwischen sind die beiden so vertraut, dass sie gemeinsam über den Texten brüten. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn ihre Lieder sind zutiefst persönlich. Der Song, der ihr im Dezember 2020 erstmals grössere Aufmerksamkeit einbrachte, heisst «I’m Getting Tired of Me» – grob übersetzt: «Ich kann mich selber nicht mehr ertragen». Im dazugehörigen Musikvideo sieht man sie während einer Panikattacke. Diese Offenheit mit schwierigen Gefühlen und Gedanken musste Elliot lang lernen.
«Ich merkte, dass es auch anderen Leuten etwas bringt, wenn ich ehrlich bin»
«Ich wusste schon zu Teenagerzeiten, dass etwas nicht in Ordnung war», erzählt sie. Diagnosen – Borderline und Angststörung – habe sie erst vor ein paar Jahren erhalten. «Um 2019 hatte ich sehr regelmässig Panikattacken.» Zu der Zeit begann sie, in Pubs an Open-Mic-Abenden zu spielen. «Ich wusste, dass ich meine Angst konfrontieren muss, wenn ich eine Musikkarriere machen will. Und in Pubs kannte mich ja niemand, ich konnte drei Lieder singen und tschüss.»
Eine Zeit lang trat Elliot wöchentlich auf und überwand dabei nicht nur immer öfter die Panik, sondern spürte auch Feedback: «Ich sang diese tief traurigen Lieder, und einige Leute hörten natürlich nicht hin, aber manche waren extrem berührt. Da merkte ich, dass es auch anderen Leuten etwas bringt, wenn ich ehrlich bin. Sie fühlen sich dann weniger allein.» Die öffentliche Diskussion um mentale Gesundheit steckt noch immer in den Kinderschuhen. Im Pop-Kontext zählt Billie Eilish zu den Ersten, die das Thema explizit in ihrer Musik thematisierten. Für Elliot war sie auch in anderer Hinsicht ein Vorbild: «Sie zeigte mir, dass man nicht immer laut sein muss, um gehört zu werden, und dass man keine Adele-Stimme braucht, um Popstar zu werden.»
Kings Elliot fällt auch auf andere Weise aus dem klassischen Popstar-Raster. «Während der Ausbildung sagte man mir immer: Anja, du kannst nicht immer nur traurige Lieder singen – es stellt sich heraus: Man kann. Du musst einfach deinen eigenen Sound und deine Nische finden.» Lana del Rey habe sie in der Hinsicht stark inspiriert. Vom Wiegen in der Del-Rey-Melancholie schweift Elliot in eine andere Welt ab und erinnert sich, wie sie eines Tages zu Conway Ellis ins Studio kam, nachdem sie den Disney-Klassiker «Pinocchio» gesehen hatte.
«Ich fühlte mich an dem Tag sehr traurig und wollte etwas schauen, das mich aufmuntert», lacht sie. Ein Lied aus dem Soundtrack ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie singt den Refrain von «When You Wish Upon a Star» – ein Lied von 1940, gesungen von Cliff Edwards – und erklärt: «Diese Melodie, die Chöre, die Dramatik und das latent Unheimliche: Ich finde all das wunderschön, es gibt mir einfach ein warmes Gefühl.» Danach habe sie angefangen, Frank Sinatra und Filmmusik aus den 1940ern und 1950ern zu hören. «Da kam alles zusammen», erinnert sie sich. So entstand schliesslich «I’m Getting Tired of Me», «das erste Lied von dem ich wusste, dass es wirklich gut ist».
«Du kannst in der Melancholie auch baden»
Abheben wird die junge Musikerin trotz erster Erfolge kaum, sie scheint fest in der Realität verankert: «Es gibt eine Generation, die es vielleicht nicht versteht, dass man so offen über mentale Krankheiten spricht – weil es unangenehm ist, für manche vielleicht auch peinlich.»Sie selber habe sich lang schuldig gefühlt, so offen zu sein und andere Menschen damit zu behelligen. «Aber am Ende geht es um mich, ich drücke mich so aus, es tut mir gut.» Das Ziel ist, weiter von der Musik leben zu können und «einmal einen Swiss Music Award zu gewinnen, da bin ich verbissen».
Der Zuspruch wächst indes: «Ich bekomme viele Dankesnachrichten, von ganz jungen 13-jährigen Mädchen bis hin zu 47-jährigen Männern, die mir schreiben: Es hat mir so geholfen, dass du das geteilt hast.» Auch die Melancholie, die sich durch ihre Musik zieht, dient letztlich einem Zweck: «Ich habe diese Lieder ja absichtlich so geschrieben, dass sie einen einlullen, in Watte packen und heilen – du kannst in der Melancholie auch baden.» Und den Effekt eines warmen Schaumbads muss man kaum mehr jemandem erklären.
Aktuelle EP: «Bored of the Circus»
Live: 27. Oktober, Baloise Session Opening Night