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Kim de l’Horizon: «Ich bin kein Fan davon, auf Identitätskategorien herumzureiten»

Kim de l’Horizon: «Ich bin kein Fan davon, auf Identitätskategorien herumzureiten»

Im Sommer 2022 hat Autor:in Kim de l'Horizon für «Blutbuch» den Deutschen und Schweizer Buchpreis bekommen. Was beschäftigt Kim gerade? Ein Gespräch über Komplimente im ÖV, Klimaschutz und das Patriarchat.

annabelle: Kim de l’Horizon, Ihr Buch ist inzwischen ein halbes Jahr alt. Es bringt wichtige Themen auf und wird viel diskutiert. Dennoch dürfte bei weitem nicht jede:r den eigentlichen Inhalt kennen. Wie erklären Sie einer fremden Person, worum es in «Blutbuch» geht?
Kim de l’Horizon: Ha, das ist schwierig zu beschreiben. Ich stelle mir das Buch ja als eine Art Hexenkessel vor, in den ganz unterschiedliche Zutaten hineinkamen. Das Süppchen ist scharf, stösst gewissen Leuten vielleicht auf. Aber eigentlich ist es ein Heilsüppchen. Oder ein Medizinbündel; ein dicht gewobenes Geflecht, das alle Themen tragen kann.
  
Sie haben im Zusammenhang mit dem Buch auch schon von kollektiver Therapie gesprochen.  
Ja, die Probleme, die ein Körper wie meiner hat, können nicht von der Gesamtgesellschaft losgelöst gedacht werden. Im Patriarchat leiden alle Geschlechter. Vor allem nicht-männliche Geschlechter leiden ganz konkret an sexualisierter Gewalt. Bei cis Frauen ist das eindeutiger, bei trans-femininen Körpern passiert gleichzeitig eine Übersexualisierung und eine Abwertung.

Und die Folgen davon müssen wir nun im Kollektiv therapieren?
Genau. Ich glaube einfach nicht, dass du dich selber therapieren kannst und dann geht es dir wieder gut. Wir sind so verstrickt mit der Gesellschaft und damit, was in dieser Gesellschaft möglich ist und was nicht. Deswegen kann Literatur, wie ich sie machen möchte, nur kollektiv versuchen, die Dinge zu verändern. Anders geht es nicht – sonst lebt man in einer Bubble.

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«Wenn mir etwas passiert, nutze ich diese Mittel, um über mich und die Gesellschaft nachzudenken»

Sie sagen, da Sie jetzt eine Plattform haben, müssen Sie politisch sein. Tatsache ist, dass Ihre schiere Existenz politisiert. 
Ich kann gar nicht nicht politisch sein wollen. Ich könnte versuchen, das Thema hart zu ignorieren, aber dazu kommt, dass ich nicht daran glaube, dass Kunst in einem unpolitischen Raum sein kann. Und ich glaube, gerade weil mein Körper so politisiert, ist es für mich wichtig, dass ich das annehme und versuche, aktiv damit umzugehen und mich aktiv dazu zu verhalten.

Diese Konfrontationen sind bekanntermassen oft herausfordernd und kräftezehrend. Was tun Sie, wenn Ihnen alles zu viel wird? Wie gehen Sie damit um? 
Dann ziehe ich mich zurück oder rede mit Leuten, denen es ähnlich geht. Und ich lese viel, auch Philosophie und politische Theorie, und schreibe Tagebuch. Wenn mir etwas passiert, nutze ich diese Mittel, um über mich und die Gesellschaft nachzudenken; ich gehe also intellektuell damit um und versuche, eine Art von Sinn zu generieren sowie Zusammenhänge herzustellen. Das gibt mir das Gefühl, aktiv zu sein, auch wenn ich eigentlich das Gefühl habe, nichts am Status quo ändern zu können. Es gibt mir auch mehr Freiheit.

Wie meinen Sie das? 
Ich glaube, dass ich mich dadurch inzwischen auch viel wohler in meinem Körper fühle und damit etwas weniger Gewalt erfahre. Wobei das auch ins Gegenteil kippt; es kann provozieren, wenn ich zu flamboyant bin. Aber ich glaube, ein gesundes Mass an Selbstvertrauen und Selbstwertschätzung ist letztlich ein liebevoller Panzer, der Leuten, die nicht unendlich frustriert sind, weniger das Gefühl gibt, sie könnten mir etwas antun. Aber es kann immer etwas passieren, das ist schon so.

Ihr Buch ist auch ein Statement für die Macht der Sprache. Wo sehen Sie ihr Potenzial?  
Wenn man aufwächst, hat man ja das Gefühl, Sprache sei in Stein gemeisselt. Jugendliche entwickeln dann aber Codes, um anders zu reden als etwa die Erwachsenen. Da beginnt eine spielerische Art, sich kleine Schlupflöcher in der Sprache zu suchen.

Wollen Sie mit Ihrer Literatur solche Schlupflöcher finden?  
Was ich im Buch versuche zu zeigen, ist, dass in der Sprache auch sehr viel Altes deponiert ist, das wir immer weiter in die Welt transportieren. Literatur ist für mich eine Möglichkeit, den Regeln, die wir alle als Kind mitbekommen haben, etwas auszuweichen und vielleicht eigene Regeln aufzustellen. Aber Sprache kann nicht alles, es gibt körperliche und weltliche Realitäten, die ausserhalb der Sprache sind.

Zum Beispiel? 
Ein nicht binär markiertes Geschlecht wie they/them im Englischen ist in der deutschen Sprache einfach nicht vorgesehen. Im Englischen wurde es schon immer benutzt: A person came into a room, I didn’t know them. Das sagen auch die Leute, die vehement gegen non-binäre Geschlechter sind. Aber unsere Körper gab es schon, bevor es die deutschen Pronomen gab.

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Hat sich das Verhältnis zu Ihrem Körper durch das Buch verändert? Kim, die Hauptfigur im Buch, sucht ja explizit nach Weiblichkeit, während die Männlichkeit immer sehr präsent bleibt.
Das Fluide und das Wasser stehen für mich jenseits der Schwarz- und Weiss-Pole. Dort begibt sich die Figur hinein, wenn sie zum Beispiel schmilzt oder ihre Körpergrenze nicht ganz klar spürt, was öfter der Fall ist. Das ist manchmal bedrohlich, manchmal ist es aber auch einfach ein Weg, aus diesem Machtgefüge hinauszufliessen.

Dem Buch wird von manchen Kritiker:innen vorgeworfen, dass es sehr kopflastig sei. Anders formuliert: anstrengend.
Ja, weil es nicht in der Sprach- und Weltordnung weiterschreibt, die wir uns gewohnt sind. Es braucht eine Anfangsenergie, die ein:e Leser:in dem Buch schenkt, damit der Text in einem aktiv werden kann.

Welche Rückmeldungen haben Sie am meisten bewegt?
Ganz viele. Natürlich die von queeren Menschen, die sich einfach bedanken und sagen, sie fühlen sich zum ersten Mal in  einem Text gesehen. Ich weiss, das ist extrem wichtig. Auch wenn ich heute Filme sehe oder Bücher lese, hoffe ich, bestätigt zu bekommen, dass Queer und Trans berechtigte und auch schöne Lebensformen sein können. Dann gibt es auch viele ältere Leute, vor allem ältere Frauen, die mich erkennen – oft im ÖV – und sagen, dass ihnen das Buch viel eröffnet hat. Dass es nicht nur eine junge Generation anspricht, freut mich extrem.

Unterdrückte Geschichten weiblicher Ahnen-Generationen sind im Buch sehr präsent. Die überdauernde Unterdrückung ist eine Parallele zu queeren und trans Geschichten.
Ja, das ist sie. Wie gesagt: Wir leiden alle unter dem Patriarchat. Wenn wir zusammenhalten würden, wären wir viel stärker. Wir wären die Mehrheit.

So weit sind wir aber noch nicht.
Nein, deswegen habe ich mich so gefreut, dass ihr von annabelle mit mir reden wollt. Frauen – und in der Schweiz sind es  vor allem weisse cis Frauen – sind ja die grösste unterdrückte Gruppe. Und es gibt eben auch Feministi:nnen, vor allem ältere weisse Feminist:innen wie Alice Schwarzer oder J. K. Rowling, die anti-trans sind. Ich finde es wichtig, zu betonen, dass cis Frauen und Queers unterschiedlich sind und wir auf andere Art unterdrückt werden, aber unter denselben Strukturen leiden.

«Ich glaube, dass die Klimakrise auch eine Empathiekrise ist»

Was wünschen Sie sich?
Ich bin kein Fan davon, auf Identitätskategorien herumzureiten, aber es ist wichtig, dass wir versuchen, einander zu verstehen. Dass wir unseren unterschiedlichen Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung, die wir haben, Raum geben, damit wir uns gegenseitig verstehen können. Wir sind verwandt, weil wir am gleichen System leiden. Und wenn man das noch ausführen will, dann muss man das Patriarchat, den Kapitalismus und den Kolonialismus als ein Machtgefüge sehen, das man nicht voneinander lösen kann.

Im Buch liest man davon, auch die Klimakrise klingt durch. Aktivist:innen schreien inzwischen von den Dächern, dass auch diese Krise eine Folge von Patriarchat, Kapitalismus und Kolonialismus ist. Wie wichtig ist Ihnen dieser Zusammenhang?
Sehr wichtig und es freut mich, dass Sie das Klimathema im Buch sehen. Denn so fest Frauen und Weiblichkeit in diesem System vom Normalen abgespalten sind, so sehr sind Natur, Tiere und Pflanzen darin vom Mensch abgespalten. Ich glaube, dass die Klimakrise auch eine Empathiekrise ist, weil wenn wir ein bisschen Empathie für nicht menschliche Körper und Lebewesen aufbringen könnten, dann könnten wir alles, was das kapitalistische System anrichtet, nicht akzeptieren. Ich meine, derzeit stirbt alle sieben Minuten eine Tierart aus. Seit wir miteinander reden, sind schon wieder fünf Arten ausgestorben.

Viele Menschen verdrängen diesen Fakt mehr oder minder erfolgreich. Was macht Sie am Artensterben so betroffen? Sollten wir alle betroffener sein?
Ich unterscheide eigentlich nicht zwischen Natur und Kultur, auch nicht zwischen Stadt und Land, ich glaube, das ist auch so eine menschgemachte Unterscheidung, weil: Wir sind auch Natur, wir sind auch Tiere. Wir sind Tiere, die keine Tiere sein wollen, ich glaube das ist der grosse Unterschied. Im Buch habe ich versucht, die persönlichen Beziehungen zu Einzelwesen zu zeigen. Ich glaube, diese Wahrnehmung wäre der allererste Schritt zur Empathie. Wir würden verstehen, dass ein Baum, der genau hier steht, auf seine ganz eigene Art gewachsen ist und ganz bestimmten Käferchen Zuflucht bietet. Es würde auch einen Unterschied machen, ob wir Vroni oder Hans essen – oder einfach Kalb.

Was wünschen Sie sich für Ihre berufliche Zukunft?
«Blutbuch» wird jetzt in 16 Sprachen übersetzt, kommt mit Lesungen auf die Bühne und wird derzeit fürs Theater adaptiert – ich glaube, viel mehr kann ich mir dafür gar nicht wünschen. Ich habe gerade sehr viel Bock zu schreiben und wünsche mir darum viel Zeit, um das auch zu tun zu können.

«Blutbuch» ist im Juli 2022 im DuMont Verlag erschienen und hat in der Folge sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis 2022 gewonnen. Derzeit ist Kim de l’Horizon auf Lesereise.

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