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Johanna Adorján schrieb ein Buch über Empörungskultur: «Mir fehlt oft eine Spur von Humor»

Literatur & Musik

Johanna Adorján schrieb ein Buch über Empörungskultur: «Mir fehlt oft eine Spur von Humor»

Tanz um die Fettnäpfchen: Die Berliner Autorin Johanna Adorján hat eine Satire über die Empörungskultur der Moderne geschrieben.

Die Welt war schon immer kompliziert. Doch so kompliziert wie heute war sie schon lang nicht mehr. Man merke das, sagt Johanna Adorján, zum Beispiel an jenen Männern, die einem ganz freundlich-unbedarft ein Kompliment zu machen versuchen: «Oh, du hast aber einen schönen Pullover an.» Um sogleich hinterherzuschieben: «Darf man das überhaupt noch sagen?» Es gibt so vieles, was man nicht mehr sagen darf. Es gibt so vieles, was sich gerade ändert. Da kann man schon mal den Überblick verlieren, vor allem, wenn man ein Mann und schon etwas älter ist. «Wir stecken gerade mitten in den grössten gesellschaftlichen Umwälzungen seit den 1960er-Jahren», sagt Johanna Adorján am Zoom-Bildschirm in ihrem gemütlichen Berliner Wohnzimmer.

Die Geschlechterverhältnisse sind so fluide wie nie zuvor, Digitalisierung, Klimawandel und Pandemie stellen unser Leben auf den Kopf, die linke Identitätspolitik kalibriert den moralischen Kompass neu, ein unbedachter Post auf Social Media kann einen jetzt den Job kosten oder die Ehre, die gute Laune sowieso. Lustig ist das alles nicht, im Gegenteil, «oft bleibt der Humor komplett auf der Strecke». Quasi aus Notwehr hat Adorján deshalb all die Irrungen und Wirrungen der Moderne, die Genderdebatten, Selbstdarstellungsorgien, Empörungsschlachten und Shitstürme in eine tragikomische Gesellschaftssatire gegossen.

Jüngere Kollegen wissen was heute relevant ist

«Ciao» ist ein Roman über Menschen, die mit Verzögerung begreifen, was da gerade mit ihnen passiert. Ihn zu lesen ist ein grosses Vergnügen, denn im Gegensatz zur Unbarmherzigkeit in den überhitzten Kommentarspalten werden hier alle mit Herz behandelt, sogar der alte weisse Mann. Hauptfigur ist der Endvierziger Hans Benedek, Kulturredaktor bei «Die Zeitung», dem der eigene schleichende Bedeutungsverlust bisher völlig entgangen war. Bis vor Kurzem galt er noch als wichtige Stimme seines Blattes, doch nun mehren sich die Zeichen, dass es langsam bergab mit ihm geht.

Jüngere Kollegen wissen plötzlich besser darüber Bescheid, was heute relevant ist. Schauspielerinnen, die er für vielversprechenden Nachwuchs hält, haben längst Millionen Follower auf Instagram und werben in Hochglanz-Magazinen für Chanel. Auch seine Flirts mit Praktikantinnen laufen nicht mehr so rund wie früher. Da macht Hans den verhängnisvollen Fehler, ausgerechnet die junge Netzfeministin Xandi Lochner zu porträtieren, die in Talkshows «schon drei Mal fehlerfrei LGBTQIA+ in einem Satz über Identitätspolitik untergebracht hat», während die anderen Gäste noch überlegen, was man heutzutage überhaupt noch sagen darf. Unschwer zu erahnen, wer sich da am Ende die Wunden leckt. Armer Hans.

Empathie für den Antihelden

Doch Adorjáns Blick auf ihren strauchelnden Antihelden ist nicht von Häme geprägt, sondern von Empathie. Adorján trägt ein Sweatshirt mit der Aufschrift «Kill ’em all», das auf interessante Weise mit ihrem Charme kontrastiert. So was darf man über Frauen vermutlich auch nicht mehr sagen, doch Adorján ist tatsächlich charmant, auf eine fast schon französische Weise. Vielleicht liegt es daran, dass sie zwischen Berlin und Paris pendelt, wo ihr Freund wohnt. Eigentlich ist sie studierte Opern- und Theaterregisseurin, doch ausgeübt hat sie diese Profession nie.

Im Hauptberuf schreibt Adorján als Autorin für die «Süddeutsche Zeitung», in deren Magazin sie auch eine wunderbar zeigefingerfreie Benimm-Kolumne bestreitet. Auf Instagram postet sie niemals Selfies oder in japanischen Vasen arrangierte Ziergräser, sondern eine Serie alter Schwarz- Weiss-Fotos, in die die moderne Sehgewohnheit ein Handy oder Tablet hineindichtet. Adorján ist eben in beiden Welten zuhause, in der alten und in der neuen.

annabelle: Johanna Adorján, Sie sind 49 Jahre alt. Kennen Sie das Gefühl, bei gesellschaftlichen Debatten nicht mehr ganz mitzukommen?
Johanna Adorján: Klar. Aber das ist, glaube ich, altersunabhängig. Man verfolgt ja auch nicht jede Debatte mit derselben Konzentration. Und man wächst auch mit. Ans Gendern zum Beispiel bin ich inzwischen so gewöhnt, dass ich neulich in einer Autowerbung den Satz «Ein Elektroauto ist innen grösser, als du denkst» las und im ersten Augenblick annahm, das «innen» sei die gegenderte Form von Elektroautos. Gut, ich war etwas müde.

Worüber wundern Sie sich sonst noch?
Dass es neuerdings ständig heisst: Triggerwarnung. Weil man voraussorgend ausschliessen möchte, dass irgendjemand von dem, was im darauffolgenden Text vorkommt, getriggert wird, also dass dadurch ein Trauma reaktiviert wird. Allein schon das Wort Triggerwarnung müsste dann doch eigentlich schlimm triggern, oder? Das kann bei stark traumatisierten Menschen vielleicht hilfreich sein, aber angeblich wird an amerikanischen Universitäten schon «Der grosse Gatsby» mit Triggerwarnung versehen.

Warum denn das?
Soweit ich weiss, gelten in diesem Roman Selbstmord und die Darstellung von Gewalt als problematisch. Aber das Leben ist herausfordernd, und es geschehen grausame Dinge, so ist das nun mal. Man kann nicht ständig alles wegpacken und nur nette Sachen zugeflüstert bekommen wie Kleinkinder vor dem Einschlafen. Ich muss sagen, das Buch zu schreiben, half, um mit all diesen Dingen komödiantisch umzugehen. Es wird ja gerade alles wahnsinnig ernst genommen, mir fehlt da oft irgendeine Spur von Humor.

Für welche Ihrer beiden Hauptfiguren schlägt Ihr Herz denn heftiger: für die junge Feministin Xandi Lochner oder für den älteren Kulturredaktor Hans Benedek?
Xandi finde ich beindruckend, lustig und schlau. Von Hans bin ich eher gerührt. Weshalb? Bis vor wenigen Jahren war er sozusagen das Zentrum der Welt: ein männlicher, weisser, «wichtiger» Journalist, der – nicht zu Unrecht – glaubte, die Leute warteten nur darauf, was er über den neuen Museumsbau von Herrn Soundso oder das neue Buch von Herrn XY in seiner Zeitung schreibt. Nun hat sich die Welt aber weiterentwickelt, zum Beispiel liest heute kaum noch jemand Zeitung. Hans hat diesen Wandel aber noch gar nicht richtig mitbekommen. Er ist noch genau da, wo er vor drei, vor fünf Jahren war, aber die Welt ist weiter.

Tut er Ihnen auch ein bisschen leid?
Ich habe Mitgefühl. Und man kann ihn auch verstehen, denn mit seiner Selbstwahrnehmung hatte er ja bis vor Kurzem absolut recht. Die Welt drehte sich tatsächlich um Männer wie ihn.

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«Es wird nicht mehr unterschieden, ob etwas in herabsetzender Absicht geschieht oder nicht»

Johanna Adorján

Doch nun ist plötzlich alles anders.
Ja, das fängt schon damit an, dass Blogger:innen heute viel mehr Reichweite haben als Kulturredaktor:innen. Ins Bewusstsein von Männern wie Hans Benedek ist das noch gar nicht vorgedrungen.

Wie kommt es, dass der «alte weisse Mann» zum Feindbild des jungen Feminismus geworden ist?
Ich finde diesen Begriff schrecklich und würde ihn nie benutzen. Aber wenn man sich mal alte Talkshows anschaut, sagen wir aus den Neunzigern, und wie da mit weiblichen Gästen umgegangen wurde: David Letterman hat zum Beispiel mal die Haare von Jennifer Aniston in den Mund genommen. Er kam mit dem Gesicht immer näher an ihres heran, als wolle er sie küssen, und auf einmal zuzelte er dann an einer Haarsträhne von ihr. Man sah in ihrer Mimik ihr Entsetzen, aber sie lachte tapfer. Wäre heute undenkbar. Aber es gab ja nicht diesen einen Moment, in dem beschlossen wurde, ab Dienstag ist das verboten. Sondern die Zeiten haben sich nach und nach geändert, wir sind alle allmählich reingerutscht, und das haben eben manche noch nicht richtig mitbekommen.

Ich kenne sehr nette alte weisse Männer, die nun plötzlich unter Generalverdacht stehen.
Ja, die haben es tatsächlich gerade nicht leicht. Andererseits standen weisse, heterosexuelle Männer seit Jahrtausenden an der Spitze jeder Gesellschaft. Vielleicht ist es ausgleichende Gerechtigkeit, dass die nun auch mal ein Problem haben? Kennen Sie das Buch «The Apology» von Eve Ensler, der feministischen amerikanischen Autorin, die auch die «Vagina- Monologe» geschrieben hat?

Nein, erzählen Sie.
Ensler stellt darin die These auf, dass weisse, heterosexuelle Männer sich weniger in andere hineinversetzen können, weil sie immer überall die Chefs waren. Sie mussten sich nicht in andere hineinfühlen, da sie sowieso die Stärksten waren, das höchste Tier im System. Das fand ich einen interessanten Gedanken. Ich glaube, deshalb tun sich Männer mit den aktuellen Verände rungen schwerer als Frauen, die geübt darin sind, verschiedene Rollen einzunehmen.

In unserer Zeitschrift gibt es den Fragebogen «Meins», in dem bekannte Persönlichkeiten über ihre Vorlieben Auskunft geben. Da wird auch nach einem «spirit animal» gefragt. Kürzlich schrieb uns eine Leserin, dass diese Frage «kulturelle Aneignung» sei. Sie meinte es gut, sie wollte uns vor einem Shitstorm bewahren.
Und wer sollte da beleidigt sein? Tiere?

Die Indianer beziehungsweise die Native Americans, wie man heute zu sagen pflegt. Offenbar haben sie den Begriff erfunden.
Das Problem bei solchen Reaktionen ist, dass nicht mehr unterschieden wird, ob etwas in herabsetzender Absicht geschieht oder nicht. In diesem Fall ist es doch ganz bestimmt keine Beleidigung der Kultur der Native Americans. Einen ähnlichen Fall habe ich kürzlich auf Instagram mitbekommen: Eine Frau, die einen Stoffladen hat, wurde der kulturellen Aneignung bezichtigt, weil in ihrer neuen Stoffkollektion ein Muster von traditionellen japanischen Kimonos dabei war. Ein Sturm der Entrüstung brach über die arme Frau herein, die gar nicht wusste, wie ihr geschah. Ich finde, das ist nicht sauber zu Ende gedacht. Gott sei Dank gibt es kulturellen Austausch. Wenn wir uns die Errungenschaften fremder Kulturen nicht aneignen dürften, würden wir in unseren Breitengraden doch noch immer in Höhlen wohnen und Wurzeln essen.

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«Eigentlich sollte man für jeden negativen Kommentar, auf den man verzichtet, Geld bekommen»

Johanna Adorján

Mir kommt es manchmal vor, als erlebten wir ein Revival der 1950er-Jahre. Damals machte man sich andauernd Sorgen, was die Nachbarn wohl von einem denken.
Ja, es gibt so vieles, was man falsch machen kann, so viele Fettnäpfchen. Deshalb reden viele nur noch, als hätte ihnen jemand Watte in den Mund gestopft. Das hat etwas Lähmendes.

Waren Sie selbst schon einmal im Auge eines Shitstorms?
Bloss ein kleiner, auf Instagram. Weil ich das Buch «Generation beleidigt» der französischen Feministin Carolin Fourest besprochen habe, in dem es genau um dieses Thema geht. Also um Empörung als Pose. Das war sozusagen ein q.e.d-Shitstorm: quod erat demonstrandum.

Waren die Kommentare Vorbild für den Shitstorm, den in Ihrem Buch Hans Benedek durchleiden muss?
Nein, aber ich habe von anderen abgeschrieben. Ich konnte mir das nicht selbst ausdenken, ich finde die Sprache zu eklig. Also habe ich weite Teile des Buch-Shitstorms aus verschiedenen Versatzstücken aus dem Internet montiert. «Ich könnt im Strahl kotzen! » – «Abokündigung ist raus!» – «Ich werde nie mehr diese Schweinezeitung lesen, bin völlig angewidert!» Es sind ja sowieso immer dieselben Sätze.

Warum fallen bei Internet-Kommentaren so schnell alle Schranken?
Ich glaube, das hängt schon auch damit zusammen, dass man vor seinem Computer den Adressaten, den man da gerade beschimpft, nicht sieht. Es ist ja schnell getan, da «Unverschämtheit! » oder «Du Sau!» hinzuschreiben, dann fühlt man sich vielleicht für eine Sekunde, als hätte man es jemandem gegeben. Aber in echt sind wir doch eigentlich zivilisierter.

Vor ein paar Jahren läutete die deutsche Politikerin Renate Künast gemeinsam mit einer «Spiegel»-Journalistin bei Menschen, die sie auf Facebook besonders übel beleidigt hatten. Die meisten waren ganz normale, nette Leute.
Ich erinnere mich, das war eine tolle Geschichte. Die jüdisch-amerikanische Komikerin Sarah Silverman hat etwas Ähnliches erlebt: Sie besuchte amerikanische Ultrarechte und diskutierte mit ihnen über deren Weltsicht. Auch wenn sie sich mit ihnen am Ende weiterhin nicht einig war, waren das doch Gespräche, bei denen man sich auf Augenhöhe begegnete und Argumente austauschte, Silverman wurde sogar zum Essen eingeladen.

Wir sollten uns also lieber mehr im echten Leben treffen?
Ja, und am besten im Internet nie etwas negativ kommentieren. Die Welt wird kein bisschen besser, wenn man seine schlecht gelaunten Meinungen online kundtut. Eigentlich sollte man für jeden negativen Kommentar, auf den man verzichtet, Geld bekommen.

Johanna Adorján: Ciao. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 272 Seiten, ca. 32 Fr.

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Dorothea

Ich finds ja geradezu köstlich, dass die Annabelle, die die Empörungskultur ja quasi zur Spitze treibt, über dieses Buch schreibt.

Einige ihrer Schreiber:innen würden sich wohl arg wiedererkennen im Buch.

Kerstin Hasse

Wir wissen nicht genau von welcher Empörungskultur Sie sprechen. Schön aber, dass Ihnen das Interview gefallen hat.
liebe Grüsse Ihre annacrew

Dorothea

Ach, Frau Hasse, klar wissen Sie, welche Empörungskultur ich meine. Können Sie mir ganz ehrlich sagen, dass Sie die Annabelle im Interview respektive in Buch nicht wiedererkennen?

Kerstin Hasse

Liebe Frau Mosbacher, ich erkenne in dieser Mediensatire ganz verschiedene Titel und Autor:innen wieder, genau deshalb ist sie ja gelungen. Von Empörungskultur bei annabelle merke ich jedoch nichts. Eben genau, weil wir Themen so vielfältig beleuchten. Das macht – meiner Meinung nach – annabelle gerade aus.

liebe Grüsse!