Kultur
Interview mit Ang Lee: «Mein Lebensstil hat nichts mit Hollywood zu tun»
- Text: Olfa Tarmas; Bilder: © 2012 Fox
Schwule Cowboys, ein grünes Wutmonster – und jetzt ein seekranker 3D-Tiger: Der US-chinesische Starregisseur Ang Lee wagt sich mit jedem Film auf unbekanntes Terrain.
«I am a drifter», sagt Ang Lee mit leiser Stimme, als er an einem Interview-Vormittag in New York nach seiner Heimat gefragt wird. Ein Drifter, das heisst: jemand ohne festen Platz, zwischen verschiedenen Kulturen hin- und hergetrieben wie ein Schiffbrüchiger von Wind und Meeresströmungen. Ein bemerkenswerter Satz für den 58-jährigen Filmregisseur, dessen Filme regelmässig Oscars, Bären und Goldene Löwen einheimsen, zuletzt mit dem Schwule-Cowboys-Drama «Brokeback Mountain». So einer, sollte man meinen, ist fest verankert im Leben. Weiss, wo er hingehört.
Doch der unauffällige Mann in den hellblauen Jeans und dem grauen Oberhemd, der einem im feinen Hotel Ritz am Central Park gegenübersitzt, empfindet sich als Aussenseiter, immer schon und immer noch. Geboren und aufgewachsen ist er in Taiwan, als Kind einer Flüchtlingsfamilie aus der Volksrepublik China. In den USA, wo er zunächst Film studiert, fasst er nur mühsam Fuss. Zu fremd ist dem introvertierten, bescheidenen Lee die Mentalität seiner neuen Heimat. Jahrelang muss seine Frau, eine Mikrobiologin aus Taiwan, den noch erfolglosen Regisseur durchfüttern. Als er nach seinen ersten Filmen nach China geht, um dort den Martial-Arts-Film «Tiger & Dragon» zu drehen, wird er auch dort misstrauisch beäugt – als «Amerikaner». «Aussenseiter zu sein, hat allerdings auch seine Vorteile», sagt Lee im Gespräch.
Ang Lee: «Man hat einen schärferen Blick auf die Alltagswelt, weil man nichts für selbstverständlich nimmt»
Vielleicht liegt in dieser Erkenntnis das Geheimnis der enormen Vielfalt von Lees Filmen – und der tiefere Grund für das Fingerspitzengefühl, mit dem er sich immer wieder ganz unterschiedliche Milieus und Genres erschliesst. Vom Jane-Austen-Sittenbild «Sinn und Sinnlichkeit» über die psychoanalytisch grundierte Comicverfilmung «Hulk» bis zu «Brokeback Mountain» hat Ang Lee sich bisher noch mit jedem Film auf neues Terrain vorgewagt.
Auch die Verfilmung des Bestsellers «Schiffbruch mit Tiger» des Kanadiers Yann Martel führte ihn in unbekannte Gewässer. Die Geschichte des Jungen Pi Patel, der sich als Schiffbrüchiger auf hoher See in einem Rettungsboot mit einem bengalischen Tiger wiederfindet, galt lange als unverfilmbar. Lee entschloss sich, den Film in 3D und mit computeranimierten Tieren zu drehen – ein doppeltes Wagnis, denn 3D war bislang eher Actionfilmen vorbehalten, und computeranimierte Tiere wirkten auf der Leinwand oft staksig und unecht. «Es war wichtig, den Tiger so realitätsnah wie möglich abzubilden und klarzumachen, dass er keine disneyeske Trickfilmfigur ist, sondern eine Bestie, die sich niemals mit einem Menschen anfreunden wird», sagt Lee. In der Tat erreichen die 3D-Animationen im Film eine bislang ungekannte Qualität – kaum mehr zu unterscheiden von realen Tieraufnahmen. Vor allem ist es Lee gelungen, einen poetischen Film zu kreieren und Yann Martels spirituell angehauchte Parabel vom Überleben in betörend schöne Bilder zu übersetzen.
Schiffbrüchig mit Tiger an Bord – so muss man sich wohl auch das Lebensgefühl Ang Lees während der Arbeit an seinen Filmen vorstellen. Oft verausgabt er sich dabei derart, dass ihm am Ende der Dreharbeiten nach vorgezogenem Ruhestand zumute ist. Der Dreh von «Schiffbruch mit Tiger», der grösstenteils in einem riesigen Wassertank in einem umgebauten Flugzeughangar in Taiwan stattfand, war besonders strapaziös. «Ich fühlte mich wie Pi», sagt er, «jeden Tag gab es neue Überraschungen.» Bereits im Vorfeld hatte Lee sich mit Überlebenden von Schiffbrüchen unterhalten. «Ein bisschen ergeht es mir während eines solchen Drehs wie einigen von ihnen», sagt er. «Während man um sein Leben kämpft, ist man voller Angst und Zweifel und wünscht sich, diese Prüfung möge endlich ein Ende haben. Doch wenn alles gut geht und man gerettet wird, dann schlafft man nach der ersten Euphorie ziemlich ab. Und irgendwann beginnt man, sich nach dem Meer zurückzusehnen, nach der Reinheit und Stärke der Eindrücke und der Emotionen, der Klarheit, die das Leben währenddessen hatte.»
Körperliche Strapazen, künstlerische und technische Probleme, Druck von Produktionsfirmen – Lee begegnet den Herausforderungen seiner Arbeit mit jener Mischung aus konfuzianischer Gelassenheit, Pflichtgefühl und Bescheidenheit, die auch im Alltag sein Markenzeichen ist. «Mein Lebensstil hat nichts mit Hollywood zu tun», sagt er, und in der Tat kann man sich kaum ein normaleres Lebensmodell vorstellen als das von Ang Lee: Er bewohnt ein kleines Haus in einem Vorort von New York, ist seit 29 Jahren mit seiner Frau verheiratet und hat zwei Söhne, die er als selbst ernannter Durchschnittsdad noch bis vor kurzem mit seinem Auto zum Cello-Unterricht fuhr. Wenn er länger bei Dreharbeiten ist, kocht er chinesische Gerichte vor und friert sie ein, weil er im Hause Lee nun mal fürs Kulinarische zuständig ist. Normalität und Bodenständigkeit gehen Lee über alles – da ist er ganz wie die Helden seiner Filme. Auch sie sind keine Gefahrensucher, sondern werden zumeist durch die Umstände in existenzielle Bewährungsproben gedrängt.
Und dennoch – immer gibt es diesen einen Moment, in dem sie entdecken, dass gerade in diesen Herausforderungen die Essenz des Lebens liegt. Der Moment, in dem der junge Pi den Tiger, der schon über Bord gegangen war, zurück in sein winziges Boot holt, weil er weiss: Dieser Tiger ist wie das Leben – lebensgefährlich und wunderschön.
— Ab 26. 12. Life of Pi (deutsch: Schiffbruch mit Tiger) von Ang Lee, mit Irrfan Kahn, Gerard Dépardieu, Suraj Sharma u. a.
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Filmbild aus «Life of Pi»