Literatur & Musik
Idles-Sänger Joe Talbot über Mental Health: «Liebe zuzulassen, verlangt manchmal viel Übung»
- Text: Melanie Biedermann
- Bild: Tom Ham
Kaum eine Band engagiert sich für Mental-Health-Themen wie die Idles. Sänger und Songwriter Joe Talbot erklärt im Interview, wie er lernte, zu lieben, zu heilen und ein besserer Mensch, Künstler und Vater zu werden.
Auf den ersten Blick wirkt Joe Talbot wie ein Typ, um den man nachts auf der Strasse lieber einen grossen Bogen macht: muskulös, forsch, unberechenbar. Bei Auftritten mit seiner Band Idles verhärtet sich der Eindruck: Von dröhnenden Punkrock-Gitarren und propellerdnen Schlagzeughieben angetrieben, schleift Talbot seinen Körper ungestüm über die Bühne, wirft Zornesfalten, schreit sich inbrünstig die Seele aus dem Leib.
Das ist eine Seite der Medaille. Auf der anderen legt der 39-Jährige offen, was hinter der explosiven Wut steckt. Auf seinen Alben mit Idles seziert der Sänger und Songwriter persönliche und soziale Krisen. Im Debüt «Brutalism» thematisierte er 2017 etwa den Verlust seiner Mutter, die Alkoholikerin war und 2015, einige Jahre nach dem Tod von Talbots Stiefvater, ebenfalls starb.
Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Hoffnung
2017 kam seine Tochter Agatha tot zur Welt, ein Jahr später reflektierte er dieses Trauma auf dem Album «Joy as an Act of Resistance», spricht von Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Hoffnung. Seine Ambition blieb dabei immer dieselbe: nicht nur die eigenen Dämonen in den Griff kriegen, sondern der Welt zeigen, wie das gelingen kann.
Das neue Idles-Album «Tangk» spricht nun mehr denn je von Liebe und Dankbarkeit. Vor dem Release meldete sich Joe Talbot über Skype von seinem Zuhause in Bristol, um seinen Weg Richtung nachhaltig gesundes Leben sowie die Rolle von Elternschaft und Kunst zu sprechen.
annabelle: Joe Talbot, lassen Sie uns direkt eintauchen: Wie geht es Ihnen derzeit?
Joe Talbot: Sehr gut, danke. Ich bin gesund, körperlich wie geistig. Meine Tochter hat im September mit der Schule angefangen – sie ist magisch! Und ich liebe unser neues Album. Es ist unser bisher bestes. Was gibt es sonst noch zu berichten? (überlegt kurz) Ich habe seit sehr langer Zeit nichts und niemanden mehr geschlagen.
Das bleibt hoffentlich so.
Das war eine Lüge! (lacht) Ich trainiere zweimal die Woche im Boxclub. Abgesehen davon stimmt es. Was ich aber eigentlich meinte: Ich war seit sehr langer Zeit nicht mehr wütend.
Wut ist kein unwichtiges Gefühl, aber sie braucht ein gutes Ventil. Stimmen Sie zu?
Absolut! Wut lässt sich gut kanalisieren. Wenn du sie in eine gesunde Richtung lenken kannst, ist das grossartig. Aber unabhängig davon, ob dir das gelingt oder nicht: Wut ist in keinster Weise gesund.
Am anderen Ende des Spektrums steht Liebe. Sie sagten, dass Sie während der Arbeit an Ihrem neuen Album erkannten, dass Sie genau die brauchten. Was führte zu dieser Erkenntnis? Und wann?
Das war um 2020, zur Zeit, als «Crawler» entstand (Anm. d. Red: das Idles-Album von 2021). Ich habe damals verstanden, wer ich bin. Als Person und damit auch als Musiker. Die beiden lassen sich für mich nicht separieren. So viel weiss ich.
«Ich habe viele Jahre damit vergeudet, Nähe zu vermeiden. Dabei war alles, was ich wollte, geliebt zu werden»
Was haben Sie sonst noch über sich herausgefunden?
Dass ich jemand bin, der es mag, nüchtern zu sein. (kurze Pause) – Nein, es stimmt nicht, dass ich gerne nüchtern bin. Ich liebe Klarheit. Ich liebe Vision. Und ich liebe es, zu connecten. Mit Menschen, Männern, Frauen, Kindern. Aber auch mit Dingen, Objekten, Gemälden, Filmen oder Energien – Ich liebe all das. Und Alkohol und Drogen halten mich davon ab, emotionale Nähe zu empfinden. So viel weiss ich. Ich habe viele Jahre damit vergeudet, Nähe zu vermeiden. Dabei war alles, was ich wollte, geliebt zu werden.
Wissen Sie, warum Sie Nähe gemieden haben?
Wenn du so viele Menschen in deinem Leben verlierst, die dir so wichtig sind, macht dich dieses Trauma fragil. Es macht es schwierig, Optimismus zu empfinden. Ich hatte nicht besonders viel davon. Aber ein kleines bisschen hatte ich und daran hielt ich fest. Nun fühle ich mich gut. Ich fühle mich stark und ich fühle mich bereit für den Rest meines Lebens.
Stimmt das Klischee? Mussten Sie erst lernen, die Liebe, die Ihnen entgegengebracht wird, zu akzeptieren?
Ja, ich denke, das ist ein grosser Teil davon. Bell Hooks greift das Thema in «All About Love» auf. Darin spricht sie von Liebe als Verb. Es ist kein abstraktes Nomen, sondern ein Tun. Es geht aber auch darum, selbstbewusst und stark genug zu sein, Liebe anzunehmen. Ich kann den ganzen Tag Liebe geben, aber um sie wahrhaftig praktizieren zu können, braucht es zwei Seiten. Zu lieben, verlangt manchmal sehr viel Übung.
Was hat sich in den letzten Jahren verändert, dass das für Sie möglich wurde?
Ich glaube, es waren die Elternschaft und das Erwachsenwerden. Ich bin emotional zu einer Person gereift, die verstanden hat, dass sie Verantwortung übernehmen muss; für mich selbst und einen anderen Menschen. Das hat mich schlichtweg dazu gezwungen, schlauer zu werden und mein Ego loszulassen. Nicht mein gesamtes Ego, aber ein Stück davon.
Sie würden also sagen, dass sich Ihre Elternschaft direkt auf Ihre psychische Gesundheit auswirkt?
Oh ja!
Inwiefern?
Es gab mir Sinn und Zweck. Nicht nur in der Elternschaft, sondern in allem. Das ist eine Herausforderung. Es geht darum, deine Komfortzone zu verlassen. Und nicht einfach auf deine Stärken zu vertrauen, sondern einen Weg zu finden, über die Dinge in deinem Leben und Teile deiner Persönlichkeit zu sprechen, die du nicht unbedingt gerne akzeptierst. Oder Teile deiner Persönlichkeit, die du einfach noch nicht richtig verstehst. Darum geht es auch in der Kunst. Denn Kunst ist nicht Wissenschaft: Du musst nicht recht haben, du kannst die Dinge einfach erkunden.
Wie haben Sie sich zuletzt aus Ihrer Komfortzone gewagt?
Auf dem neuen Album wollte ich der Hörerschaft mit einem Gefühl von Anmut, Herzlichkeit und Offenheit begegnen. So sanft zu singen, war unangenehm für mich. Mein Schutzwall fiel weg.
Tatsächlich? Die Inhalte Ihrer Musik waren ja schon immer sehr offenherzig. Die Form war bisher eher harsch, aber dieser Kontrast schien irgendwie immer beabsichtigt. Ging es für Sie damals vielleicht gar nicht anders?
Ja, es war eine Notwendigkeit, so offen zu sein. Ich steckte in einer Abwärtsspirale von Abhängigkeit, Depression, Gewalt, Kriminalität; vielen Dingen, die für niemanden gut sind. Ich wusste, ich muss da raus und mein Leben retten, wortwörtlich. Der Tod meiner Mutter war das erste Kapitel, ein: Fuck, ich muss etwas mit meinem Leben anfangen.
Dieser Verlust öffnete Ihnen die Augen?
Ich verstand, dass ich den Schmerz lindern kann, indem ich eine bessere Person werde – damit meine ich: gesünder. Und meine Zeit mit besseren Dingen fülle. Für mich bedeutete das, eine Therapie zu machen und mich mit vielen Dingen auseinanderzusetzen, über die ich sehr, sehr, sehr, sehr wütend war. Und ich fühlte mich verloren, war also von einer frenetischen Energie umgeben, in der ich verzweifelt nach Liebe suchte. Und nach mir selbst.
«Ich glaube, ein Grund, warum ich noch hier bin, ist, dass ich die Fähigkeit hatte, mich vor vielen Leuten zu öffnen»
Sie klangen vorhin, als hätten Sie sich gefunden.
Ich habe definitiv meinen Platz in der Welt gefunden. Und zwar als fürsorglicher, ruhiger, friedlicher Vater und Musiker. Und als Liebhaber, der gerne liest, auf lange Spaziergänge geht, Velo fährt, boxt, im Meer schwimmt und von Weitem Leute anschreit.
Weil von Weitem Leute anschreien niemandem wehtut?
Solange wir gemeinsam schreien, ist es okay.
Mal abgesehen von der Therapie: Was half Ihnen durch die schweren Zeiten?
Ich glaube, ein Grund, warum ich noch hier bin, ist, dass ich die Fähigkeit hatte, mich vor vielen Leuten zu öffnen. Und meine Mutter lehrte mich den Wert von Liebe, Mitgefühl und Leidenschaft. Dass es wichtig ist, zu pulsieren und ein Cheerleader zu sein. Das fiel mir immer leicht. Es half auch, dass wir als Band so eine unterstützende Hörerschaft hatten, die verstand, dass ich niemandem etwas vorbete. Mir ging es vielmehr darum, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Haben Sie Ihre Therapie inzwischen abgeschlossen?
Nein, das läuft weiter. Sofern ich es mir leisten kann – und ich kann. Ich habe viel Geld, wenn ich mich mit meinen Freund:innen vergleiche, und ich will es weise ausgeben. Für mich bedeutet das: für die Gesundheit.
«Ich will klassische Männlichkeitsmerkmale – eine gewisse Körperlichkeit und einen gewissen Ton – als Projektionsfläche nutzen, um über Verletzlichkeit zu sprechen»
Inwiefern tangiert das heutige Männlichkeitsbild Ihre Gesundheit?
Ich will mich nicht davor scheuen, wer ich physisch bin; ziemlich muskulös und kräftig. Ich bin kein schmaler Mann. Dazu bin laut und sehr energisch. Aber manchmal bin ich auch fragil und klein und verängstigt. Traurig. Bedürftig. Und ich finde es wichtig, über diese Dinge zu sprechen, die nicht mit Männlichkeit assoziiert sind – und auch nicht mit Weiblichkeit. Aber es wird als männlich angesehen, all das zu verstecken, und das ist offensichtlich Bullshit. Also will ich klassische Männlichkeitsmerkmale – eine gewisse Körperlichkeit und einen gewissen Ton – als Projektionsfläche nutzen, um über Verletzlichkeit zu sprechen. Und darüber, wie man ein Gefühl von Integrität wahrt, während man auch verletzlich ist.
Sie wissen das natürlich: Nicht jeder Person gefällt, was Sie tun. Wie gehen Sie damit um, wenn Leute Sie persönlich angreifen?
Mein aktueller Standpunkt dazu: Ich werde damit aufhören, sie zu bekämpfen. Oder darüber nachzudenken, wie sie denken, fühlen oder handeln. Alles, was du kontrollieren kannst, sind dein eigenes Verhalten und deine eigenen Gefühle.
Die eingangs erwähnte Wut ist also tatsächlich verflogen?
Nun … Ich verachte meine Regierung (Anm. d. Red: die in Grossbritannien amtierende konservative Regierung unter Rishi Sunak). Ich hasse, was sie notdürftigen Menschen im Land antun. Ich hasse, was sie dem öffentlichen Sektor antun. Ich hasse, wie sie mit Handschlägen den Genozid an den Palästinenser:innen billigten. Aber diese Leute von der Ferne anzubrüllen, wird nicht helfen. Also habe ich entschieden, mich darauf zu konzentrieren, gute Songs zu schreiben und ein guter Vater zu sein. Das wird hoffentlich einen Unterschied machen.
Aktuelles Album: Idles, «Tangk» (Partisan Records, ab 16. Februar)
Pre-Listening-Event «Tangk»: 15. Februar, Heavy Weight Music, Zürich. Live: 14. März, Halle 622, Zürich.