Popkultur
Oscar-Preisträgerin Juliette Binoche: «Früher dachte ich, der Regisseur sei eine Art Gottvater»
- Text: Vanja Kadic
- Bild: Filmcoopi
Oscar-Preisträgerin Juliette Binoche spielt in ihrem neuen Film «La Bonne Épouse» die Leiterin einer Haushaltsschule im Jahr 1967. In der französischen Komödie lehrt sie junge Frauen, perfekte Haus- und Ehefrauen zu sein. Plötzlich muss sie sich, eigentlich reine Männersache, um die Finanzen kümmern – und das traditionelle Frauenbild fängt an zu bröckeln. Mit uns sprach Juliette Binoche über den Film, ihren Bezug zu Feminismus und eine Nahtoderfahrung, die sie unabhängig machte.
annabelle: Juliette Binoche, in «La Bonne Épouse» spielen Sie eine Frau, die ein feministisches Erwachen erlebt. Mit welchem Frauenbild sind Sie persönlich aufgewachsen?
Juliette Binoche: Meine Mutter war Feministin. Ich ging mit ihr als kleines Mädchen zu Demonstrationen für Frauenrechte, daran erinnere ich mich gut. Es ist also in mir, in meinem Blut.
Welchen Ratschlag gab Ihnen Ihre Mutter auf den Weg?
Keine konkreten, aber ich habe mir viel von ihr abgeschaut: ihre Begeisterung für Kunst, ihren Enthusiasmus, ihre Lust daran, spielerisch und lebendig zu sein. Meine Mutter liess mir viele Freiheiten und war gleichzeitig meine Französisch- und Schauspiellehrerin. Wir kreierten oft Stücke und Szenen zusammen.
Ihre Mutter entsprach also nicht dem traditionellen Frauenbild. Wie hat Sie das im Bezug auf Feminismus beeinflusst?
Es hat mich wohl von klein auf geformt. Ich sah meinen Vater nicht so oft, möglicherweise fehlte mir da ein Ausgleich. Ich fühlte mich sehr zu den Jungs in meiner Schule hingezogen und hatte das Gefühl, eher mit ihnen im Wettbewerb zu stehen als zu den anderen Mädchen. Meine Energie war jener der Jungs näher und ich wollte ihnen gefallen. Ich war nie kokett und versuchte nie, einem Bild zu entsprechen.
Einem Bild entsprechen, eine Rolle spielen – eines der grossen Themen in «La Bonne Épouse». Kennen Sie dieses Gefühl, sich zu verstellen, um einer Idealvorstellung zu entsprechen?
Ja, um in der Welt zu funktionieren, verstecken wir alle unsere Schwächen und Ängste hinter unserer öffentlichen Persönlichkeit. Das hilft uns, Teil in dieser sozialen Welt zu sein. Aber in uns sieht es oft anders aus. Das ist es, was beim Schauspiel Spass macht: Man lernt, welche Charakterzüge wie und wo verborgen bleiben. Vor allem in «La Bonne Épouse» war dies interessant: Diese Frau versteckt eine Menge Scheisse – eine verlorene Liebe, den Verlust ihrer Eltern, den Krieg.
In Zürich wurde Ihnen am Zurich Film Festival der Golden Icon Award verliehen. Wie haben Sie sich seit Beginn Ihrer Karriere als Schauspielerin verändert?
Die Leidenschaft und die Liebe zur Schauspielerei sind noch immer da, noch immer in mir. Als junge Schauspielerin habe ich vom Regisseur noch erwartet, dass er der Herrscher ist – eine Art Gottvater, eine Vaterfigur. Ich dachte, der Mann wird mich retten.
Im Ernst?
Ja. Ich hatte definitiv das Gefühl, ich brauche eine Vaterfigur. Bis ich beim Dreh von «Die Liebenden von Pont-Neuf» fast ertrunken wäre. Erst danach wurde ich immer unabhängiger.
Warum?
Weil ich spürte, dass das Leben wichtiger ist als alles andere. Sogar wichtiger als die Kunst. Der Vorfall hat mich verändert. Da war mir klar, dass ich für einen Film nicht sterben würde – vorher war das nicht so klar. Davor wollte ich alles geben, was ich konnte.
Das tönt, als wäre dieses Nahtoderlebnis wie ein Erwachen gewesen. Sie sehen im Regisseur seither keine Vaterfigur mehr?
Mmh. Ja, ich befinde mich in einer gleichwertigen Beziehung, ich spüre in einer kreativen Situation nie eine Hierarchie, mit niemandem. Es fühlt sich eher nach einem gegenseitigen Vertrauen an, wo es kein Richtig und kein Falsch gibt.
Liegt das nicht auch an Ihrem Status als etablierte Schauspielerin? Jüngere Kolleginnen erleben am Set wohl nicht immer eine gleichwertige Behandlung.
Schauen Sie, es ist wichtig, zu verstehen, dass man als junge Schauspielerin mit gemachten Hausaufgaben ans Set kommen muss. Du musst wissen, was du machst, warum du da bist, du musst den Bogen des Films kennen – und darfst vom Regisseur keine Hilfe erwarten. Mir selbst hat das nichts gebracht. Du musst dich selbst stärken. Mach dich selbst nicht kleiner, als du bist.
«La Bonne Épouse» ist Ihr erster Film im Kino nach dem Lockdown. Wie empfanden Sie die Zwangspause?
Es war wundervoll. Ich habe viel gelesen, habe mit meinen Kindern und meiner Mutter gekocht und in meinem Haus aussortiert. Es fühlte sich nach einer sehr reinigenden Zeit an.
Was haben Sie von der Pandemie gelernt?
Die Zeit, die sie mir gab, liess mich mein Leben reflektieren. Wie ich leben will, was ich loslassen will, wie ich mich auf andere Art um meine Mutter und meine Kinder kümmern will. Es brachte viele gute Dinge in mein Leben. Ich arbeitete ausserdem jeden Nachmittag mit Freunden über Zoom an einem Text. Ich glaube, ich hätte mir die Zeit dafür ohne Corona nie genommen.
«La Bonne Épouse» ist ab dem 29. Oktober im Kino zu sehen.