Literatur & Musik
Diese Bücher lesen wir im November
- Redaktion: Claudia Senn; Text: Verena Lugert, Dietrich Roeschmann, Sacha Verna; Foto: Alisa Anton / Unsplash
Bildband, Sachbuch oder Roman: Die Lieblingsbücher unserer Kulturredaktion im November versprechen literarischen Genuss – ganz besonders wenn es draussen ungemütlich wird.
1.
Grosser Vorteil dieses hübschen Bildbandes: Sie müssen nie mehr Vogelfutter kaufen, keinen Käfig putzen und meiden Ärger mit lärmempfindlichen Nachbarn. Ansonsten ist hier alles wie im wirklichen Leben. Der schwedische Fotograf Roine Magnusson hat sich auf die Lauer gelegt, um die Schönheit von knapp drei Dutzend Vogelarten Europas aus allernächster Nähe einzufangen. Seine hyperrealistischen HD-Porträts der gefiederten Beauties hat er zu einer hinreissend niedlichen, komischen, geheimnisvollen Typenkunde sortiert – inklusive jeder Menge ornithologischer und literarischer Fussnoten. Zum Gurren schön!
– Roine Magnusson: Vögel ganz nah. Sieveking-Verlag, München 2018, 272 S., ca. 48 Fr.
2.
Die Freundschaft von Julia und Cassie zerbricht nicht, sie kommt ihnen einfach abhanden. So wie einem die Kindheit abhanden kommt. Und wie dieser subtile Roman vermuten lässt, ist das eine die Folge des anderen. In ihrem letzten gemeinsamen Sommer sind die beiden Protagonis– tinnen zwölf und sich so nah, «als hätten wir einen einzigen Geist und könnten Geschichten erfinden und uns zu dem machen, was wir sein wollten». Sie vergnügen sich in einer verlassenen Irrenanstalt ausserhalb der Kleinstadt, in der sie wohnen, und nichts, so erinnert sich Julia später, deutet auf die bevorstehenden Veränderungen hin. Doch Cassie verschwindet nach und nach aus Julias Leben, indem sie sich in der Schule anderen anschliesst – bis sie schliesslich ganz weg ist. Wurde Cassie vom Liebhaber ihrer Mutter missbraucht oder gar umgebracht? Hätte es Julia verhindern können? Claire Messud ist eine zu gute Autorin, um das übliche Opfer- Täter-Dramolett zu liefern. Sie erzählt vielmehr, wie es sich anfühlt, vom Mädchen zur Frau zu werden und lernen zu müssen, Angst zu haben. #MeToo beginnt im Kopf.
– Claire Messud: Das brennende Mädchen. Hoffman und Campe Verlag, Hamburg 2018, 253 Seiten, ca. 30 Fr.
3.
Kate Mortons überbordender Pageturner beschwört das viktorianische England herauf, so stimmungsvoll, dass man meint, das Hufgetrappel der Kutschpferde auf Kopfstein zu hören und den Waldboden zu riechen. Die Bohème-Clique um Edward, den jungen, hochbegabten Künstler, und seine wunderschöne Birdie, die für ihn Modell sitzt, verbringt einen Künstlersommer in Edwards verwunschenem Haus auf dem Land. Bis dort in einer Sturmnacht ein Verbrechen geschieht, an dem alles zerbricht: die Freundschaften, Edwards Liebe, seine Kunst … Im Jahr 2017 findet die Archivarin Elodie eine Sepiafotografie einer überwältigend schönen Frau – und Zeichnungen von einem Haus, von dem ihr ihre Mutter als Kind erzählt hatte … Ein Buch zwischen Liebesgeschichte, Mystery und Historienroman, das so wunderbar zum Spätherbst passt wie eine Kanne Tee und eine Kaschmirdecke.
– Kate Morton: Die Tochter des Uhrmachers. Diana-Verlag, München 2018, 608 S., ca. 31 Fr.
4.
1969 in New Yorks Lower East Side: Eine rumänische Seherin prophezeit vier Geschwistern, wann sie sterben werden. Simon, der Jüngste, soll nur 20 Jahre alt werden, und auch Klara seien bloss 31 Lebensjahre vergönnt. Daniel wird immerhin 48. Nur Varya wird richtig alt, 88. Als Klara nach der Highschool nach San Francisco zieht, nimmt sie den 16-jährigen Simon mit, der dort in die Schwulenszene eintaucht, Ballett tanzt, sich verliebt, sein Leben auskostet – bis Aids, die neue Krankheit, am Horizont dräut … Alle vier Kinder gehen mit ihrer Prophezeiung unterschiedlich um, ohne ihr jedoch zu entkommen. Ein magisch-melancholischer Roman.
– Chloe Benjamin: Die Unsterblichen. btb-Verlag, München 2018, 480 Seiten, ca. 32 Franken
5.
Vor hundert Jahren wurde das Frauenwahlrecht gleich in mehreren Staaten eingeführt. Dieser prächtig bebilderte Geschichtsband ist eine Hommage an die, die es möglich machten: Porträts von Feministinnen jener Epoche, in denen es den Feminismus noch nicht gab – wie die Suffragetten, die für ihre Sache gar das Leben riskierten. So hisste Emily Wilding Davison 1913 am Derby im englischen Epsom die Fahne der Frauenrechtlerinnen und wurde von einem Pferd zu Tode getreten. König George V. erkundigte sich besorgt nach dem Befinden von Pferd und Jockey. Das Opfer erwähnte er nicht. «Taten statt Worte» steht auf Davisons Grabstein.
– Antonia Meiners: Die Suffragetten. Sie wollten wählen – und wurden ausgelacht. Elisabeth-Sandmann- Verlag, München 2018, 176 Seiten, ca. 32 Franken
6.
Die Deutschen und ihre Büropflanzen: Niemand kennt sich damit besser aus als Frederik Busch. Acht Jahre lang streunte der Fotograf durch gesichtslose Business-Parks, dokumentierte vertrocknete Hydrokulturen oder verzweifelt gegen die Schwerkraft ankämpfende Gummibäume. Um ihr trauriges Schicksal zu kaschieren, machte er sie zu Stars kleiner, komischer Bürodramen: «Ingrid gibt nicht auf» steht etwa neben einer welken Sansevieria, aus der ein junger Sposs wächst.
– Frederik Busch: German Business Plants. Kehrer-Verlag, Heidelberg 2018, 120 Seiten, ca. 39 Franken