Popkultur
Der Antistar: Girl in Red macht Pophits aus düsteren Gedanken
- Text: Daniel Gerhardt
- Bild: Jonathan Kise
Marie Ulven alias Girl in Red nimmt Kurs auf eine grosse Popkarriere – mit Hits über Depressionen und Suizidgedanken.
Niemand liebt Popmusik so sehr wie Teenager. Das ist allseits bekannt. Wahr ist aber auch: Niemand hasst Popmusik so sehr wie Teenager. Auf jedes Mädchen mit gebrochenem Herzen, das nur deshalb durch die Pubertät kommt, weil es Songs von Justin Bieber und Billie Eilish unter der Bettdecke mitsingen kann, kommt ein anderes Mädchen, das Bieber und Eilish unerträglich findet. Gelackte Idioten, die nichts produzieren ausser heisser Luft und Plastikabfall. Vielleicht hört so ein Mädchen dann lieber Rap. Vielleicht hat es auch übereifrige Eltern, die früh darauf gepocht haben, dass alles, was nach den Ärzten kam, nur noch Mist war.
Sobald es um Popmusik geht, gilt jedenfalls: Die Emotionen kochen hoch, und dann schlagen sie in alle denkbaren Richtungen aus. Marie Ulven versteht sofort, was damit gemeint ist. Die Songwriterin, Sängerin, Gitarristin und Pianistin hinter dem Projekt Girl in Red nimmt gerade Kurs auf eine grosse Popkarriere. Hunderte Millionen Streams hat die 22-Jährige mit Wohnsitz in Oslo seit 2016 bereits gesammelt. Vor allem unter queeren Teenagern gilt sie als Pop- und Stil-Ikone. Ihr unlängst erschienenes Debüt «If I Could Make It Go Quiet» gehörte zu den am sehnlichsten erwarteten Alben des Jahres.
«Für Popmusik braucht es viel Arbeit und Talent»
Wie also steht dieser kommende Popstar zur Popmusik? «Ich habe sie gehasst!», sagt Ulven und lacht. «Als Teenager dachte ich, Pop sei reine Computermusik. Irgendjemand drückt in einem Studio den Aufnahmeknopf und lehnt sich zurück, weil alles andere von allein passiert. Ariana Grande, Shawn Mendes, Justin Bieber – ich konnte wirklich nichts mit ihnen anfangen.» Ulven verstand sich stattdessen als Fan von schrammeliger Indierock-Musik und nahm ihre ersten eigenen Songs entsprechend auf: im Kinderzimmer, allein, mit echten Instrumenten und fragwürdiger Soundqualität. «Erst in den letzten drei Jahren ist mir klar geworden, wie schwer es ist, gute Popmusik zu machen, wie viel Arbeit und Talent dafür nötig sind.»
Die letzten drei Jahre – das ist nicht nur der Zeitraum, in dem Ulven zur Wertschätzung für die Popmusik der Charts gefunden hat. Auch ihre eigenen Songs haben sich dieser Musik schrittweise angenähert, sich geöffnet für Einflüsse aus Hip-Hop und elektronischer Tanztempelmusik. Im Jahr 2018 klang der erste grössere Internet-Hit von Girl in Red noch nach spontaner Heimarbeit: Zu ruckelnder Akustikgitarre und einem Schlagzeug, das sich anhörte, als sei es auf durchgeweichten Schuhkartons eingespielt worden, sang Ulven in «I Wanna Be Your Girlfriend» über ihre Liebe zu einem Mädchen, das unerreichbar blieb. Windschief und einsturzgefährdet klang das Stück, aber auch ungefiltert und unmittelbar. All das zusammen machte seinen Charme aus.
Finneas O’Connell als Co-Autor
Das Debütalbum von Girl in Red beginnt hingegen nicht mehr im Schlafzimmer, sondern im Fussballstadion. Gitarre und Klavier eröffnen «If I Could Make It Go Quiet» mit einem Elan, als würde gleich Bruce Springsteen oder wenigstens jemand von Coldplay auf die Bühne stürmen. Dank cleverer Laut-leise-laut-Dynamik baut sich das Stück namens «Serotonin» zur Hymne auf, Ulven verfällt in rapähnlichen Sprechgesang, ein Hip-Hop-Beat droht, den Song kurzzeitig auszubremsen. Mit dem Refrain aber fangen sich Ulven und «Serotonin» wieder. Nichts mehr klingt hier nach spontaner Heimarbeit. Wer solche Songs schreibt, will die Weltherrschaft.
«Im Herzen fühle ich mich immer noch wie eine Indie-Künstlerin», sagt Ulven im Interview. «Aber ich glaube auch, dass sich die Bedeutung des Indie-Begriffs gewandelt hat. Es geht nicht mehr darum, unabhängig von der grossen Musikindustrie zu sein, sondern um ein Gefühl, eine bestimmte Ästhetik. Diese Dinge hoffe ich mit meinem Album in die Popwelt tragen zu können.» «Serotonin» ist der wichtigste Song für diese Mission; auch deshalb dürfte Finneas O’Connell als Co-Autor des Stücks hinzugezogen worden sein. O’Connell ist der Ältere Bruder und wichtigste Kreativpartner von Billie Eilish. Seine Stärke liegt darin, scheinbar unumstössliche Mauern einzureissen: zwischen Indierock und Popmusik, aber auch zwischen Schlafzimmer und Stadion.
«Erst in den letzten Jahren ist mir klar geworden, wie schwer es ist, gute Popmusik zu machen»
Songs über Suizid und Selbstverstümmelung
Gemeinsam mit Ulven hat O’Connell den bisher grössten Song von Girl in Red geschrieben. Auch die zehn Stücke, die auf «If I Could Make It Go Quiet» folgen, entfernen sich von den ersten musikalischen Gehversuchen der Künstlerin. Mit schunkeligem Klavier, in die Breite strebenden Refrains und kleineren elektronischen Spielereien reichen sie weit über Ulvens älteste Kinderzimmerexperimente im ostnorwegischen Küstenstädtchen Horten hinaus. Für die Musikerin kommt das weder überraschend noch als kalkulierter Schritt. «Schon als ich noch bei meinen Eltern gelebt habe», sagt sie, «hat mir mein Geburtsort kulturell gar nichts gegeben. Ich musste mir meinen musikalischen Weg immer selbst zusammenstückeln.»
Vielleicht gelingt Ulven mit «If I Could Make It Go Quiet» auch deshalb ein erstaunlicher Spagat. Das Windschiefe und Einsturzgefährdete ist der Musik von Girl in Red zwar abhandengekommen, das Unmittelbare und Ungefilterte ist jedoch geblieben. Auch das zeigt bereits ihr «Serotonin»-Song: Obwohl sich das Stück von Euphorieschub zu Euphorieschub zu schwingen scheint, handelt es tatsächlich von den Problemen mit psychischer Gesundheit, die Ulven seit jeher begleiten. Die Künstlerin singt über Gedanken an Suizid und Selbstverstümmelung, ausgerechnet der überschwängliche Refrain des Songs berichtet von den Medikamenten, mit denen sie ihren Hormonhaushalt ausgleicht. Eigentlich kein Stoff für einen Welthit.
Geistige Gesundheit ist zu einem selbstverständlichen Thema geworden
Die überwiegend jungen Fans von Girl in Red feiern Ulven jedoch gerade dafür, wie offen sie mit ihren düsteren Gedanken und depressiven Phasen umgeht. Schon jetzt ist es auch ein Verdienst der Musikerin, dass geistige Gesundheit in der Popmusik zum vielschichtig und offenherzig behandelten Thema geworden ist. Oben erwähnte Stars wie Ariana Grande und Justin Bieber singen und sprechen heute selbstverständlich über psychische Erkrankungen. Kaum jemand erdreistet sich noch, Britney Spears als jenes übergeschnappte Partygirl zu beleidigen, das die Klatschpresse in den Nullerjahren aus ihr machen wollte. Stattdessen erfährt Spears breite öffentliche Unterstützung im Kampf gegen die Vormundschaft ihres Vaters, unter der die inzwischen Vierzigjährige seit dreizehn Jahren steht.
Ulven sagt, dass ihr geregelter und durch Corona kaum veränderter Alltag für ihre Musik ebenso wichtig sei wie für ihre Gesundheit. Nicht umsonst enthält «If I Could Make It Go Quiet» eine Liebeserklärung an jenes Apartment 402, das sie seit einiger Zeit in Oslo bewohnt. «Schon vor der Pandemie war das Dasein als Künstlerin für mich eine einsame Erfahrung», sagt sie. «Ich bin jedes Mal traurig, wenn ich die Wohnung verlassen muss.» Abermals erinnert Girl in Red damit an Billie Eilish, die schon ihr Debütalbum vor zwei Jahren als Hommage an das eigene Bett konzipiert hatte. Zuhause bleiben, Instagram checken, Songs schreiben: So präsentierte Eilish ihren Alltag zuletzt auch im Dokumentarfilm «The World’s a Little Blurry».
«Meine Lieder handeln von ganz normalen Dingen, die jungen Frauen im Jahr 2021 passieren»
Lieder über sexuelle Erfüllung und Sehnsucht nach anderen Frauen
Dass ihr Leben nicht immer so eingeigelt verlaufen sein kann, wie Ulven es im Gespräch darstellt, zeigt das zweite grosse Thema ihrer Musik. So offenherzig sie auf «If I Could Make It Go Quiet» über geistige Gesundheit singt, so unverblümt ist auch der Ton ihrer Liebeslieder. Ulvens Songs handeln von sexueller Erfüllung ohne lästige Bindungspflicht, von ihrer Sehnsucht nach anderen Frauen in einem Tourbus voller männlicher Mitmusiker, von verflossenen und vergeblich angebeteten Freundinnen, mit denen es doch so schön hätte sein können. Der Ton ist trotzig, manchmal auch patzig, Liebe und Hass erweisen sich immer wieder als unterschiedliche Seiten derselben Medaille.
Was es derweil nicht gibt bei Girl in Red: allzu traute Zweisamkeit, traditionelle Beziehungsvorstellungen oder selbstmitleidig besungenen Liebeskummer. Unterläuft Ulven damit die Konventionen des popmusikalischen Lovesongs? Erklärt sich daraus ihr Identifikationspotenzial, das vor allem unter queeren Fans besonders gross ist? Nicht, wenn man die Künstlerin selbst fragt. «Meine Lieder handeln von ganz normalen Dingen, die Teenagern und jungen Frauen im Jahr 2021 passieren», sagt sie. «Es wäre doch komisch, wenn ich als 22-Jährige darüber singen würde, eine Familie gründen zu wollen. Dafür ist später noch Zeit. Irgendwann möchte ich auf jeden Fall Kinder haben. Und dann werde ich darüber schreiben, wie ich ihnen meine eigenen Überzeugungen aufzwinge.»