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Deborah Levy über neues Theaterstück: «Die Psychoanalyse ist wichtig für die Welt»

Deborah Levy über neues Theaterstück: «Die Psychoanalyse ist wichtig für die Welt»

  • Text: Darja Keller
  • Bild: Keystone/Opale.Photo/Olivier Dion

In ihrem neuen Theaterstück «50 Minuten» am Zürcher Theater Neumarkt seziert die britische Autorin Deborah Levy unsere Ängste – und pocht auf die Kraft der Gemeinschaft.

Deborah Levy trägt ein weisses Jackett und roten Lippenstift. Ihr Haar ist hochgesteckt. An ihrem Hals eine goldene Kette mit Buchstabenanhängern, die das Wort «Magnificent» (deutsch: herrlich) bilden. Sie hat diese unvergessliche, raue, aufschürfende Stimme.

Über Deborah Levy wird gesagt, sie schaffe es, Leser:innen «an ihrem Tisch zu versammeln». Mit Humor und Feingefühl stellt die in Südafrika geborene britische Autorin eine Art warme Komplizenschaft zwischen Erzählerin und Leser:in her, die nie parolenhaft ausfällt. Die Nähe, die sie erzeugt, funktioniert über Geschichten.

Die 65-jährige Deborah Levy schrieb jahrzehntelang erfolgreich fürs Theater, veröffentlichte Lyrik und Romane – einem grösseren Publikum bekannt wurde sie aber erst 2011 durch den Roman «Heimschwimmen», der auf der Shortlist des Man Booker Prize stand.

In den Folgejahren veröffentlichte sie unter anderem den Roman «Heisse Milch», der auf derselben Shortlist landete, sowie drei Erzählungen mit dem Übertitel «Living Autobiography». In diesen setzt sie sich mit ihrer Lebenssituation zwischen vierzig und sechzig, als geschiedene Mutter zweier Töchter, mit dem Schreiben und der Suche nach Selbstbestimmung auseinander. Levy gilt als Meisterin des Erzählens ständiger Veränderung; des Unfertigen, des Aushaltens von Ambivalenz.

Diesen Januar kehrt sie zum Theater zurück: Ihr Stück «50 Minuten» wird am Theater Neumarkt uraufgeführt, Regie führte Co-Direktorin Tine Milz, mit der Levy seit einigen Jahren in engem Austausch steht und befreundet ist. Wir haben mit Deborah Levy über ihre Liebe zum Theater und die Angst vor Veränderung gesprochen.

annabelle: Deborah Levy, in der Beschreibung des Theaterstücks «50 Minuten» steht: «Es gibt so viele Ängste. Wo fangen wir an?» Der Satz fasst wohl ein Gefühl zusammen, das viele haben, wenn sie auf den Zustand der Welt blicken: Krieg, Klimakatastrophe – und Trump erneut als US-Präsident.
Deborah Levy: In «50 Minuten» geht es um die Ängste unserer Zeit. Als ich das Stück schrieb, versuchte ich herauszufinden: Welche dieser Ängste kommt zuerst an die Oberfläche? Ich werde nicht sagen, welche das ist, das Stück ist ja noch nicht auf der Bühne. Jedenfalls dachte ich, dass ich diese Ängste in der Form eines Gesprächs zwischen einem Professor und einem Kaninchen aufschreiben könnte.

Wie kamen Sie darauf?
Das Kaninchen erzeugt eine gewisse Distanz dazu, dass wir in einer Welt in Flammen leben. Das Kaninchen ist eine Kreatur des Waldes, der Natur, ein Wesen, das für jede:n von uns stehen kann. Und es unterhält sich mit diesem Professor, der Ähnlichkeiten mit Sigmund Freud hat. Sie reden nicht nur, sie tanzen auch miteinander.

Was hat es damit auf sich?
Wissen Sie, auf eine Art befassen sich ja auch all meine anderen Bücher mit den Ängsten unserer Zeit. Aber ich dachte mir: Das hier ist Theater. Theater gibt uns die Gelegenheit, eine Sprache zu entwickeln, die nicht nur aus Worten besteht. Und so haben meine grossartige Regisseurin, Tine Milz, und ich uns entschieden, dass es vier Tänze geben wird in diesem Stück, für die Situationen, in denen es einfach zu schwierig ist, mit Worten auszudrücken, wie man sich gerade fühlt. Einer der Tänze heisst «Feeling Sad for a Long Time». Denn ich denke, das ist, was die Leute gerade fühlen. Sie sind einfach traurig. Sie fragen sich: Was kann ich tun? Was ist mit der ganzen Angst? Was mache ich mit meiner Apathie, und was mache ich mit meiner Empathie?

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«Theater war meine erste Ausbildung, meine grosse Leidenschaft»

Dem Beschrieb von «50 Minuten» geht ein Zitat von Sigmund Freud voraus: «Nicht zum Ausdruck gebrachte Gefühle werden niemals sterben. Sie werden lebendig begraben und kommen später auf hässlichere Weise hervor.» Woher kommt Ihr Interesse an der Psychoanalyse?
Ich glaube, die Psychoanalyse ist sehr, sehr wichtig für die Welt. Sie ist eine gute Linse, um sie zu betrachten, und ein praktisches Werkzeug für Autor:innen. Lassen Sie mich klar sagen: Ich will nicht, dass psychoanalytische Theorie mit ihren grossen schweren Stiefeln durch mein Werk marschiert. Aber meine ganze Arbeit ist in gewisser Weise von ihr beeinflusst.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Im Freud-Museum in London läuft zurzeit eine Ausstellung, sie heisst «Women and Freud: Patients, Pioneers, Artists». Ich habe das Drehbuch für einen Kurzfilm von Jane Thorburn geschrieben, der dort zu sehen ist. Er heisst «Freuds verlorene Vorlesung» und ist eine Art Parodie. Ich stelle mir vor, wie Freud diesen Vortrag hält, in dem er sich bei all den so genannt hysterischen Frauen bedankt, die er über die Jahre behandelt hat. Ich finde es wichtig, festzuhalten: Freud hat Frauen nicht mit Medikamenten behandelt. Er hat ihnen zugehört, sie zum Reden ermutigt. Aus diesem Grund nannte man es ja «the talking cure», Gesprächstherapie. Darum heisst unser Stück «50 Minuten» – das ist die Dauer der klassischen psychoanalytischen Sitzung.

Den meisten Leuten sind Sie als Autorin von Romanen und autobiografischer Literatur bekannt. Dabei haben Sie ursprünglich für die Bühne geschrieben.
Theater war meine erste Ausbildung und meine grosse Leidenschaft. Ich habe vier Jahre am Dartington College of Arts studiert, ich wollte fürs Theater schreiben und Theater machen. In Grossbritannien kam damals gerade das Theater der europäischen Avantgarde in Mode, zum Beispiel der polnische Regisseur Tadeusz Kantor. Man kann sich vorstellen, wie mich das als 18-Jährige umgehauen hat. Diese neue, fast filmische Bildsprache, die Art, wie sich dieses Theater mit Geschichte auseinandersetzte. Dann kam das Tanztheater der deutschen Choreografin Pina Bausch auf, was mich ebenfalls sehr prägte. Es war nicht einfach, diese Art des Theaters im Grossbritannien der frühen Achtzigerjahre umzusetzen. Aber: Ich war eine der wenigen Frauen meiner Generation, die von der Royal Shakespeare Company beauftragt wurden, ein Stück zu schreiben.

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«Ich glaube, was ich in meinen Büchern kann, ist, eine bestimmte Art von Intimität zu stiften. Das Gefühl zu vermitteln, dass jemand dich nahe an sich heranzieht»

Wie kamen Sie dazu, trotzdem plötzlich Romane schreiben zu wollen?
Theater ist sehr kollaborativ. Alle erzeugen Bedeutungen: der Lichtgestalter, die Bühnenbildnerin, die Schauspieler:innen, der Komponist. Irgendwann spürte ich ein sehr grosses Verlangen danach, mich ganz allein hinzusetzen, die Ärmel hochzukrempeln und die Sprache in meine Hände zu nehmen. Ich habe schon immer viele, viele Bücher gelesen, ich war eine Streberin. Als ich am Dartington College zu studieren begann, hatte ich einen grossen Koffer dabei, bis an den Rand gefüllt mit Romanen. Dartington liegt im ländlichen Südwesten Englands. Dort regnet es die ganze Zeit. Gutes Lesewetter. Was ich sagen will: Ich hatte viel gelesen, aber ich hatte keine Ahnung, wie man einen Roman schreibt.

Inzwischen sind Sie eine der prägenden Autorinnen Ihrer Generation. Ihre Romane entstehen zwar allein, gelten jedoch als wahnsinnig gemeinschaftsstiftend. «The Guardian» schrieb einmal sinngemäss, beim Lesen Ihrer Texte fühle man sich, als würde man in einer grossen Runde mit Ihnen am Tisch sitzen.
Ich glaube, was ich in meinen Büchern kann, ist, eine bestimmte Art von Intimität zu stiften. Das Gefühl zu vermitteln, dass jemand dich nahe an sich heranzieht. Das kann durch eine grosse politische Frage geschehen. Aber auch durch etwas viel Kleineres, Häuslicheres: «Wie öffne ich dieses Fenster? Es klemmt. Ich krieg es nicht auf.» Ich mag dieses Gefühl von Nähe. Und ich mag Dialog, was wiederum mit meiner Herkunft aus dem Theater zu tun hat. In meinen ersten Büchern gab es noch viel mehr Dialog. Ich finde es wundervoll, Dialoge zu schreiben. Und die Stille zu schaffen, die dazwischenliegt.

Wie fühlt es sich an, wieder am Theater zu sein?
Ich dachte mir: Schauen wir mal, was passiert. Dann habe ich einmal tief durchgeatmet und ein neues Dokument geöffnet. Und, ach, es war wundervoll, zurückzukehren. Prosa schreibt man von links nach rechts, horizontal über die Seite, und Theater vertikal, von oben nach unten. Ich habe also einen Richtungswechsel vorgenommen. Es war schön, Schauspieler:innen wieder Worte in den Mund legen zu dürfen und dann zu schauen, ob es funktioniert oder ob der Satz noch im Mund der Schauspielerin stirbt. Ich habe jetzt so lange allein gearbeitet und freue mich, dass wieder etwas Gemeinsames entsteht.

«Wenn ich lese, möchte ich widersprüchliche Dinge: Ich will meine eigenen Sorgen in einem Buch wiedererkennen und ich will ihnen entfliehen »

In Ihren Büchern befassen Sie sich oft mit biografischen Brüchen. Sie wirken wie eine Expertin für Veränderung. Im Hinblick auf das neue Jahr scheinen wir mit vielen gravierenden Veränderungen zurechtkommen zu müssen. Haben Sie einen Tipp, wie wir damit umgehen können, ohne passiv und zynisch zu werden?
Ich denke, Menschen sind eigentlich ziemlich gut in Veränderung, sie sind anpassungsfähig. Wenn wir im Leben feststecken, haben wir manchmal gar keine andere Wahl. Ich gebe normalerweise keine grossen Statements zum Zustand der Welt ab und auch keine Ratschläge. Schliesslich schreibe ich keine Selbsthilfe-Bücher, sondern Literatur. Aber ich glaube: Das Allerwichtigste ist Gemeinschaft. Stelle sicher, dass deine menschlichen Beziehungen in guter Form sind, dass ihr miteinander reden und Gedanken miteinander teilen und einander helfen könnt. Wenn du in einer Situation bist, in der das nicht der Fall ist, dann ist es wahrscheinlich eine gute Idee, wenn du versuchst, das zu ändern. Wir haben nur einander.

Wonach suchen Sie selbst, wenn Sie ein Buch, sagen wir einen Roman, lesen? Suchen Sie nach Gemeinschaft und Trost – oder nach Antworten und Lösungen?
Ich will widersprüchliche Dinge: Ich will meine eigenen Sorgen in einem Buch wiedererkennen und ich will ihnen entfliehen. Ich möchte getröstet werden, ein gewisses Mass an Trost, aber ich will auch eine belebende Unterbrechung des immer gleichen Trotts. Ich lese also, weil ich in die Geschichte eintauchen will. Ich möchte intellektuell fasziniert und emotional erschüttert sein. Ich will also alles von einem Roman. Das Gleiche bei einem Theaterstück. Kurz gesagt: Ich möchte erstaunliche Momente erleben.

Deborah Levy und Tine Milz: «50 Minuten». Premiere: 24. 1. (ausverkauft), weitere Aufführungen 25.1. und 27.1., Theater Neumarkt, Zürich

Zuletzt von Deborah Levy in deutscher Übersetzung erschienen: Augustblau. Aki-Verlag/Kampa, Zürich 2023, 176 Seiten, ca. 40 Fr. Die Position der Löffel. Aki-Verlag/Kampa, Zürich 2024, 160 Seiten, ca. 35 Fr.

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