Gabourey Sidibe ist reif für den Oscar. Eine Unterhaltung in New York mit der wohl aussergewöhnlichsten Oscar-Nominierten aller Zeiten. Sehen Sie den Trailer von "Precious" und gewinnen Sie 5 x 2 Kinotickets.
Wäre Yoga ein Mensch, sagt sie, würde sie ihn erstechen. Denn Gabourey Sidibe denkt nicht daran, sich für ein Schönheitsideal abzurackern. Eine Unterhaltung mit der wohl aussergewöhnlichsten Oscar-Nominierten aller Zeiten.
Gabourey Sidibe sitzt im «Spotted Pig» im New Yorker West Village bei einem Bier. Gerade war sie eine kostbare halbe Stunde mit ihrem neuen Freund zusammen («normaler Typ mit einem normalen Job, traue mich überhaupt nicht, ihn irgendwohin mitzunehmen») und ist jetzt supergut drauf. Sie trägt eine Yankees-Mütze, dunkle Jeans und ein gestreiftes Top ihrer Lieblingsmarke Torrid. «Kennst du nicht?» Sie kichert, Lachfältchen um die Augen. «Umwerfend, sag ich dir.»
Gabourey Sidibes gutes Karma ist mit Händen zu greifen, ganz besonders seit der Oscar-Nominierung für die Titelrolle in Lee Daniels’ «Precious». Die Figur, Claireece Precious Jones, die von ihrem Vater missbraucht wird, taucht ab in eine Fantasiewelt, um sich, und sei es noch so kurz, aus dem Kreislauf elterlicher Übergriffe zu befreien. Doch der Film ist alles andere als ein Alptraum, er lebt von Sidibes Charisma und trockenem Humor. Er ist ein Porträt von Würde und Selbstbehauptung inmitten brutaler Gewalt.
Am Abend zuvor war Gabourey Sidibe, in einem roten Kleid von Tadashi Shoji, Ehrengast von «Harper’s Bazaar» bei der Eröffnung der Tim-Burton-Retrospektive im Museum of Modern Art in New York. Johnny Depp war erschienen (soeben von «People» zum Sexiest Man Alive gekürt), doch alles drängte sich um Sidibe, als wäre sie Teeniestar Robert Pattinson. «Jeder weiss doch, wie es ist, nicht wahrgenommen zu werden. Natürlich ist der Film sehr wichtig für mich», sagt sie über die Anerkennung, die ihr entgegenschlägt. «Ashley Olsen hat mich lange umarmt und gesagt, wie stolz sie auf mich ist. Ist das nicht Klasse?» Bei all dem Andrang kam sie kaum weiter. «Man wird ständig angesprochen, es ist nicht mehr so wie früher», sagt sie und denkt an die Zeit der Anonymität zurück. «Total anders.»
Dass sich die ganze Welt auf sie stürzt, liegt einfach daran, dass sie so anders ist als alle, die in Hollywood berühmt geworden sind. Sie ist dick, sie hat keine Schauspielausbildung, und sie hat sich für «Precious» nur deswegen beworben, weil ein Freund sie dazu drängte. Heute ist sie ein Star, aber nicht weil sie die richtigen Leute kannte oder die richtigen Sachen trug, sondern weil sie vor der Kamera so authentisch war.
«Roger Ebert!», ruft sie. «Seine Kritik war im Grunde eine Liebeserklärung. Wie oft habe ich ihn in meiner Jugend gesehen. Mein Lieblingsspruch war: ‹Roger Ebert hat gesagt, dass es gut ist.›» Frustrierend findet sie, wenn es in anderen Kritiken etwa heisst: «Gabby Sidibe spielt eine übergewichtige junge Schwarze, die nicht lesen und schreiben kann und von ihrem Vater geschwängert wurde.» Dem hält sie entgegen: «Klar bin ich eine Schwarze, und dick bin ich auch. Aber darum gehts nicht. Es geht um Missbrauch und dass sich das Mädchen nicht unterkriegen lässt. So was erleben auch Dünne, Weisse und alle anderen. Wenn jemand sagt, es geht um ein fettleibiges Mädchen, dann hat er nichts begriffen.»
Gabourey Sidibe, 26 Jahre alt, in Brooklyn geboren und in Harlem aufgewachsen, ist das jüngere von zwei Geschwistern, die von ihrer Mutter, Alice Tan Ridley, einer R&B-Sängerin,
aufgezogen wurden («Meine Eltern sind schon lange geschieden, aber mein Dad ist da»). Sie studierte Psychologie am New Yorker Mercy College («Ich wollte Entertainerin werden,
aber meine beste Zeit hatte ich mit neun»), und 2007 wurde sie von ihrem Freund Henry gedrängt, zum Casting für «Precious» zu gehen. «Lee Daniels sah sich mein Tape an und hat sich dann mit mir getroffen. Nach dem Gespräch musste ich nicht mehr vorspielen», erinnert sie sich. Dann: rauschender Beifall beim letztjährigen Sundance Festival, Oprah Winfrey und Tyler
Perry steigen als Produzenten ein, und im November kam der Film in die Kinos. «Sie kam buchstäblich von der Strasse weg zum Casting, der Rest ist Geschichte », sagt Winfrey. «Sie ist eine grossartige Schauspielerin, denn ‹Precious› ist ja überhaupt nicht ihre Story.»Oprah Winfrey weiter: «Man könnte meinen, sie ist von einem anderen Planeten, so selbstsicher, so selbstbewusst, so reif ist sie. Wenn wir bei einer Premiere sind, frage ich sie jedes Mal: ‹Ist das deine Fantasiewelt?› Wenn man sie als Precious sieht, ist man überzeugt, dass sie dieses Mädchen ist, aber tatsächlich träumt sie vom roten Teppich.»
Gabourey Sidibe geniesst die Aufmerksamkeit, und Freund X nimmt ihr alle Nervosität. «Kurz vor meinem Auftritt in Conan O’Briens ‹Tonight Show› habe ich ihm ein SMS geschrieben, und er antwortete: ‹Du packst das. Tritt nur nicht auf eine Bananenschale, dann ist alles okay.›» Sie ist sogar relativ gelassen, als britische Boulevardreporter ihrer Mutter die Tür einrennen. («Meine Mom ist ein freundlicher Mensch, aber sie ist selbst eine Entertainerin, die gern Interviews gibt. Tja, muss ich ihr irgendwie ausreden.») Und ihr Freund X schreibt manchmal: «Hier bei der Arbeit sprechen alle von dir.»
Sie geniesst es, sich in der Welt der grossen Stars zu bewegen, und gibt das auch offen zu. «Ich liebe Iman. Wir haben uns umarmt und einander gestanden, wie toll wir uns finden.» Sie schwärmt für Justin Timberlake. «Hey, Justin Timberlake ist echt super. Meine Güte, es gibt so viele tolle Typen in Hollywood. Na ja, ich träum halt gern. Und Bradley Cooper – ist der nicht cool?» Auf ihre Weise wird sie nun ebenfalls ein Star. Sie geniesst Fotosessions. «Ich fühle mich wie ein Model. Ich widerlege alle, die mir vorgehalten haben, ich soll erst mal abnehmen.
Ich widerlege das kleine heulende Mädchen, das ganz sicher war, dass es nie vor einer Kamera stehen wird. Und all die anderen Mädchen, die sich für hässlich halten und überzeugt
sind, dass sie es nicht wert sind, fotografiert zu werden.»
Aber so war es nicht von Anfang an. «Es hat gedauert», sagt sie. «So mit 21 fing es an. Ich hatte einfach keine Lust mehr, mich abzulehnen, bloss weil andere mich ablehnten.» Lee Daniels,
zu dem sie ein bemerkenswert offenes Verhältnis hat, sagte der «New York Times»: «Kann sein, dass Gabby die Realität nicht sehen will oder dass sie über den Dingen steht, aber als Schauspielerin ist sie wirklich fabelhaft.» Gabourey Sidibe dazu: «Ich dachte: Wie, die Realität nicht sehen? Nein, ich weiss sehr wohl, wie ich aussehe. Mir ist das sehr bewusst.»
Sie fügt hinzu: «Ich werde oft gefragt, woher ich mein Selbstbewusstsein habe. Es kommt aus mir. Eines Tages habe ich beschlossen, dass ich schön bin. Und habe dann so gelebt,
als wäre ich ein schönes Mädchen. Ich trage Farben, die mir gefallen. Ich trage Make-up, das mir ein gutes Gefühl gibt, und es hilft wirklich. Es kommt nicht darauf an, wie man von anderen gesehen wird. Entscheidend ist, wie man sich selbst fühlt. Man wohnt schliesslich in seinem Körper, man muss sich wohl darin fühlen … und» – sie kichert wieder – «ihn schmücken.»
Ihr liebster Schmuck bislang ist die rote Robe von David Meister, die sie zur Premiere von «Precious» in Los Angeles trug. «Es war Wahnsinn, mein Busen sah toll aus. Ich hab auch Diamanten getragen. Diamanten bringen es.» Dass sie keine Designermode tragen kann, stört sie nicht sonderlich. «Es macht mir nichts aus, weil ich grössere Freiheit habe. Ich schaue mir keine Modemagazine an, denn es wäre sinnlos zu sagen: Das will ich auch.»
Kate Moss’ jüngstes Diktum «Nichts schmeckt so gut wie das Gefühl, dünn zu sein» hat sie irritiert. «Ach, ich weiss nicht», sagt sie. «Ich war nie dünn. Ich höre das ja nicht zum ersten Mal. Für mich bedeutet das einfach nichts, wenn jemand so was sagt. Sie hat sich den Spruch ja nicht ausgedacht.»
Im Gegenteil, Gabourey Sidibe fühlt sich wohl in ihrem Körper. Und sie arbeitet weiter daran. Ab sofort geht sie in ein Sportstudio. Grinsend weist sie darauf hin, dass ihre Energiequelle
auf den Reisen in der letzten Zeit hauptsächlich Red Bull war – «sicher nicht das Allervernünftigste». Vor einem Jahr schwamm sie «täglich hundert Bahnen». Und wie hat sie da ausgesehen? Kräftigere Schultern, athletischer? «Ach was», lacht sie, «genau so wie heute.»
In einem Yoga-Studio werden wir Gabourey Sidibe aber nicht so schnell sehen. «Ich hasse Yoga. Wenn Yoga ein Mensch wäre, würde ich ihn erstechen.» Es erscheint ihr sinnlos, sich abzurackern, um für andere schön zu sein. «Das ist eine Frage der Einstellung, nicht des Körpers.» Wenn man reich und berühmt ist und viel fotografiert wird (nun ja, zwei der genannten
Eigenschaften), öffnen sich einem sofort Türen. Sidibe stellt sich vor, in Japan Werbekampagnen zu machen, wie George Clooney. «Ich habs mir überlegt», sagt sie mit einem Augenzwinkern.
«Wahrscheinlich würde ich Werbung für Cherry-Soda machen. Cherry-Soda … oder Muffins … irgendwas Besonderes … ich habs: Cherry-Muffin-Soda.»
Apropos weltweite Resonanz – sie hat gehört, dass «Precious» im Weissen Haus vorgeführt worden sei. «Angeblich wusste Präsident Obama, wer ich bin. Oprah hat ja viel mit ihm zu tun. Vielleicht deswegen.» Sie lacht. «Andererseits muss er ja über alles Bescheid wissen. Hat viel um die Ohren.» Das gilt auch für Gabourey Sidibe. Erst kürzlich wurde der Pilotfilm zur Serie «The Big C» abgedreht, in dem sie mitspielt, aber für etwas Esoterik hat sie immer Zeit. «Wenn ich mich auf einer Party kennen lernen würde, würde ich mich bestimmt hübsch finden. Ist das normal? Vielleicht würde ich mich total interessant finden. Ich würde mich wahrscheinlich den ganzen Abend beobachten und dann auf mich zukommen und sagen: Du kannst gut tanzen. Wir würden uns eine Weile unterhalten und dann …» – sie kichert wieder – «auf getrennten Wegen nach Hause gehen, wegen der Paparazzi.»
Als sie im Oktober in der Talkshow «Ellen» auftrat, mit einem Tanz, den sie wochenlang einstudiert hatte, bat Gastgeberin Ellen De Generes sie inständig, so zu bleiben, wie sie ist. Gabourey Sidibe strahlt bei der Erinnerung. «Solche Auftritte sind wunderbar. Ich habe nicht vor, mich zu ändern, ich finde mich nämlich gut. Ich habe hart gearbeitet, um dorthin zu kommen. Es bestärkt mich, wenn Leute sagen, ich soll bleiben, wie ich bin.» Sie lächelt und lässt klug die Luft aus ihrem Ich-zeigs-euch-Ballon. «Und jetzt heulen wir ein bisschen.»
Aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork
© «Harper’s Bazaar», Februar 2010
In aktuellen Heft sehen Sie Fotos von Gabourey Sidibe, fotografiert von Brigitte Lacombe. Mehr aktuelle Lacombe-Fotos von Hollywoodstars finden Sie hier.