Literatur & Musik
Autorin Yvonne Eisenring: «Es macht lethargisch, auf sein Glück zu warten»
- Text: Marah Rikli
- Bild: Mirjam Kluka
Die Journalistin und Moderatorin Yvonne Eisenring veröffentlicht mit «Nino – Und der Wunsch nach mehr» ihren ersten Roman. Wir sprachen mit der Zürcherin über moderne Spiritualität, Monogamie und die Angst, zu scheitern.
annabelle: Soeben ist Ihr neues Buch, Ihr erster Roman «Nino – Und der Wunsch nach mehr» erschienen. Der Roman spielt zu grossen Teilen in New York. Warum?
Yvonne Eisenring: Ich wollte das Thema der modernen Spiritualität aufgreifen, das hier Hochkonjunktur hat. In Zürich hätte der Protagonist das noch nicht so intensiv erleben können. New York ist der Schweiz in vielen Dingen etwa 15 Jahre voraus.
Was ist moderne Spiritualität?
Hoch im Kurs hier ist «The Law of Attraction», das Gesetz der Anziehung oder auch das sogenannte «Lucky Girl Syndrom». Der Gedanke hinter diesen Bewegungen ist, dass man mit der richtigen Intention und den damit verbundenen positiven Gedanken alles erreichen und bekommen kann. Das Universum regelt sozusagen alles für einen. Ich stehe dieser Idee etwas skeptisch gegenüber.
Ziele zu setzen und Wünsche zu formulieren, ist doch nichts Schlechtes?
Wenn man danach aktiv wird, nicht, nein. Aber wenn man nur darauf wartet, dass das Glück zu einem kommt, macht das passiv und lethargisch. Ich kenne zum Beispiel einige hier in New York, die sich den Traumpartner «manifestieren», aber gar nie rausgehen und Leute treffen. Sie sind im kapitalistischen Hamsterrad gefangen, sitzen den ganzen Tag in ihrem Appartement am Computer und am Abend bestellen sie Essen und schauen eine Serie. Wenn sie niemanden kennenlernen, was ich verständlich finde bei diesem Lebensstil, geben sie dem Universum Schuld.
Auch Nino, der Protagonist Ihres neuen Buches, wartet auf sein Glück. Er ist ein Millennial aus der Schweiz, hat viele flüchtige Affären und keinen Zugang zu seinen Gefühlen. Er ist gelangweilt und träge und sehnt sich nach Inhalten in seinem Leben. Als er nach New York kommt, lernt er Evi kennen, die spirituelle Coachings anbietet. Ist Nino ein typisches Opfer dieser modernen Spiritualität?
Ich würde ihn kein Opfer nennen, eher einen typischen Abnehmer. Er hat Angst, negativ aufzufallen und sich später für seine Taten zu schämen. Das hemmt ihn darin, etwas zu wagen. Nino wird selbst ja nie aktiv, er überlässt alles den Frauen und wartet, bis sie etwas tun.
Der Roman ist aus verschiedenen Perspektiven geschrieben. Wir lesen eine Sexszene erst aus Ninos Perspektive, dann kommt die Frau zu Wort und schildert ihre Wahrnehmung. Warum wählten Sie diese Form der Erzählung?
Das zentrale Thema des Romans ist die Wahrnehmung der Realität. Die Erzählperspektive verdeutlicht, dass alles subjektiv ist. Ninos Wahrnehmung und Schlussfolgerung bei allem, auch beim Sex, sind anders, als die der Frauen. Ich finde, für alle Bereiche im Leben ist es wichtig, zu akzeptieren und einzubeziehen, dass es unterschiedliche Perspektiven und Lebenswelten gibt.
Ist Nino ein typischer Millennial?
Einen Mann wie Nino gibt es in jeder Generation. Er steht für Menschen, die Antworten suchen und unsicher sind, was sie auf der Welt sollen und was von ihnen erwartet wird.
Ninos Leben dreht sich oft um unverbindliche Frauenbekanntschaften. Die Soziologin Eva Illouz verglich die heutige Partner:innensuche mit einem Supermarkt und sagt, wir hätten eine Konsumhaltung gegenüber Beziehungen entwickelt.
Die Partner:innensuche hat sich sicher stark verändert, mehrheitlich wegen Dating-Apps. Früher verbrachte man viel mehr Zeit mit einer Person, lernte weniger Menschen kennen. Heute ist die Auswahl riesig, man könnte jeden Abend jemand anderes treffen. Es war früher nicht besser oder heute einfacher, aber Dates sind heute sicherlich weniger verbindlich.
Und die Monogamie? Ist die noch zeitgemäss?
Die Auseinandersetzung mit Monogamie, offenen Beziehungen oder Polyamorie ist ja nichts Neues. Heute können wir einfach freier entscheiden und offener darüber diskutieren. Allein wegen Verhütungsmitteln kann mehr ausprobiert werden. Meine Grossmutter konnte das beispielsweise nicht, sie hätte schwanger werden können und wäre dann für immer an den Mann gebunden gewesen, von dem sie schwanger wurde.
Sie wuchsen sehr feministisch geprägt auf, weil Ihre Eltern ein 50-50-Modell lebten.
Ich habe grosses Glück gehabt, dass meine Eltern mir vorgelebt haben, was Selbstbestimmung und Gleichberechtigung heisst. Meine Eltern haben wegen des altmodischen, sexistischen Ehegesetzes, das bis 1988 in der Schweiz galt, nicht geheiratet und beide haben nur 50 Prozent gearbeitet. Das war so aussergewöhnlich, dass sie sogar in Talkshows eingeladen wurden. Sie haben aber nie zugesagt. Sie wollten ihr Lebensmodell nicht an die grosse Glocke hängen. Meine Mutter hat sich auch nie als Feministin bezeichnet. Aber für mich ist sie im Bereich Feminismus ein grosses Vorbild.
Wie feministisch ist Ihr Buch?
Es ist sicherlich ein feministisches Buch, denn die Handlung wird ausschliesslich von Frauen vorangetrieben. Dass ich mich entschied, aus der Sicht eines Cis-Mannes zu schreiben, war eine spannende Herausforderung. Ich zögerte zuerst, aber dann dachte ich, dass ja schon hunderte männliche Autoren Frauenfiguren in ihren Geschichten erschaffen haben und aus ihrer Perspektive sprachen. Niemand zweifelte an ihrer Glaubhaftigkeit. Völlig entspannt war ich aber erst, als ich erfuhr, warum ich von einer Kulturförderung keine Unterstützung bekam.
Wieso?
Ich traf Wochen nach dem Bescheid ein Kommissionsmitglied. Er sagte mir, dass die Mehrheit der Entscheidungsträger:innen fand, sie hätten oft genug von männlichen, heterosexuellen Autoren gelesen, die ihre Probleme schildern – sie würden das Buch deshalb nicht unterstützen wollen. Bis auf eine Person waren alle in der Kommission davon überzeugt, dass hinter dem Text ein Mann steckt. Mein Name wurde geschwärzt und daher wusste niemand, dass ich die Verfasserin war. Als ich das erfuhr, war ich total erleichtert. Sogar die grösste Literaturkommission der Schweiz hielt mich für einen Mann!
Ist ihr Buch eine Kritik an Männlichkeiten?
Überhaupt nicht. Ich mag Männer sehr gerne. Für mich war es nicht die Motivation, Männer zu kritisieren.
«Ich glaube, ich selbst habe eine relativ gesunde Einstellung zum Scheitern»
Ihre eigene Perspektive als vielreisende, weisse Schweizerin, aber auch die Lebenswelt von Nino als Sohn einer mittelständischen Familie ist sehr privilegiert. Ist das überhaupt aussagekräftig in Bezug auf die Generation Y?
Ich glaube, es ist wichtig zu betonen, dass Nino nicht für mich und meine Lebenswelt steht. Er ist nicht mein männliches Pendant. Es ist eine Figur, die ich erschaffen habe und die gleich alt ist wie ich. Wie repräsentativ unsere Lebenswelten für die Generation Y sind, kann ich nicht beantworten. Dafür weiss ich zu wenig über die sozioökonomische Verteilung der Generation Y in der Schweiz. Was mir jedoch sehr bewusst ist – gerade, weil ich so viel reise –, ist, wie privilegiert ich bin. Eines der Privilegien ist es, Risiken eingehen zu können. Dieses Privileg nutzen in der Schweiz aber bei weitem nicht alle, die es haben. Hierzulande hat man grosse Angst davor, zu scheitern, was viele hemmt, etwas auszuprobieren.
Was denken Sie, warum das so ist?
Das ist in unserer DNA, es ist unsere Kultur. Es ist ja auch unsere weltpolitische Haltung, nicht aufzufallen, nicht anzuecken, neutral zu sein und keine Risiken einzugehen. Ausserdem haben wir wenig Vorbilder im Bezug aufs Scheitern. Wenn niemand sonst scheitert, ist es schwieriger, ein Risiko einzugehen.
Und Sie selbst haben keine Angst, zu scheitern?
Ich glaube, ich selbst habe eine relativ gesunde Einstellung zum Scheitern. Ich frage mich immer: Was ist das Schlimmste, das passiert, wenn ich scheitere? Meistens ist das Schlimmste nicht so schlimm. Das gibt mir den Mut, Dinge anzugehen und umzusetzen, obwohl ich nicht weiss, ob sie funktionieren werden.
Warum können Sie das so nonchalant?
Ein Grund ist sicherlich, dass ich meinen Vater so früh verloren habe. Diese Erfahrung relativierte alles. Es lehrte mich: Ein solcher Verlust ist «wirklich schlimm», zu scheitern ist hingegen total aushaltbar. Der Tod meines Vaters machte mir auch deutlich, dass das Leben endlich ist. Ich möchte die Zeit nutzen, die ich habe. Was mir zudem Mut und Sicherheit gibt: Ich habe ein grosses Netzwerk an Menschen, die mir sehr nahe stehen. Wenn ich falle, lande ich weich.
Yvonne Eisenring ist eine Schweizer Bestsellerautorin. Sie schreibt Bücher, Drehbücher und Theaterstücke. Ihre Essays und Dokumentationen wurden mehrfach ausgezeichnet, ihre Theaterstücke werden international aufgeführt. Sie ist Host verschiedener Podcasts und TV-Sendungen wie «Zivadiliring» und «Unlocked» und lebt in Zürich und New York. «Nino – Und der Wunsch nach mehr» ist im Verlag sechsundzwanzig erschienen und kostet ca. 36 Franken.