Autorin Lidija Burčak: «Ich habe keine Lust mehr, konstant meine Selbstzweifel zu bekämpfen»
- Text: Melanie Biedermann
- Bild: Yves Bachmann
Lidija Burčak schreibt seit 1990 Tagebuch. In ihrem Buch «Nöd us Zucker» veröffentlichte sie nun unzensierte Auszüge daraus, gibt Einblick in ein ganz normales Leben als Seconda, als Frau und Kreative in der Schweiz, und zeigt, wie so ein Leben spielt: manchmal witzig, oft schmerzhaft.
Der Verlag fasst es so zusammen: Ein bisschen Jammern, ein bisschen Jugo und viel Ja zum Leben. Das trifft den Ton, aber noch nicht die besondere Qualität von Lidija Burčaks Buchdebüt. Vor einer guten Woche präsentierte die Autorin ihr erstes Buch am Mundartfestival in Arosa. «Die Reaktionen waren sehr positiv», erzählt sie via Zoom. Aber das Publikum sei oft überrascht: «Eine Tagebuch-Lesung klingt für viele oft erstmal nur nach peinlichen Momenten, aber ganz so ist es nicht.» Das stimmt. Denn «Nöd us Zucker» birgt zwar viele Lacher, aber mindestens so viel Substanz.
annabelle: Lidija Burčak, bevor das Buch in den ersten Eintrag einsteigt, steht ein Hinweis: «Die Texte stammen aus meinen Tagebüchern und wurden in einem Guss der Emotion geschrieben. Schreibfehler wurden korrigiert und Namen geändert.» Wie kamen Sie auf die Idee, fremden Menschen Ihr Tagebuch zu öffnen, dazu quasi unzensiert?
Lidija Burčak: Ich habe früher immer mal wieder meine Tagebücher gelesen. Oft vor meinem Geburtstag, um zu schauen, was so passiert ist und ob ich auf dem richtigen Weg bin. Ich habe mich dabei immer recht amüsiert und mich gefragt, ob es nur für mich witzig ist oder vielleicht auch für Leute, die mich nicht kennen. 2016 wollte ich einen Text schreiben, der von meinen Tagebüchern inspiriert ist. Damals hatte ich in Zürich einen Off Space mit einer Freundin, wir hatten für einen Abend schon Leute eingeladen, aber es klappte nicht mit dem Text und ich fällte spontan den Entscheid: Ach, scheiss drauf, ich lese einfach direkt aus dem Tagebuch vor.
Einfach so?
Einfach war das nicht und dass ich überhaupt in diese Stimmung gekommen bin, liegt wahrscheinlich daran, dass ich während dieser Zeit Improvisationstheater gemacht habe. Da lernt man gut, Fehler zu zelebrieren und merkt, dass alles kreatives Potenzial hat. Ich dachte auch: Was ist denn das Schlimmste, was passieren könnte? Vielleicht wenden sich ein paar Freund:innen von mir ab.
Das passierte hoffentlich nicht.
Nein, es war sehr therapeutisch. Schon auch ein bisschen witzig, aber eigentlich nicht lustig. Zumindest für mich nicht (lacht). Diese Dinge zum ersten Mal laut auszusprechen, war recht heftig und emotional, am Ende hab ich recht geheult. Es gab danach eine Person, die mich weiter vermittelte, und so nahm das seinen Lauf. Da hab ich gemerkt, dass ich die Leute unterhalte.
Heute kann theoretisch jede:r Ihr Tagebuch lesen. Was ist für Sie der grosse Unterschied zum Vorlesen?
Ich war nicht sicher, wie gut die Texte als Buch funktionieren werden. Ich bin ja auch nicht aus der Literaturszene. Ich kenne mich mit Filmen aus, kann Filmsprache einschätzen und was welche Wirkungen auf das Publikum haben kann. Aber was mir an Büchern im Vergleich zum Film gefällt, ist, dass man sich mit einem Buch hinsetzt und einfach liest. Das ist eine andere Aufmerksamkeit. Beim Film hofft man immer, dass er auf einem möglichst grossen Screen, also im Kino gezeigt wird, dass die Leute nicht abgelenkt sind. Meistens schaut man heute aber auf dem Laptop, dem Handy, beim Tramfahren, während man nebenher noch zehn Nachrichten beantwortet.
Haben Sie Bedenken, dass die Dinge fehlinterpretiert werden, wenn Sie sie nicht in Ihrem Ton vorlesen? Etwa bei Sätzen wie ganz am Anfang: «Mini Eltere sind Arschlöcher.»
Wenn man das einfach so als isolierten Satz hört, ist es natürlich brutal. Aber es ist Teil einer Geschichte und es ist auch die Stimmung eines Teenagers, der sich zu Hause gefangen fühlt. Es wäre ja langweilig, wenn ich von Anfang an alle Freiheiten gehabt hätte und keine Reibereien vorhanden gewesen wären. Dass du eigentlich selber für das Gefängnis verantwortlich bist, merkst du ja erst später. Wenn das Freisein nicht einsetzt, oder das Gefangenen-Gefühl sich nicht einfach auflöst, nur weil man nicht mehr bei den Eltern wohnt.
Es fällt auf, dass Sie schon früh sehr reflektiert waren. Selbst wenn Sie clashen, etwa wenn Sie als Frau für gewisse Leute zu laut sind.
Ah ja, mein Temperament. Ich habe übrigens Feedback erhalten, dass im Buch zu viel geflucht wird. Das kam von Leuten, die selber sehr viel fluchen, die aber Männer sind – meine Güte, es ist halt auch ein Tagebuch, so rede ich im Alltag ja nicht.
Sicher mit ein Grund, warum sich viele Leute ungefilterte Gedankenströme nicht gewohnt sind.
Das stimmt. Ich höre auch oft, dass das Buch wahnsinnig mutig sei, dass ich mich entblösse und einen Seelenstrip hinlege – das finde ich so nicht ganz korrekt. Ich habe ja nicht einfach alle meine Tagebücher abgedruckt. Ich habe insgesamt über 50 vollgeschrieben. Fürs Buch habe ich etwa die Hälfte davon, Bücher von 1999 bis 2016, nochmals durchgelesen. Daraus wiederum habe ich einen Bruchteil entnommen. Das gibt ein bisschen Perspektive. Es gibt natürlich Themen, die ich nicht angeschnitten habe.
Ist Ihnen wichtig, dass Sie Diskussionen anregen, etwa über das Frausein, über Sex, über das Secondaleben in der Schweiz?
Ja. Zum Beispiel, dass sich rassistische Ausdrücke einprägen, wenn man Zeugin davon wird. Auch das eigene Unterstützen von rassistischen Sprüchen, da muss ich mich auch selber in die Verantwortung nehmen. Beim Vorfall im Buch konnte ich nichts anderes tun, als aus der Situation herauszulaufen. Danach rege ich mich wahnsinnig auf; meine ganze Wut kommt ins Tagebuch, aber ich sag es den betreffenden Leuten nicht, weil ich finde: Es ist doch nicht meine Aufgabe, diesen Leuten Offenheit beizubringen. Mittlerweile finde ich: Doch, es ist eben auch meine Aufgabe. Manchmal wird man der Sache aber auch einfach müde.
«Ich hab mich oft gefragt, wie sehr ich meine eigenen schweren Themen noch mit Menschen teilen möchte»
Ihr Buch zeigt auch, wie viele Dinge letztlich ein einzelnes Leben prägen.
Ja, ich finde auch, dass das Rassismus-Thema eigentlich eher eine Klammerbemerkung ist. Manche Leute hatten erwartet, dass mein Seconda-Sein präsenter ist. Die Vorstellung, dass sich das ganze Leben um so ein Thema dreht, ist auch einfach sehr verbreitet.
Ein Thema, das besonders viel Raum einnimmt, sind Ihre Selbstzweifel. Sie kommen immer wieder und oft mit viel Selbstkritik. Wie gehen Sie heute damit um?
Selbstzweifel gehören zu mir. Ich habe aber keine Lust mehr, sie konstant zu bekämpfen. Wir leben in einer Zeit, in der man sich konstant verbessern soll. Man soll sich selber lieben. Zweifel werden mit Schwere gleichgesetzt. Aber wir Menschen sind komplex. Und man darf doch zweifeln?! Es gibt doch genug Gründe, warum man am Menschen und an dieser Welt zweifeln kann. Auch wenn ich an den kreativen Prozess denke, gehört das Hinterfragen einfach dazu. Wenn ich einfach nur finden würde: Ich bin die Beste, alle werden meine Texte lesen, dann würde es dieses Buch nicht geben. Aber ja, ich würde trotz allem gerne weniger zweifeln (lacht).
Glauben Sie, negative Gedanken werden in unserer Gesellschaft zu sehr unterdrückt? Im Buch liest man immer wieder von depressiven Momenten. Vereinzelt geht es auch um Selbstmordgedanken.
Ja, ich hatte solche Gedanken ja auch. Bei mir war es nie so, dass ich ernsthaft gefährdet gewesen wäre, aber wenn ich extrem down bin und dann Tagebuch schreibe und mich frage: Es bringt doch nichts, was ich hier mache? Das hat so viel mit unserer Gesellschaft zu tun: Du musst schon ein bisschen etwas bringen, was ist sonst deine Daseinsberechtigung? Wenn man von den hohen Suizidraten in der Schweiz liest, ist ja auch klar, dass sich Menschen einsam und isoliert fühlen. Dass manche dem Druck nicht standhalten können.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich hab mich in den letzten Jahren oft gefragt, wie sehr ich meine eigenen schweren Themen noch mit Menschen teilen möchte. Weil dabei fragst du dich immer: Zieh ich damit andere runter? Oder ist es nicht einfach meine eigene Verantwortung und darum bleib ich besser zu Hause und schau mir das Problem an? Aber dann hast du wieder das Problem der Isolation und Einsamkeit. Ich hab darauf noch keine Antwort gefunden, aber ich habe das Gefühl, so wie wir aktuell damit umgehen, ist nicht die beste Art. Etwas, das mir persönlich hilft, ist der Austausch mit älteren Leuten oder der Austausch mit Leuten in einer anderen Lebensphase.
Im Buch gibt es schöne Beispiele dafür.
Ja, und je öfter ich über das Thema rede, desto bewusster wird mir, wie wichtig mir dieser Aspekt ist. Als junge Person suchst du Orientierung. Und wenn du die nicht in deiner Ursprungsfamilie suchen willst, dann suchst du sie woanders. Bei mir sind es oft ältere Leute, weil sie Lebenserfahrung haben, weil sie oft auch eine gewisse Ruhe oder Bitterkeit haben. Ich finde das wahnsinnig bereichernd, weil man sich überlegen kann, wie man eher werden will.
Haben Ihre Eltern das Buch gelesen?
Noch nicht. Aber sie sind natürlich stolz auf mich und für die Kraftausdrücke habe ich mich längst entschuldigt (lacht) – denn sie waren an einer Lesung vor zwei Jahren.
Wie reagierten sie auf die Sexszenen?
Sie haben nichts dazu gesagt, ich müsste fragen, was ich aber echt nicht will (lacht). Bei der Beschreibung meines ersten Mals wird aber tendenziell schon gelacht. Auch wenn ich einen Zungenkuss beschreibe oder mich aufrege, weil ich keinen Orgasmus kriege – ich glaube, die Leute finden meine Gedanken während diesen Sex- und sinnlichen Szenen unterhaltsam.
Also bisher kein: «Oh Gott, was macht sie nur!»
Nicht von meinen Eltern. Andere Menschen haben mich genau das gefragt: Warum machst du das nur?
Gab es etwa doch böses Blut, wie Sie am Anfang befürchtet hatten?
Nein. Es kommt ja auch niemand schlecht weg. Ich bin generell kein Ellbögler. So funktioniere ich nicht, so will ich auch gar nicht funktionieren. Ich glaube wirklich daran, dass es dich an einen Ort verschlägt, wo es Platz für dich hat. Dass die Leute mit dieser Einstellung genau das machen werden, was sie am besten können. Wenn man schon so privilegiert ist, wie wir es hier in der Schweiz sind; wenn man sich aussuchen kann, was man machen will und davon leben kann.
Sind Sie in der Hinsicht immer so gelassen?
Nein, ich finde die Balance schwierig. Zu wissen, dass man Dinge nicht forcieren kann, dabei aber aktiv bleibt. Früher hab ich Ablehnung öfter persönlich genommen oder mich betüpft gefühlt. Heute denke ich eher: Wenn sich eine Türe schliesst, tut sich eine andere auf.
Schreiben Sie immer noch Tagebuch?
Ja, und ich hab mich schon sehr oft gefragt, was für ein Mensch ich wäre, wenn ich diese Routine nicht hätte, dieses Ritual, Dinge aufzuschreiben. Vielleicht wäre ich durchgedreht (lacht).
Lidija Burčak wurde 1983 in Winterthur als Tochter jugoslawischer Einwanderer geboren. Als junges Mädchen begann sie, Tagebuch zu schreiben. Heute arbeitet sie als freischaffende Filmemacherin, dreht eigene Dokumentationen und Porträts und ist Kolumnistin beim Luzerner Kulturmagazin 041. «Nöd us Zucker» ist ihr erstes Buch. Zur Buchpremiere am Sonntag, 16. Oktober, liest sie live im Kaufleuten Zürich.
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