Literatur & Musik
Autorin Julia Friese: «Schwangerschaft und Geburt gelten als banal»
- Text: Marah Rikli
- Bild: Nassim Rad
Die Journalistin Marah Rikli hat Autorin Julia Friese in Zürich getroffen. Ein Gespräch über deren Debütroman «MTTR», die Brutalität des Alltags und die patriarchale Literaturbranche.
Die deutsche Autorin und Kulturjournalistin Julia Friese nutzte den Corona-Lockdown, um so schreiben zu können, wie sie das immer wollte. Entstanden ist dabei ihr Debütroman «MTTR». Was sich erst wie Mutter liest, ist eine Abkürzung für «Mean Time To Recover» oder auch «Mean Time To Repair», womit die mittlere Reparaturzeit nach einem Ausfall eines Systems definiert wird. Der Titel weist darauf hin, um was es im Roman am Beispiel einer Schwangerschaft und Mutterschaft geht: Um eine mögliche Heilung – von brutaler Erziehung, der Prägung aus dem Nationalsozialismus, aber auch von der Gewalt, die Frauen im Gesundheitssystem erleben.
Marah Rikli, Journalistin und Buchhändlerin, hat Julia Friese in Zürich zum Gespräch getroffen. Die beiden duzen sich schon beim ersten Satz, zu umständlich erschien ihnen das Sie.
Marah Rikli: Julia Friese, du bist seit vielen Jahren Kulturjournalistin und hast viele Interviews mit Musiker:innen und Bands geführt. Jetzt hast du deinen ersten Roman geschrieben. Welche Musik hast du beim Schreiben gehört?
Julia Friese: Beim Schreiben selbst habe ich keine Musik gehört. Ich mag es aber, wenn Sprache eine gewisse Rhythmik hat.
Mit der Sprache, die du in «MTTR» verwendest, habe ich sofort aggressiven Hip-Hop oder Songs wie «Mutter» von Rammstein assoziiert. Völlig entgegengesetzt aller Musik, die man sonst mit einer Schwangerschaft verbindet. Warum diese kurzen Sätze? Diese harte und brutale Sprache?
Wir leben in einem Zeitenbruch, in dem Sprache hinterfragt wird und Veränderungen gefordert werden. Die Konservativen kritisieren das – mit Sätzen, mit denen sie selbst erzogen wurden: «Stellt euch nicht so an! Reisst euch zusammen!» Von diesen autoritären Befehlen ist die Sprache in «MTTR» inspiriert. Wenn Sätze derart kurz sind, liest man sie vielleicht genauer. Der Stil ist auch von der österreichischen Schriftstellerin Marlene Streeruwitz inspiriert. Sie ist die Meisterin der kurzen, abgewürgten Sätze. Sie verwendet den Punkt selbst in den Titeln ihrer Romane.
«Sich auf den Boden legen. Macht man nicht. Zunge ans Fenster. Macht. Man. Nicht. Schwanger werden. Asozial hatte sie gesagt. Meine Mutter. Damals, als Judith Kowalski schwanger war. In der zehnten Klasse. Asozial. Mit ihren Absätzen auf dem steinernen Küchenboden. Jeder ihrer Schritte hallte. In der Schulzeit schwanger werden ist das Letzte.»*
Was hat dich als Kulturjournalistin veranlasst, ein Buch über Schwangerschaft und Mutterschaft zu schreiben? Wenn es ein Thema gibt, was in der Literaturbranche kein Prestige erfährt, dann dieses.
Die Idee zum Roman kam durch einen Film, den ich gesehen hatte: «Lara». Darin geht es um familiäre Beziehungen, die sehr kühl, sehr bürokratisch sind. Das interessierte mich. Ich wollte wissen: Wieso sind gerade deutsche Familien oft Orte der Sprachlosigkeit, Unbeholfenheit und Grobheit? Warum herrscht in Familien überhaupt der Fleissgedanke? Mit der Schwangerschaft kommen zudem viele junge Menschen zum ersten Mal mit einem Krankenhaus in Kontakt, werden zu einer Akte in einem verschiebbaren Bett, in einer Firma mit Zeitmangel. «MTTR» ist eine Suche nach der Brutalität in unserem Alltag.
Viele Bücher über Schwangerschaft sind alles andere als brutal.
Ja, sie sind in weicher und sanfter Sprache verfasst und die Covers sind in Pastellfarben gehalten. Und die Geburt wird oft völlig ausgelassen. Es heisst in diesen Ratgebern dann: «Sie werden allen Schmerz schnell vergessen haben, denn Sie halten Ihr Wunder in den Händen». Auch in der Literatur werden Geburten eher selten ausführlich geschildert.
Schon grotesk, wenn man bedenkt, wie relevant das Thema ist: Jeder Mensch wurde mal geboren.
Es gibt etliche Romane, Filme und Songs über Sex oder die Pubertät. Nicht aber über Schwangerschaft und Geburt. Diese Lebensabschnitte scheinen nicht erzählenswert oder als Kulisse untauglich. Sie sind weiblich konnotiert – also banal und damit egal. Dabei gab es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder sehr gute Romane über Mutterschaft. Jedes Mal aber wird das Thema als neu und als Trend bezeichnet, statt Mutterschaft als andauerndes literarisches Sujet zu begreifen. Geschichten vom Töten wiederum sind männlich konnotiert, gelten also als heldenhaft, erzählenswert und literarisch.
«Damit du weißt, ob mit dem Kind alles in Ordnung ist. Du willst doch kein Kind mit Behinderung in diese Welt setzen.»
Schriftsteller:innen, die sich dem Thema Mutterschaft widmen, werden von Journalist:innen fast immer gefragt, ob der Roman autobiografisch sei. Männliche Autoren hingegen können über Sexpraktiken, Drogen, Missbrauch oder Familie schreiben – und es geht um die Literatur, ihre Kunst und um die Sprache. Warum?
Die Literaturbranche ist genauso Teil des patriarchalen Systems wie alles andere auch. Dazu kommt: Wer entscheidet, was besprochen wird? Die deutsche Studie #frauenzählen ergab, dass Bücher von männlichen Autoren doppelt so häufig besprochen werden.
Dabei sind die Leser:innen mehrheitlich Frauen. Über 70 Prozent der Käufer:innen in Buchhandlungen sind weiblich.
Und dennoch sind diejenigen, die Romane besprechen, zu grossen Teilen männliche Kritiker. Der Kanon ist überwiegend männlich. Und damit ist unser gelernter Blick auf Literatur männlich.
Wir Buchhändler:innen erhalten noch in der Ausbildung Schulungen durch Marketingprofis, die uns instruieren, wie wir Frauen zum Kauf animieren. Mit lila Büchertischen und trivialer Literatur mit rosa Covers, dazu Blümchen-Servietten und Kerzen.
Ja, auch Marketingprofis reproduzieren nur das, was schon vorherrscht: stereotype Rollen- und Frauenbilder.
Ich erzählte einem Freund, der sehr feministisch ist und viel liest, von unserem Treffen und empfahl ihm dein Buch. Sogar er meinte: «Das ist eher weniger meins. Da geht es um Mutterschaft, ein Frauenthema.» Überrascht dich das?
Nein. Aber es ist schon irre, oder? Dass man den Zugang zu einem Erfahrungsraum, der einem verwehrt ist, so bereitwillig ausschlägt. Schwangerschaft wird als Wissen geframt, dass unnötig ist – also eine Lücke, die man sich erlauben kann. Es gibt aber auch immer wieder Männer, die mir schreiben, sie hätten das Buch, so rosa, wie es aussieht, erst nicht kaufen wollen, und dann seien sie positiv überrascht gewesen. Ein Journalist sagte mir kürzlich, mein Buch sei ein trojanisches Pferd. Das gefiel mir.
«Oberschenkel. Im gleißenden Licht der Praxis sahen sie noch blasser aus. Weißer. Ein Gewitter vor den Augen der Ärztin, der ich meinen Intimbereich öffnete wie ein Bilderbuch. Fleischig. Nass.»
Die Kulisse in deinem Buch ist militärisch und kühl. Irgendwann stellte ich mir die Figuren alle in Uniform vor. Wie zum Beispiel die Pflegefachfrau, die zur schwangeren Teresa wie in der Armee sagt: «Mutterpass». Solche Szenen reihen sich oft ohne Pause aneinander. Hast du beim Schreiben nie gedacht, jetzt gibst du der Protagonistin mal ein paar positive Momente?
Teresa erfüllt im Roman eine Funktion. Ihre Perspektive ist die Brutalität im alltäglichen Umgang. Sie ist kein Mensch, also keine Freundin von mir, der ich mal etwas Gutes hätte tun müssen. Allerdings erlebt sie ja auch schöne Momente. Nach der Geburt zum Beispiel.
Nach der Geburt spricht sie zum Neugeborenen auf ihrer Brust und entschuldigt sich bei ihm, dass sie jetzt die Mutter sei. Ich muss dir gestehen, das hat mich richtig aufgewühlt. Bei mir kam vieles hoch, bei dem ich glaube, in den letzten 18 Jahren als Mutter versagt zu haben. Findest du es nicht krass, was für eine Verantwortung man als Mutter hat? Dass wir ein Kind gebären und nicht mal wissen, ob wir damit etwas Gutes oder etwas Schlechtes tun?
Das ist eine absolute Frage. Tut man etwas Gutes, wenn man ein Kind bekommt? Ja. Aber genauso tut man natürlich auch etwas Schlechtes. Denn man verursacht ein neues Leben – mit all den als gut und schlecht empfundenen Dingen, die dazugehören. Ob dieses von einem selbst in die Welt gesetzte Leben nun überwiegend «gut» oder «schlecht» verlaufen wird, hat auch mit vielen Faktoren zu tun, auf die man als Mutter oder Vater gar keinen Einfluss hat. Und ist menschliches Leben an sich überhaupt etwas Gutes? Für wen? Ich würde sagen: Diese Frage nach gut oder schlecht ist eine, mit der man sich wirklich nicht quälen muss.
Wir Mütter nehmen uns sehr wichtig. Wir denken, dass wir unsere Kinder so stark prägen, dass alles, was sie nachher tun, unser Verdienst oder unsere Schuld ist.
So wird es uns erzählt. Es gibt Ratgeber und Studien, die besagen, dass bereits die ersten 24 Stunden mit der Mutter sehr prägend sind. In den Therapien, den Psychoanalysen – überall geht es um die Mutter. Um den Vater auch, aber traditionell ist er eher Co-Pilot. Wie schade. Wie gestrig. Wie schön, wenn es uns gelänge, das zu ändern.
«Sterillium von dir fernhalten, weil ich dich liebe, eine tiefe Schuld empfinde, dass ich deine Mutter bin, dass du es nicht besser hast, mit mir auskommen musst.»
In deinem Buch sind auch Gross- und Schwiegermütter wichtig. Die Mutter von Teresa ist sehr offensichtlich brutal mit ihren Aussagen. Bei der Mutter von Teresas Partner Erk ist es subtiler. Sie bemuttert ihn, bevormundet ihn und spricht immer noch von der Zeit, als er ein Baby war. Diese peinlichen und übergriffigen Sätze so zu lesen, war für mich eine Spiegelung. Ich mache das mit meinem Sohn auch immer wieder, ihn so zu infantilisieren.
Mich fragen immer wieder Leser:innen: «Woher kennst du eigentlich meine Eltern oder Grosseltern?!» Unsere Eltern wollten es besser machen als ihre. Unsere Generation versucht, die Vererbungen und Prägungen nochmals weiter aufzubrechen. Aber natürlich ist es auch ein Privileg, sich überhaupt damit auseinanderzusetzen zu können. Die Zeit dazu zu haben, in Therapie gehen zu können.
Es ist aber auch mit Therapie schwierig, sich von alten Bildern und Sätzen zu lösen. Vor allem auch in Bezug auf das Elternsein.
Am wichtigsten ist es vielleicht, sich klarzumachen, dass man ein Kind bekommt, um von ihm möglichst gut verlassen werden zu können. Teresa spricht zu dem Baby im Bauch manchmal wie zu einem Freund. Endlich ist sie nicht mehr allein. Elternsein wird grundsätzlich als die Aufopferung gesehen, und am Ende bleibt die Schuld. Das Kind steht in der Schuld, nicht zu weit wegzuziehen, in der Schuld, die Eltern zu pflegen, es steht in der Schuld, dankbar zu sein für all die Opfer, die gebracht wurden. Wie erleichternd wäre es, wenn unsere Kinder ohne diese Schuld aufwachsen könnten? Wie schön, wenn wir vielleicht eine echte Beziehung zu diesen Menschen hätten?
«Du sollst Vater und Mutter ehren, heißt es. Und es ist der größte Fehler überhaupt. Du sollst Vater und Mutter verlassen. So ist es richtig. Die Beziehung zu einem Kind ist doch von Anfang an darauf ausgerichtet, beendet zu werden. Wenn man sagt, ich möchte ein Kind, dann meint man im besten Falle: Ich möchte von einem Kind verlassen werden.»
* Auszüge aus dem Roman von Julia Friese «MTTR», erschienen im August 2022, ca. 39 Fr.