Leben
Wunde fürs Leben – Mädchenbeschneidung in der Schweiz
- Text: Helene Aecherli Illustrationen: Daniel Hertzberg
In der Schweiz leben Tausende beschnittener Frauen, viele Mädchen sind bedroht. Eine Reportage über Tradition, Scham und neues Bewusstsein.
Mit ihrem Schicksalsbericht «Wüstenblume» hat Waris Dirie die Welt aufgerüttelt. Traurige Tatsache: Auch in der Schweiz leben tausende beschnittene Frauen, sind viele Mädchen von der Verstümmelung bedroht. annabelle recherchierte unter betroffenen Einwanderinnen und sprach mit Fachleuten.
Amal Bürgin gibt Milch und Koriander ins Teewasser, verteilt Reis und Pouletschenkel auf zwei Teller und scheucht ihre beiden kleinen Söhne ins Wohnzimmer, die ihr aufgeregt vom Schulausflug in den Basler Zoo erzählen wollen. Sie packt ihre quengelnde Tochter unter den Arm, stellt die Teller auf den Tisch und setzt sich auf einen Stuhl. Sie war sechs, als sie beschnitten wurde, beginnt sie fast beiläufig zu erzählen. Am Tag vor der Beschneidung sei sie festlich mit Henna bemalt worden, sie hätte sich gefreut und sei stolz gewesen. «Ich habe zwar nicht genau gewusst, was auf mich zukommen würde, im Sudan, meiner Heimat, hat niemand darüber gesprochen, was bei diesen geheimnisvollen Zeremonien geschieht.» Nur ihr Vater, das hätte sie irgendwie mitbekommen, war gegen diesen Akt. Aber er arbeitete damals weit weg in einer anderen Stadt.
Eine Hebamme kam nach Hause und gab ihr eine Spritze, so spürte Amal nicht, wie ihr die Frau nach der Art der Pharaonen die Klitoris und die kleinen und grossen Schamlippen wegschnitt und die Wunde bis auf eine kleine Öffnung zunähte, die so gross war wie eine Himbeere. Nach der Operation herrschte grosse Freude. Freunde und Nachbarn strömten zu Amal, um ihr zu gratulieren: Jetzt war sie eine von ihnen, eine Frau. Sie bekam goldene Ohrringe und Armbänder und zur Feier des Tages sogar Coca-Cola. Irgendwann wusch man ihre Wunde mit lauwarmem Schwarztee und brachte ihr den Topf, denn Amal konnte wegen der frischen Naht zwischen ihren Beinen nicht gehen. Der Urin brannte wie Feuer. Amal schrie. Drei Tage lang wagte sie kaum etwas zu trinken, hielt sie den Harndrang aus Angst vor dem Feuer zurück, bis ihr jemand einen zappelnden Käfer an die Öffnung hielt und sie vor Schreck den Urin endlich losliess. Ein paar Jahre später musste die Mutter die Hebamme erneut rufen, weil der Urin noch immer nicht richtig floss und der Blutstau dem Mädchen während der Periode unerträgliche Schmerzen bereitete. Ihre eigene Tochter, das hat sich Amal geschworen, wird intakt bleiben, koste es, was es wolle.
Weltweit sind 138 Millionen Frauen Opfer von Genitalverstümmelung, von Praktiken, die die äusseren Genitalien aus nicht therapeutischen Gründen verletzen oder zerstören. Die drastischste Form ist die Infibulation oder pharaonische Beschneidung. Dabei werden nicht nur die äusseren Genitalien entfernt, sondern auch die ganze Vulva bis auf eine minimale Öffnung zugenäht. Trotz Geschlechtsverkehr bleibt die Vagina bei infibulierten Frauen bis zur Geburt des ersten Kindes auf Himbeergrösse verschlossen, die meisten lassen sich nach jeder Geburt reinfibulieren, also wieder «zumachen» bis auf die ursprüngliche kleine Öffnung.
Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO werden jährlich zwei bis drei Millionen Mädchen beschnitten, meist ohne Narkose, mit Rasierklingen, Messern, Scherben, scharfen Steinen. Viele sind zur Zeit ihrer Beschneidung 8 bis 14 Jahre alt, zunehmend wird der Eingriff aber auch an Kleinkindern und sogar an Säuglingen vorgenommen. Die Folgen sind oft drastisch: Nebst Komplikationen beim Wasserlassen, bei der Menstruation, beim Geschlechtsverkehr und der Geburt leiden Frauen häufig unter Ängsten, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Obwohl die weibliche Genitalverstümmelung längst als Menschenrechtsverletzung geächtet und in den meisten Staaten, in denen sie praktiziert wird, als schwere Straftat gilt, ist sie in fast dreissig Ländern Afrikas und Asiens verbreitet, etwa in Ägypten, Mali, Kenia, Nigeria, Somalia und im Sudan, sowie in kleineren Gemeinschaften in Palästina, im Jemen, im Nordirak, in Indien, Sri Lanka, Indonesien und Malaysia. Berichten zufolge gibts sogar in Guatemala Fälle von Beschneidungen und wegen der Migration auch in Nordamerika, Australien und in Europa. In England sollen gegen 90 000 beschnittene Einwanderinnen leben, in Frankreich 60 000, in der Schweiz geschätzte 7000. Der Grossteil von ihnen stammt aus Ägypten, Somalia, Äthiopien und Eritrea.
Amal Bürgin ist eine von ihnen. Sie war auf Umwegen über London nach Basel gekommen, ist heute 43, Krankenpflegerin von Beruf. «Warum hast du mich so verstümmelt?», schrie sie ihrer Mutter einmal entgegen, als diese bei ihr in Basel in den Ferien weilte. Die Mutter aber hatte bloss ergeben den Kopf geschüttelt. «Du hast recht, du bist böse auf mich», sagte sie. «Aber auch ich habe das alles durchmachen müssen.»
Die Mädchenbeschneidung ist ein Ritual, das in der Akzeptanz von gesellschaftlich tief verwurzelten Traditionen, Normen und Mythen ruht und unter anderem von Muslimen, Katholiken und Kopten praktiziert wird. Manche afrikanische Muslime sehen die Beschneidung als religiöse Pflicht, obwohl die weibliche Genitalverstümmelung im Koran mit keinem einzigen Wort erwähnt wird. Im Gegenteil: Jede Handlung, die eine erfüllende sexuelle Beziehung (in der Ehe) verhindert, widerspricht gemäss der Scharia der Essenz des Islam. Die Ursprünge der Beschneidung gehen vielmehr bis auf 500 Jahre vor Christus zurück. Grabfunde belegen, dass weibliche Mumien in der Entourage eines Pharao Zeichen der Infibulation trugen, wohl als Beweis der sexuellen Treue gegenüber dem Herrscher. Und darin liegt letztlich das Hauptmotiv für die Genitalverstümmelung.
Jungfräulichkeit bis zur Heirat und sexuelle Treue sind noch heute in vielen Ländern Pfeiler der Familienehre, wer nicht beschnitten ist, wird stigmatisiert, ausgelacht, oft gar ausgestossen. Eine Frau mit einer offenen Vagina, sagen die Menschen in Somalia, hat sich mit Männern herumgetrieben, war «unterwegs», eine solche will niemand. Mädchen beschimpfen sich mit «Du Unbeschnittene!», wenn sie sich streiten. Eilt dann eine Tante herbei, um den Streit zu schlichten, bitten sie sie, ihnen zwischen die Beine zu schauen, um zu bestätigen, dass ihre Öffnung nicht grösser ist als eben eine Himbeere.
Als Deeqo Ahmed vor zwanzig Jahren aus Somalia nach Solothurn kam, wusste sie nicht, dass es Frauen gab, die unbeschnitten sind. Nach der Geburt des ersten Kindes wollte sie sich wieder zunähen lassen und war erstaunt, als sich der Arzt weigerte. Sie seien hier nicht in Afrika, hatte er ihr gesagt. Deeqo Ahmed war perplex. «Aber dann begann ich nachzuforschen, was die Beschneidung ist und woher sie kommt», sagt sie. In der Folge entschloss sie sich, ihr Geschlecht offen zu lassen, und begann, in ihrem somalischen Bekanntenkreis die Genitalverstümmelung zu kritisieren. «Wenn ich hörte, dass eine Familie ihre Tochter beschneiden wollte, suchte ich die Familie auf und sagte, dass es falsch ist. Das tue ich heute noch.» Ihr Mann lässt sie gewähren.
Untersuchungen zeigen, dass Eltern aus Ländern, die genitale Verstümmelungen praktizieren, nach ihrer Auswanderung in europäische Staaten die Notwendigkeit der Beschneidung eher infrage stellen. Trotzdem gibt es für viele Familien Gründe, ihre Töchter auch in der neuen Heimat beschneiden zu lassen. «An der Praxis wird entweder im Hinblick auf eine eventuelle Rückkehr ins Ursprungsland festgehalten», sagt Elsbeth Müller, Geschäftsführerin von Unicef Schweiz, «oder die Eltern fürchten aus der Gemeinschaft in der Diaspora ausgeschlossen zu werden, wenn sie sich der Beschneidung entziehen.» Manchmal geschieht es deswegen sogar, dass sich die Töchter beschneiden lassen wollen, selbst wenn die Mutter dagegen ist.
Wie viele in der Schweiz lebende Mädchen beschnitten werden, weiss niemand genau, oft nicht einmal Freunde oder Nachbarn der betroffenen Familie. Bis anhin ist nur je ein Fall aus Freiburg und Zürich bekannt geworden, und das auch nur, weil es dabei zu einem Strafverfahren gekommen ist. In Freiburg ging es um ein Mädchen, das zur Beschneidung ins Ausland geschickt worden war. In Zürich wurde 2008 ein somalisches Elternpaar zu einer bedingten zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, weil es vor elf Jahren seine Tochter im Zürcher Oberland hatte beschneiden lassen. Die Familie ist weggezogen. Sie will mit der Geschichte nichts mehr zu tun haben, heisst es beim Versuch, mit ihr in Kontakt zu treten.
Diese Fälle sind wohl mehr als krasse Einzelfälle. Dafür spricht eine Umfrage von Unicef und dem Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Bern aus dem Jahr 2004 unter Gynäkologen, Kinderärzten und Sozialfacharbeitern: So haben 208 Fachpersonen von Fällen gehört, bei denen eine Genitalverstümmelung in der Schweiz durchgeführt worden sei, 42 wurden gefragt, wo eine Beschneidung möglich ist, sechs Ärzte gebeten, ein Mädchen zu beschneiden.
Dass die Dunkelziffer der Beschneidungen hoch ist, vermutet auch die somalische Lehrerin Aicha Ali. Sie kam vor 13 Jahren in die Schweiz, lebt in Bern, hat vier Töchter und zwei Söhne, auch sie wurde beschnitten, damals, als Sechsjährige zuhause in ihrem Dorf. Heute leitet sie Workshops für Somalierinnen und ihre Männer in der ganzen Schweiz, um sie über die unheilvollen Praktiken der weiblichen Genitalverstümmelung aufzuklären; aber auch um sich abzulenken von ihren immer wiederkehrenden Infektionen im Unterleib.
«Es ist paradox», sagt sie, «obwohl sich Mütter heute der Risiken der Beschneidung bewusst sind, haben sie vor allem eine Sorge: Was passiert mit ihren unbeschnittenen Töchtern, wenn sie einmal nach Somalia zurückkehren? Werden sie dann jemals einen Mann finden?» Und diese Sorge wiegt oft schwerer als gesundheitliche Konsequenzen. Nicht wenige Frauen liessen ihre Töchter deshalb heimlich beschneiden, sozusagen als Vorsorge. Dazu werden professionelle Beschneiderinnen als Verwandte oder Touristinnen eingeflogen, eine Reise ins Heimatland oder auch in ein Nachbarland, vorab Italien, organisiert. Dort führen arbeitslose Somalierinnen die Eingriffe aus, um einen finanziellen Zustupf zu bekommen. Rund 30 Frauen reisen pro Jahr mit ihren Töchtern über die Grenze. Der Vorteil dieser Trips liege darin, fügt Aicha Ali lakonisch hinzu, dass die Mädchen in Italien weniger schwer beschnitten würden als in den Heimatländern. Sie hätten geringere Komplikationen, und die Wunde sei für einen Arzt dadurch schwieriger zu erkennen.
Anders als in Frankreich und Schweden existierte in der Schweiz bis vor kurzem kein explizites Gesetz gegen die Genitalverstümmelung, die Beschneidung wurde als Körperverletzung geahndet. Diesen August hat sich der Bundesrat aber für eine verschärfte Gesetzgebung und die Einführung einer eigenständigen Strafnorm gegen alle Verstümmelungen weiblicher Genitalien ausgesprochen, wodurch auch eine im Ausland begangene Beschneidung in der Schweiz mit bis zu zehn Jahren Gefängnis geahndet würde. Die im Parlament hängige Vorlage allein reiche jedoch nicht, erklärt Monika Hürlimann von Caritas Schweiz: «Um zu verhindern, dass Mädchen beschnitten werden, braucht es Richtlinien und Präventionsprogramme, an denen sich Gesundheitspersonal, Krippenleiterinnen, Kindergärtnerinnen, Lehrer und Vormundschaftsbehörden orientieren können, wenn der Verdacht einer Beschneidung besteht.» Etwa dann, wenn ein Mädchen der Schule unentschuldigt fernbleibt. Oft liessen sich die Verdachtsmomente aber nicht erhärten, oder das Verhalten des Mädchens werde überinterpretiert. «Viele Eltern sind sehr betroffen, wenn man ihnen unterstellt, ihr Mädchen beschneiden lassen zu wollen, und sind meistens schnell bereit, zur Klärung beizutragen», sagt sie. Lässt sich jedoch eine echte Gefährdung ausmachen oder erhielten die Beratungsstellen Anfragen von Mädchen, die Angst haben, zur Beschneidung gedrängt zu werden, greift die Vormundschaftsbehörde auch zu unkonventionellen Mitteln: Es ist schon vorgekommen, dass vor einer Auslandreise eine Art Nicht-Beschneidungs-Vertrag mit den Eltern abgeschlossen wurde, mit der Auflage, die Reise später mit den Behörden zu besprechen.
Der Ansatz ist deshalb erfolgversprechend, weil er die Mädchenbeschneidung nicht als kulturelles Gebot betrachtet, sondern als soziale Norm. Damit wird sie verhandelbar und überwindbar. Diese Erkenntnis liegt auch den Uno-Programmen zur Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung zugrunde. Ziel ist, dass sie aus freien Stücken aufgegeben wird. Dazu muss sie von einem wesentlichen Teil der Gemeinschaft als alter Zopf betrachtet werden. Je grösser diese Gruppe, desto leichter fällt es dem Einzelnen, die alte Norm fallen zu lassen – ganz nach dem Motto: Wenn die ihre Töchter nicht mehr beschneiden, mache ich es auch nicht mehr.
Eine Schlüsselrolle in dieser Neuausrichtung spielen – wie so oft – die Männer. Auch wenn Mütter und Grossmütter die Beschneidung aufrechterhalten und sie oft hinter dem Rücken ihrer Männer durchsetzen, tun sie es immer im Bestreben, ihre Töchter in einer patriarchalischen Struktur überlebensfähig zu machen. «Unsere Männer», sagt eine in der Schweiz lebende Somalierin, «wollen Frauen mit einem intakten Jungfernhäutchen und dazu noch einer Naht. Sie wollen eine doppelte Jungfrau. Erst wenn die Männer das nicht mehr erstrebenswert finden, ist das Problem gelöst.»
Einer der wenigen Männer, die sich offen gegen die Mädchenbeschneidung einsetzen, ist Mokhtar Alio (40), Agronom aus der somalischen Hauptstadt Mogadiscio, verheiratet, ein Sohn und eine Tochter. Er lebt seit drei Jahren im Kanton Aargau, seine Familie ist in den USA, der Bürgerkrieg hat sie auseinandergerissen. Als er sich in Mogadiscio in das Mädchen verliebte, das seine Frau werden sollte, erzählt er, war er stolz und glücklich darüber, dass sie eine doppelte Jungfrau war. Nie hätte er ein Mädchen geheiratet, das schon mit anderen Männern Sex gehabt hatte. «Doch vor der Hochzeitsnacht gestand mir meine Frau, dass sie schreckliche Angst davor habe, mit mir zu schlafen. Sie sagte, es würde für sie sehr schmerzhaft sein.» Er aber hatte nach der Hochzeit nur drei Tage Zeit, um sie zu entjungfern, sonst würde es heissen, er sei kein Mann. Als seine Frau dann weinte und schrie, sah er zum ersten Mal die Wunde. «In diesem Moment beschlossen wir, uns Zeit zu lassen.» Mokhtar Alio verkündete seiner Mutter und seiner Schwiegermutter, dass sie sich nicht durch eine Frist unter Druck setzen lassen würden, und kaufte ein Gleitmittel. Danach versuchten sie es jeden Tag. «Aber meine Frau weinte die ganze Zeit, und wenn die Frau, die du liebst, weint, ist es schwierig, eine Erektion zu bekommen. Zudem war ihre Scheide so eng, dass es mir beim Versuch, mit ihr zu schlafen, die Penishaut verletzte. Es dauerte einen Monat, bis wir es geschafft hatten.» Als seine Frau später darauf bestand, die Tochter beschneiden zu lassen, weil sie glaubte, das Mädchen müsse dieselben Schmerzen erdulden lernen wie sie, drohte er ihr mit der Scheidung. Niemals wollte er zulassen, dass seine Tochter so leidet, wie er seine Frau hatte leiden sehen.
Doch Mokhtar Alios Unverblümtheit ist manchen Männern ein Dorn im Auge, selbst wenn er Vizepräsident seiner Gemeinschaft ist. Ähnliche Erfahrungen macht auch Deeqo Ahmed mit ihrem Engagement gegen die Beschneidung. Sie wird als Verräterin betrachtet, als jemand, der die kulturelle Identität kaputt machen will. «Meine Leute glauben, dass ich unsere Kultur gegen Geld verkaufe», sagt sie. Sieht sie aber ihre neunjährige Tochter an, die während des Gesprächs keck neben ihr auf dem Sofa sitzt und beim Wort «Beschneidung» Grimassen zieht, leuchtet ihr Gesicht: «Sie ist intakt.»
Das Umdenken ist nicht aufzuhalten. Als Aicha Ali, Caritas und die somalische Gemeinschaft in Aarau zu einer Filmvorführung zum Thema Beschneidung lud, kamen vierzehn Frauen, sechs Männer, darunter auch Mokhtar Alio, und Kinder. Der Film zeigte die gesundheitlichen und sozialen Probleme, die diese archaische Praxis verursacht, «Aanu Wada Hadallo» – lasst uns reden – hiess er. Die Stimmung im Saal war erst verhalten, später aber brodelte es. «Wenn wir eine Tradition wie die Beschneidung brechen, entfachen wir den Zorn Gottes», rief eine Frau. «Was sagst du denn da?», entgegnete ihr eine andere. «Das Wichtigste ist doch die Gesundheit unserer Töchter und Schwestern.» «Wenn wir sie verletzen», betonte eine dritte, «verletzen wir alle in unserer Gesellschaft.»
Immer mehr versuchen sich beschnittene Frauen das zurückzuholen, was ihnen weggenommen wurde. Sie entschliessen sich, ihre Naht öffnen zu lassen – bevor sie einen Partner haben. «Ich beobachte diese Entwicklung etwa seit fünf Jahren», sagt Annette Kuhn, Leiterin des Zentrums für Urogynäkologie an der Frauenklinik des Berner Inselspitals. «Es sind meist junge Frauen zwischen 15 und 20, die den Wunsch nach einer normalen Sexualität äussern und mit diesem Eingriff auch bewusst das Risiko eingehen, Probleme mit ihrem künftigen Mann zu bekommen.» Bei der sogenannten Defibulation werden die Naht, die die Schamlippen verschliesst, geöffnet, die kleinen Schamlippen rekonstruiert und die Stelle, an der sich die Klitoris befunden hatte, auf ihre Empfindlichkeit hin geprüft. «Die Klitoris lässt sich nicht wieder aufbauen», erklärt Kuhn, «Aber oft finden wir einen Rest, der noch Nervenreflexe zeigt, den können wir freilegen.»
Die Gynäkologin warnt die Frauen jedoch davor, ihre sexuelle Erlebnisfähigkeit von der Defibulation abhängig zu machen. In einer aktuellen Studie belegt sie, dass die Operation zwar die sexuellen Funktionen verbessert, auf die Orgasmusfähigkeit jedoch kaum Einfluss hat. Oft zeigen therapeutische Gespräche mehr Erfolg. Sie ermutigt ihre Patientinnen, ihre unverletzten erogenen Zonen neu zu entdecken, wie etwa jene in der Vagina. Die würden von vielen Frauen – auch von unbeschnittenen – völlig vernachlässigt. Und eines Tages wagte Annette Kuhn ein kleines Experiment: Sie platzierte im Wartezimmer ihrer Praxis Visitenkarten eines Erotikshops für Frauen und wies ihre Patientinnen explizit darauf hin. In kürzester Zeit war die Hälfte der Kärtchen verschwunden.
Auch in unserer Kultur wurde die genitale Verstümmelung von Frauen praktiziert: Im Viktorianischen Zeitalter entfernte man Frauen Gebärmutter und Klitoris, um Masturbation, Homosexualität, Hysterie oder Melancholie zu «therapieren». In den USA wurden diese Methoden (medizinisch: Hysterektomie und Klitoridektomie) bis in die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts angewandt. Dabei stützten sich die Mediziner auf Sigmund Freud, der in der Entfernung der klitoralen Sexualität eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung der Weiblichkeit sah.
Weitere Infos:www.unicef.ch; www.caritas.ch/gesundheit; www.plan-schweiz.ch; www.terre-des-femmes.ch
Leider ist das Thema der Verstümmelung auch bei uns noch immer aktuell. Lesen Sie dazu den Bericht «Genitalverstümmelungen in der Schweiz nehmen zu» im Tagesanzeiger.