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Zwei Mütter über Mom-Burnout: «Wir sollten uns nicht immer stärker geben, als wir sind»

Zwei Mütter über Mom-Burnout: «Wir sollten uns nicht immer stärker geben, als wir sind»

Wie vermeiden wir Mom-Burnouts? Und was haben vergessene Turnsäcke mit den Fehlern des Systems zu tun? Autorin Coralie Melissa Niang und Redaktorin Sandra Brun sprechen übers Mamasein am Anschlag.

Sandra Brun: Ich bin selbst Mama und habe mich beim Lesen Ihres Buches «Die Mamalution» so oft wiedergefunden. Was hat Sie dazu bewogen, über das Thema Mom-Burnout zu schreiben?

Coralie Melissa Niang: Ich bin selbst vor vier Jahren in ein Burnout reingerutscht. Als alleinerziehende Mama ist der Alltag oft ein Kampf – Existenzängste, finanzielle Sorgen, fehlende Energie und Zeit. Und dazu noch der Mental Load, also dauernd an alles denken zu müssen. Da dachte ich irgendwann: Da stimmt doch etwas nicht. Und das in einer Zeit, in der wir glauben, als Frauen, als Mütter selbstbestimmt zu sein.

Sandra Brun: Sind wir das denn nicht?

Coralie Melissa Niang: Mamasein ist nicht unbedingt einfacher als früher. Uns werden heute mehr Aufgaben auferlegt. Sobald wir Kinder haben, sind wir immer noch in einer ziemlich festgefahrenen Rolle gefangen. Das übt grossen Druck aus: Ich kenne Mütter, die wegen eines Burnouts in die Klinik mussten; Mütter, die existenzielle Sorgen haben; Mütter, die im Alltag regelmässig an ihre Belastungsgrenzen kommen. Diese Geschichten wollte ich in meinem Buch zusammentragen, um eine Diskussion zu starten.

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«Ich glaube, es gibt gar keine Mütter ohne ein Übermass an Stress, Sorgen und Arbeit»

Redaktorin Sandra Brun

Sandra Brun: Als ich Ihnen für eine Kopie Ihres Buches schrieb, freute ich mich aufs Lesen – und fürchtete gleichzeitig, die Zeit dafür gar nicht zu finden. Denn ich befinde mich in einer ähnlichen Situation, bin getrennterziehend, erwerbstätig und fühle mich oft wie in einem Hamsterrad. Dieses Gefühl habe ich auch aus vielen der Geschichten herausgelesen und glaube, es gibt gar keine Mütter ohne ein Übermass an Stress, Sorgen und Arbeit. Oder irre ich mich?

Coralie Melissa Niang: Wenn es sie gibt, müssen sie ein extrem unterstützendes Umfeld haben und die Kinder gemeinsam mit einer:einem Partner:in grossziehen. Und sie müssen finanziell so gut abgesichert sein, dass sich ihr Alltag einfach organisieren lässt. Mithilfe einer Nanny beispielsweise. Aber auch unabhängig davon sehen sich Mütter oft als Versager:innen, wenn sie gestresst sind. Denken, andere Mütter würden es besser machen und seien weniger erschöpft. Dabei ist es eine riesige Verantwortung, Kinder grosszuziehen.

Sandra Brun: Dass man so viel leistet und trotzdem so streng ist mit sich selbst – denken Sie, das hat auch mit dem gesellschaftlichen Druck zu tun? Wir müssen uns in dieser Leistungsgesellschaft behaupten, im Job Gas geben, Geld verdienen, unsere Kinder ernähren. Und auf der anderen Seite wird suggeriert, ja nicht zu viel arbeiten zu dürfen, weil wir dann zu wenig Zeit für unsere Kinder haben. Was macht dieses Paradox mit uns?

Coralie Melissa Niang: Wir können es weder der Arbeitswelt noch der Familie recht machen. Als Mama umsorgend sein, gleichzeitig Geld verdienen, Schulstoff miterklären, den Alltag organisieren – dafür bräuchten wir unser Dorf zurück. Ein Auffangnetz, um uns gestützt zu fühlen von der Gesellschaft. Damit nicht schon unsere Kinder in dieses gestresste System reinrutschen.

Sandra Brun: Ich habe den Eindruck, das Thema Mom-Burnout ist riesig: Viele von uns stecken entweder mittendrin, sind kurz davor oder erholen sich gerade davon. Laut einer Studie von Pro Familia sind fünf Prozent der Schweizer Mütter betroffen, die Dunkelziffer ist wohl noch höher. Wie kann es sein, dass Mütter immer noch häufig ihre Erschöpfung für sich behalten?

Coralie Melissa Niang: Das hat sicher damit zu tun, dass wir alle versuchen, einem Bild zu entsprechen. Wir wollen nicht zeigen, dass wir versagen. Das müssen wir ändern, lernen sagen zu können: «Mir geht es schlecht.» Denn solange wir alle mitmachen, halb krank und unausgeschlafen zur Arbeit gehen, hat man natürlich das Gefühl, dass es funktioniert. Wir müssen noch mehr kommunizieren; unsere Gefühle und unser Befinden wahrnehmen – und auch nach aussen zeigen. Und uns nicht immer stärker geben, als wir sind.

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«Solange wir alle mitmachen, halb krank und unausgeschlafen zur Arbeit gehen, hat man natürlich das Gefühl, das System funktioniert»

Autorin Coralie Melissa Niang

Sandra Brun: Also mutiger für unsere eigenen Bedürfnisse einstehen. Das ist natürlich nicht ganz einfach – vor allem im Job. Wir machen uns Sorgen, dort unsere Leistung nicht zu bringen und das Klischee der unzuverlässigen Mutter zu erfüllen, die immer wegrennen muss wegen ihrer Kinder. Ich glaube, da spielen auch viele Ängste mit rein.

Coralie Melissa Niang: Diese Ängste sind ja auch verständlich, wir wollen alle in Sicherheit leben, das ist ein Grundbedürfnis. Sobald der Job gefährdet ist, wenn man viel fehlt, weil beispielsweise das Kind krank ist oder man Termine in der Schule oder Kita wahrnehmen muss, versucht man das automatisch auszugleichen. Und bewegt sich über seine Grenzen hinaus. Genau dort müssen wir mehr Stellung beziehen, öffentlicher werden – darüber reden, schreiben, mehr Präsenz anstreben. Das hat mich motiviert, über Mom-Burnouts zu schreiben, damit wir uns gehört fühlen und wissen, dass es anderen auch so geht. Das nimmt schon mal viel Druck weg.

Sandra Brun: Das ist ja auch so eine Krux, dass wir als Mütter nicht einmal ehrlich sind miteinander, während wir ja eigentlich alle im gleichen Boot sitzen – das sagen auch viele der Frauen, die Sie porträtiert haben. Unter Freund:innen und Gleichgesinnten müssten wir ja nicht so eine krasse Performance hinlegen – warum tun wirs dann trotzdem?

Coralie Melissa Niang: Wir leben in einer Gesellschaft, in der man sich gegen aussen immer makellos zeigen will. Als Frau sowieso: gut aussehen, die Kids nicht zu lange vor den Fernseher setzen, ihnen gesundes Essen kochen, immer an alles denken. Natürlich wollen wir da mitmachen, weil wir alle das Bedürfnis nach Anerkennung haben. Wir wollen nicht, dass schlecht über uns gesprochen wird. Je öfter man aber ehrlich sagt, wie es einem geht, desto leichter fällt es. Wenn ich einen Tag habe, an dem ich kaputt bin, schlecht geschlafen habe, dann sage ich das mittlerweile auch, wenn mich jemand fragt, wie es mir geht. Das bringt meist etwas ins Rollen und das Gegenüber erzählt auch viel ehrlicher von sich.

«Ich arbeite immer noch dran, wie ich diesen Mental Load stoppen kann»

Autorin Coralie Melissa Niang

Sandra Brun: Sie haben das Gedankenkarussell angesprochen, den verrückten Mental Load, immer an alles denken zu müssen. Ich hatte vorhin, als ich mich auf unser Gespräch vorbereitet habe, einen Moment, in dem ich mit Schrecken realisiert habe, dass meine Tochter Projektwoche und deshalb heute keinen Nachmittagsunterricht hat. Ich hätte also melden sollen, dass sie heute ausnahmsweise einen halben Tag mehr in den Hort kommt. Ein kurzer Moment der Panik. Da frage ich mich jeweils: Müsste ich besser organisiert sein? Und trotzdem weiss ich: So sehr ich mir Mühe gebe, ständig ploppen mitten in meinen Alltag Gedanken wie: «Shit, hat mein Kind den Turnsack dabei?» oder «Habe ich die Anmeldung fürs nächste Turnier schon geschickt?». Das ist doch Wahnsinn.

Coralie Melissa Niang: Als Sie das jetzt erzählt haben, hat das gerade etliche Triggerpunkte bei mir aktiviert. Das ist mein Alltag! À la, «Oh Mist, dieses Papier müsste ich noch unterschreiben!» Da sind so viele Sachen. Und ich arbeite ehrlich gesagt auch immer noch dran, wie ich diesen Mental Load stoppen kann. Dinge aufzuschreiben, kann helfen. Eine Freundin von mir hat die Küche voller Post-it-Zettel, sie schreibt alles sofort auf, wenn ihr etwas in den Sinn kommt, wie: «Morgen ist Schulreise, XYZ mitnehmen». Kleine Gedankenstützen für den Alltag. Aber wichtig ist mir: Wenn mal was vergessen geht, weniger streng sein mit sich selbst, sich nicht verurteilen für Fehler. Meine Kinder haben auch mal einen Ausflug gemacht mit der Tagesschule und ich habe null daran gedacht, habe ihnen nichts mitgegeben. Als ich abends meine Tochter abholte, sagte die Lehrerin, sie sei die Einzige gewesen ohne Sonnenhut. Es tat mir so leid. Gleichzeitig wurde mir klar: Es ist gar nicht möglich, immer an alles zu denken!

«Was mich so erdrückt, ist dieses Gefühl, dass es nie endet»

Redaktorin Sandra Brun

Sandra Brun: Das ist genau so eine Situation, in der man dann einen Anschiss kriegt von Lehrpersonen, Betreuer:innen. Ich frage mich dann, ob ihnen bewusst ist, was für eine riesige Organisationslawine über uns Eltern rollt: Wir müssen mitdenken an Hausaufgaben, Prüfungen, Schulausflüge, Projektwochen, Elternabende, Turnsäcke, Schwimmunterricht, Präsentationen, Verkleidungstage, Besuchstage und, und, und. Bei mir kommt als getrennterziehende Mama noch hinzu, dass meine Kinder zur Hälfte bei ihrem Papa sind und ich mir jeweils überlegen muss, wie das Wetter in zwei Tagen ist, ob sie die Regenjacken noch mitnehmen müssten. Was mich so erdrückt, ist dieses Gefühl, dass es nie endet. Es ist nicht so, dass es nach der Schulreise nächste Woche abgehakt und wieder «Normal-Modus» ist. Es geht immer weiter und weiter.

Coralie Melissa Niang: Ich habe mal ein Video gesehen, in dem eine Mutter darstellen wollte, wie sich ihr Tag anfühlt. Da hat sie symbolisch To-dos in einen Korb geworfen, nur hatte dieser ein Loch und alles fiel unten wieder raus. Und ich dachte: Yes, genau so ist es. Bei vielen anderen Arbeiten hat man das Gefühl, dass auch mal was abgeschlossen ist. Mit Kindern ist es eine andauernde Organisation, es hört nie auf. Das finde ich schon krass. Wir können das kaum ändern; viele Aufgaben und Erwartungen werden uns von aussen diktiert. Ideal wäre, wenn man sich die Organisation aufteilen könnte. Aber das ist kaum Realität. In der Zeit, in der du allein zu Hause bist mit deinen Kindern, musst du alles selbst erledigen. Auch von den Schulen her müsste mehr mitorganisiert werden. Aber sie haben Mangel an Lehrpersonen, erwarten Mithilfe von uns Eltern. Es ist ein Teufelskreis.

Coralie Melissa Niang ist Autorin und lebt mit ihrer Familie in Biel. Kinder zu haben beschreibt sie als grösstes Geschenk und zugleich als grösste Aufgabe ihres Lebens.

 

Sandra Brun: Wie geht es Müttern, die nicht alleinerziehend sind? Fühlen sich diese genauso allein? Mental Load ist ja auch ein grosses Gleichstellungsthema.

Coralie Melissa Niang: Ich habe auch mit Müttern gesprochen, die in einer Partnerschaft leben. Ein Gespräch blieb mir da besonders in Erinnerung: Zwar sei sie sich der Privilegien und der Unterstützung bewusst, die sie in einer stabilen Ehe geniesse, erzählte mir eine Mutter. Gleichzeitig stelle sie fest, dass sich ihre Meinung zu einer emanzipierten, fortschrittlichen Gesellschaft durch die Mutterschaft völlig geändert habe. Nur schon die Jobsuche erweise sich für sie als Mutter viel schwieriger als für ihren Partner, der keine Probleme hatte, eine neue Stelle zu finden. Generell habe sie das Gefühl, ihr Mann könne ein viel freieres Leben führen als sie. Er gehe zum Sport, widme sich Arbeitsprojekten – während sie konstant damit beschäftigt sei, den Familienalltag zu organisieren.

«Es geht darum, dass wir kleine Menschen in die Welt rausschicken, die mental und körperlich gesund sind»

Autorin Coralie Melissa Niang

Sandra Brun: Was bräuchte es Ihrer Meinung nach konkret?

Coralie Melissa Niang: Was sicher helfen würde, wäre eine besser bezahlbare, zeitlich flexiblere, unkompliziertere Betreuung. Wo man Kinder auch mal früher bringen oder später abholen könnte. Und nicht nur an fixen Tagen – sondern auch, wenn man mal für ein paar Stunden Hilfe bräuchte, weil man krank ist oder wichtige Termine hat. Denn dann ist man meist aufgeschmissen, kann sein Kind nirgendwo hinbringen, weil man nicht weit im Voraus fix diesen Slot gebucht hat. Dabei müsste das doch möglich sein – wenn wir schon so eine Leistungsgesellschaft sein wollen.

Sandra Brun: Wie steht es um die Care-Arbeit? Sollte die Ihrer Meinung nach bezahlt werden?

Coralie Melissa Niang: Ich fordere unbedingt Lohn für Care-Arbeit, für die Arbeit, ein Kind grosszuziehen. Natürlich ist es schön, Kinder zu haben. Wenn es nur darum ginge, Spass zu haben mit den Kids, zu kuscheln und ihnen Geschichten zu erzählen, wäre das ja wunderbar. Aber die Realität sieht anders aus: Es geht darum, dass wir kleine Menschen in die Welt rausschicken mit dem Anspruch, dass sie mental und körperlich gesund sind. Das dient alles der Gesellschaft, dem System. Und ist ein Megajob. Wenn das entlöhnt würde, hätten auch weniger Frauen im Alter ein Armutsproblem. Damit würden wir uns als Mütter mehr unterstützt und sicherer fühlen – und für Väter Anreize bieten, mehr Care-Arbeit zu übernehmen.

Sandra Brun: Das läuft beides auch darauf hinaus, dass mehr Wertschätzung da sein müsste für die Aufgabe, Mutter, Elternteil, zu sein.

Coralie Melissa Niang: Wenn ich mich mal beklage, höre ich von Familienmitgliedern und auch im Bekanntenkreis manchmal, ich sei ja selbst schuld. Ich hätte ja keine Kinder bekommen müssen. Immer diese Schuldzuweisungen! Das gilt aber auch für Frauen ohne Kinder: Hast du keine Kinder, versteht man das nicht – hast du Kinder, darfst du nicht meckern.

Sandra Brun: Man ist als Mutter ja auch oft unsichtbar. Zumindest dieser grosse Berg an Aufgaben, den Muttersein mit sich bringt. Den versucht man manchmal aber auch selbst zu verstecken – mir ging es zumindest oft so und ich versuche das zu ändern, indem ich mehr darüber spreche. Ich hatte immer Angst davor, auf diese Mutterrolle reduziert zu werden und habe deswegen kaum über mein Leben als Mutter gesprochen. Und merke immer mehr, was für ein Blödsinn das ist, es bestimmt ja so sehr meinen Alltag und beeinflusst so sehr, wie es mir gerade geht, was mich gerade beschäftigt. Haben Sie das Gefühl, allein- und getrennterziehende Eltern sind noch weniger sichtbar? Wobei ja auch Mütter in Heteropartnerschaften oft mehrheitlich die Kinderbetreuung allein stemmen – und oft dann noch für den Partner quasi Care-Arbeit übernehmen, waschen, putzen, sein Leben organisieren.

Coralie Melissa Niang: Ich glaube schon, dass wir da immer noch weniger sichtbar sind. Obwohl ich das Gefühl habe, es gibt immer mehr alleinerziehende Mütter, gerade weil wir finanziell weniger abhängig sind von Partner:innen. Vielleicht traut man sich heutzutage eher, sich zu trennen. Wir brauchen nicht mehr dringend eine:n Partner:in. Darüber bin ich sehr froh. Viele Punkte haben sich modernisiert, aber beim Thema Muttersein sind wir stehen geblieben.

Sandra Brun: Haben Sie das Gefühl, diese Unsichtbarkeit hat auch damit zu tun, dass wir mehr um Hilfe bitten müssten? Dass es mit unserem Stolz zu tun hat, dann doch tough zu sein, es allein hinkriegen zu wollen?

Coralie Melissa Niang: Auf jeden Fall, das fällt mir auch immer noch schwer. Einfach mal Hilfe annehmen finde ich etwas vom Schwierigsten. Ich habe immer das Gefühl, ich muss dann etwas zurückgeben. Um Hilfe bitten kostet viel Überwindung, man fühlt sich dann gleich irgendwie klein und schlecht. Obwohl viele Menschen gerne helfen, wenn man sie darum bittet.

Sandra Brun: Ich höre oft von Freund:innen: «Melde dich, wenn du mal jemanden brauchst, der auf deine Kinder aufpasst.» Und ich mache es trotzdem nicht. Und ich kann mir nicht mal erklären, warum genau, das ist das Skurrile. Das sind ja die Menschen, denen ich offensichtlich mitteile, wie es mir geht, die mir dann entsprechend helfen wollen. Aber da ist immer noch eine Hürde – nicht mal unbedingt Stolz – aber etwas hält mich davon ab, um Hilfe zu bitten. Ich weiss nicht, ob ich mich dann irgendwie stark fühlen will, zeigen, dass ich das schon allein schaffe – oder was mich genau hemmt. Es ist auch fast ein zusätzlicher Stress, Hilfe zu organisieren, sodass ich oft denke: In der Zeit habe ich es auch allein gemacht, ich bin es ja eh gewohnt, es allein zu machen.

Coralie Melissa Niang: Ich habe kürzlich realisiert, dass ich auch total überfordert bin, wenn mich jemand fragt, was ich genau brauche. Oder wenn mir jemand sagt, ich solle mich melden, wenn ich mal Hilfe brauche. Am liebsten hätte ich, wenn zu mir jemand sagt: «Hey, morgen hole ich deine Kinder ab.» Oder: «Heute komme ich zu dir und koche Mittagessen.» Ich glaube, oft fühlen wir uns verloren, wissen wir gar nicht, was wir bräuchten, und konkrete Hilfestellungen wären viel sinnvoller.

«Es war doch früher nicht lässiger, Mama zu sein!»

Redaktorin Sandra Brun

Sandra Brun: Mich nervt auch dieses unterschwellige «Wir haben das früher auch geschafft» von älteren Mütter-Generationen. Erstens hatten die Mütter damals ja sicher auch ihre Struggles, zweitens haben sie wahrscheinlich null darüber gesprochen und drittens waren sie noch viel mehr in einer vorgegebenen Rolle gefangen, die sie einengte. Es war doch früher nicht lässiger, Mama zu sein! Natürlich war es anders, je nach Privilegien blieb man dann als Vollzeitmutter zu Hause, aber das macht ja auch nicht nur Spass. Schon nur die Wortwahl «es zu schaffen» impliziert ja schon so viel. Haben Sie nicht das Gefühl, dass Mütter früherer Generationen einfach weniger reflektieren, dass es ein Kampf war?

Coralie Melissa Niang: Das habe ich auch mal mit meiner eigenen Mutter diskutiert. Den Spruch «Wir haben es auch geschafft, ihr wurdet auch gross» finde ich sehr spannend. Natürlich, gross wurden wir alle, die Frage ist: zu welchen Bedingungen, zu welchem Preis? Gross werden auch unsere Kinder irgendwie. Aber wieso haben so viele Menschen psychische Probleme, warum finden so viele Machtkämpfe und immer noch so viele Kriege statt? Es geht doch nicht nur darum, irgendwie gross zu werden und es irgendwie zu schaffen. Es geht darum, dass wir mehr mental gesunde Menschen grossziehen. Ich befürchte, gerade die ältere Generation hat ihre eigenen Muster und Unsicherheiten nie aufgearbeitet.

Sandra Brun: Können wir diese Muster für unsere Kinder aufbrechen, damit es bei ihnen dann anders läuft?

Coralie Melissa Niang: Ich habe oft das Gefühl, dass sich die ältere Generation bei dem Thema irgendwo auch getriggert fühlt, weil sie sich damals vielleicht weniger mitgeteilt und untereinander ausgetauscht hat. Und das überspielt, indem sie uns schlecht macht: «Ihr Jungen, ihr habt Luxusprobleme.» Es geht dabei wohl eher darum, dass sie ihre eigenen Verletzungen nie wirklich anschauen konnten. Dass wir das jetzt tun, löst natürlich etwas aus. Ich habe kürzlich eine Nachricht von einer Frau im Alter meiner Mutter erhalten, die mein Buch gelesen hat. Sie hat das Buch so gefeiert. Es bestärke sie, zu sehen, dass wir jungen Mütter jetzt über unsere Struggles sprechen. Ich finde es schön zu sehen, dass sich auch ältere Frauen zu positionieren beginnen.

Sandra Brun: Vielleicht braucht es für sie auch diesen Weckruf, dieses Aufzeigen, dass man eben darüber sprechen kann. Dass man versuchen kann, Dinge zu ändern. Ohne das Gefühl, dass mit dem Finger auf sie gezeigt und ihnen vorgeworfen wird, dass sie es damals versäumt haben.

Coralie Melissa Niang: Auch unsere Kinder werden nochmals andere Einstellungen haben. Ich merke schon nur bei meinem Zehnjährigen, wie mich seine Argumente jeweils überraschen. Dass unsere Kinder viel reflektierter sind, als wir es damals waren. Das entwickelt sich über Generationen weiter.

Sandra Brun: Ich bin aufgewachsen mit einer Mutter, die immerzu alles stemmte und nie darüber sprach, dass es schwierig ist. Nicht ein einziges Mal habe ich gehört, dass sich meine Mutter beschwert hat. Mit meinen Kindern spreche ich offen darüber, dass es manchmal ein Kampf ist, dass ich auch mal überfordert bin. Versuche, ihnen das Bewusstsein mitzugeben, dass man kein Roboter sein muss. Ich versuche schon, nicht meinen Ballast bei ihnen abzuladen, und ich möchte ihre Unbeschwertheit bewahren – trotzdem finde ich es ehrlicher, näher, wenn sie spüren, wie es mir geht. Ich möchte mich mit ihnen austauschen, ihnen zeigen, dass man auch mal Schwäche zeigen darf – dass sie das eben auch dürfen. Wie sehen Sie das?

Coralie Melissa Niang: Ich finde das wahnsinnig wichtig. Sicher muss man unterscheiden und den Kindern nicht Aufgaben aufdrücken, die ihre Fähigkeiten überschreiten. Aber wir können authentisch mit ihnen umgehen, ihnen zeigen: «Ihr dürft traurig sein, wir dürfen traurig sein, das ist menschlich.» Nur so kommen wir weiter.

Für ihr Buch «Die Mamalution» hat Autorin Coralie Melissa Niang mit unterschiedlichen Frauen in der Schweiz über ihre Erfahrungen als Elternteil gesprochen und zeigt deren Lebensrealität auf.

Kommst du als Elternteil oft an deine Grenzen, machst dir Sorgen um deine psychische Gesundheit und möchtest mit jemandem reden? Hier findest du Hilfe:

Du kannst über die Telefonnummer 143 Die Dargebotene Hand kontaktieren und auf der Website 143.ch Hilfestellung finden.

Den elternnotruf.ch/ erreichst du telefonisch, per Mail oder Chat 24 Stunden am Tag.

projuventute.ch/de/elternberatung ist ebenfalls 24/7 erreichbar bei Erziehungsfragen oder akuten Problemsituationen.

mamibrennt.com/ bietet einen Safe Space für berufstätige Mütter und die Möglichkeit, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen.

Crisis support in English: heart2heart.143.ch

 

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