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Zähneknirschen: Warum Frauen doppelt so häufig betroffen sind – und was helfen kann

Gesundheit

Zähneknirschen: Warum Frauen doppelt so häufig betroffen sind – und was helfen kann

Manchmal muss man die Zähne zusammenbeissen, klar. Doch was, wenn der Druck zu gross wird? Der Kieferchirurg Michael Blumer über die Folgen von Zähneknirschen und warum Frauen häufiger betroffen sind.

Von einer «pandemischen Zahnknacker-Bonanza» war im US-amerikanischen Magazin «The Atlantic» die Rede. Ausgerechnet während der Pandemie, in der es kaum eine unangenehmere Vorstellung gibt, als in Anwesenheit anderer den Mund aufzusperren, sei eine wahre Goldgräberstimmung unter den Zahnärzt: innen ausgebrochen.

Die Zeitschrift bezog sich auf eine Umfrage der American Dental Association, welche vor einem Jahr erstmals mit Zahlen belegte, was viele beobachtet hatten: Seit Beginn der Pandemie sind die Wartezimmer voll mit Patient:innen, die unter Zähneknirschen leiden, auch Bruxismus genannt. Die Folgen davon können weitreichender sein als ein kaputter Zahn, weiss Michael Blumer (41). Der Kieferchirurg leitet die Sprechstunde am Zentrum für Kopf-, Gesichts- und Kiefergelenkschmerzen des Universitätsspitals Zürich. Er behandelt Menschen mit Craniomandibulären Dysfunktionen (CMD), Patient: innen also, die an Funktionsstörungen oder Schmerzen der Kaumuskulatur oder des Kiefergelenks leiden – oft eine Folge von Zähneknirschen.

annabelle: Michael Blumer, kommen seit Beginn der Pandemie mehr Patient:innen in Ihre Sprechstunde?
Michael Blumer: Wir sind sehr gut ausgelastet.

Wie viele Menschen sind betroffen?
Die letzten Studien wurden Jahre vor der Pandemie durchgeführt und ergaben, dass fünf bis zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung an CMD-Beschwerden leiden. Aber man muss mit einer hohen Dunkelziffer rechnen. Einige gehen sogar von bis zu vierzig Prozent Betroffenen aus. Was die Pandemie angeht: Es gibt tatsächlich neue Studien aus dem Ausland, die eine solche Zunahme belegen.

Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?
Es gibt viele Risikofaktoren für diese Art der Beschwerden, aber die wichtigsten sind psychologischer Natur. Menschen, die unter Angststörungen, Depressionen oder Stress leiden, tendieren zu Parafunktionen des Kiefers: Sie knirschen oder pressen etwa mit den Zähnen oder verspannen die Kiefermuskulatur, bis es schmerzhaft wird. Die Pandemie hat die Ängste, Unsicherheiten und den Stress vieler Menschen erhöht.

Wir sind bereits vor der Pandemie auf das Thema gestossen, und zwar in einem Interview mit Dr. Barbara Sturm. Der Gründerin des Beauty-Imperiums ist aufgefallen, dass besonders Klientinnen häufig über schmerzhafte Verspannungen der Kiefermuskulatur klagen.
Frauen sind in der Tat mindestens doppelt so häufig von CMD-Beschwerden und Bruxismus betroffen wie Männer. Im Alter zwischen zwanzig und vierzig ist ihr Risiko besonders hoch. Aber in unseren Sprechstunden sehen wir Frauen aller Altersgruppen.

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«Die Doppelbelastung berufstätiger Mütter ist bestimmt ein grosser Stressfaktor»

Kieferchirurg Michael Blumer

Warum sind so viele Frauen betroffen?
Hormonelle Veränderungen können die Beschwerden begünstigen, seien es die Hormonschwankungen, bedingt durch den weiblichen Zyklus oder etwa durch eine Schwangerschaft. Ausserdem haben Frauen ein erhöhtes Körperbewusstsein.

Wie meinen Sie das?
Frauen nehmen Veränderungen ihres Körpers stärker wahr als Männer. Junge Mädchen beobachten besonders häufig ein Knacken beim Kauen. Weil sie besser auf ihren Körper hören, aber auch weil ihre Gelenke elastischer sind und sie häufiger von einer an sich ungefährlichen Anomalie im Kiefergelenk betroffen sind. CMD-Beschwerden sind nicht immer schmerzhaft, auch Einschränkungen beim Schliessen oder Öffnen des Mundes zählen dazu. Oder eben auch Geräusche, die Kieferbewegungen begleiten.

Sie erwähnten, dass besonders Frauen zwischen zwanzig und vierzig Jahren betroffen sind. Warum?
In diesem Lebensabschnitt passieren die meisten Veränderungen im Leben einer Frau. Mit vierzig hat man meistens eine berufliche Laufbahn eingeschlagen, die Familienplanung abgeschlossen. Und ja, die Doppelbelastung berufstätiger Mütter ist bestimmt ein grosser Stressfaktor. Gerade wenn die Kinder klein sind, lasten Kindererziehung und Haushalt oft ungleich stärker auf den Schultern der Mütter. Und Stress ist die häufigste Ursache für Zähneknirschen, schmerzhafte Verspannungen der Kaumuskulatur und andere CMD-Symptome.

Warum beissen die Menschen denn überhaupt die Zähne zusammen, wenn sie gestresst sind?
Die Ursache von Bruxismus ist nicht sehr gut erforscht, aber man hat bei Labortieren beobachtet, dass sich durch das Beissen auf harte Gegenstände ihr Level an Stresshormonen senkt. Auch beim Menschen ist das Mahlen mit dem Unterkiefer eine oft unbewusste Art, Stress zu bewältigen.

Dabei werden enorme Kräfte freigesetzt. Hundert Kilogramm pro Quadratzentimeter und mehr sollen beim Zähneknirschen im Schlaf auf die Backenzähne wirken.
Je grösser der Stress, desto grösser der Druck. Im Schlaf ist das Schmerzlevel reduziert, darum kann man auch stärker zubeissen. Es gibt aber auch Menschen, die bei Hunger oder Anspannung tagsüber die Zähne zusammenpressen.

Wenn man nachts nicht gerade seinen Lieblingsmenschen mit dem Knirschen wachhält, wie erkennt man dann, dass man an Bruxismus leidet?
Häufig stellen Zahnärzt:innen eine übermässige Abnutzung der Zähne fest. Dagegen sind CMD-Beschwerden, die als Folge von Bruxismus auftreten können, oft diffuser. Zu uns kommen Patient:innen mit Schmerzen im Kieferbereich oder im Gesicht, mit muskulären Problemen, die sich daran zeigen, dass ihre Lippen zittern oder dass sie zum Beispiel ständig die Unterlippe nach vorn schieben. Häufig leiden die Patient:innen auch an Bewegungseinschränkungen des Unterkiefers. Es gibt Menschen, die haben derart grosse Schwierigkeiten beim Sprechen, dass sie sich sozial abkapseln. Andere klagen über Symptome, die erst oft gar nicht dem Kiefer zugeordnet werden.

Welche zum Beispiel?
Probleme der Kiefermuskulatur oder der Gelenke können sich etwa als Tinnitus gebärden. Oft klagen Patient:innen über ein merkwürdiges Druckgefühl im Ohr, aber die Hals-Nasen-Ohren-Ärzt:innen können kein Problem feststellen. Oder sie glauben, dass sie schlecht hören, obwohl die Ergebnisse der Hörtests unauffällig sind. Ein Symptom, das meist ganz am Anfang steht: Man vermeidet es, in einen Apfel oder ein Sandwich zu beissen, weil man dem Schmerz ausweichen will.

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«Es gibt Menschen, die haben derart grosse Schwierigkeiten beim Sprechen, dass sie sich sozial abkapseln»

Kieferchirurg Michael Blumer

Was kann man gegen die Schmerzen tun?
Als erste Therapieform erklären wir den Patient:innen, wie sie die Kaumuskulatur massieren können. Bei eingeschränkter Mundöffnung können Geschicklichkeitsübungen helfen, psychosomatisch bedingte Beschwerden versuchen wir mit Entspannungs- und Verhaltenstherapien zu lindern. Bei Bruxismus verschreiben die Zahnärzt:innen meist eine Knirschschiene, die die Zahnsubstanz schützt und in vielen Fällen auch verhindert, dass sich aus dem Zähneknirschen Schmerzen im Gesicht oder andere CMD-Beschwerden entwickeln.

Einige Betroffene schwören auf sogenannte Biofeedback-Schienen, die summen oder vibrieren, wenn man zu stark zubeisst.
Das mag einigen helfen. Aber Schlafstörungen zählen auch zu den Risikofaktoren von Bruxismus und CMD. Ich stelle es mir nicht allzu angenehm vor, mit so einer vibrierenden Schiene im Mund zu schlafen. Eine normale Knirschschiene hat meiner Erfahrung nach denselben Effekt.

Sie setzen auch Botox ein.
Bei ganz spezifischen Symptomen mit muskulären Beschwerden kann Botox helfen. Beim Verfahren handelt es sich noch um einen «off-label use», die Krankenkassen übernehmen die Behandlungskosten nur in Ausnahmefällen – obschon die Wirksamkeit in vielen Studien belegt ist. Die ärztliche Leistung ist nicht teuer, das Präparat aber schon.

So eine Botox-Injektion zur Glättung der Stirnfalten ist doch aber heute schon für wenige hundert Franken zu haben.
Für die Kaumuskulatur sind aber ganz andere Mengen nötig. Der Masseter-Muskel ist einer der stärksten Muskeln des Menschen, ausserdem injizieren wir das Botox auch in den Schläfenmuskel, weil dieser häufig vom Schmerz betroffen ist. Die Botox-Injektion schwächt die Muskulatur gezielt.

Und das wirkt entspannend.
Wissenschaftlich ist Botulinumtoxin, wie der Wirkstoff von Botox heisst, noch wenig erforscht. Es gibt Studien, die vermuten, dass Botulinumtoxin nicht nur eine lähmende, sondern auch eine schmerzlindernde Wirkung hat. Anders kann ich mir nicht erklären, warum eine Stirnfaltenbehandlung mit Botulinumtoxin auch Migräne therapiert. Im Gegensatz zu Verspannungskopfschmerzen ist Migräne ja ein Phänomen, das durch Spasmen der Blutgefässe im Hirn erklärt wird.

Kann man bei der Behandlung von CMD-Beschwerden mit Botox auch mit ästhetischen Nebenwirkungen rechnen?
Ja, das hat durchaus Auswirkungen auf das Erscheinungsbild: Wird die Kaumuskulatur mit Botulinum geschwächt, verschmälert sich das Gesicht und das Jochbein tritt hervor. Ein Effekt, der in Hollywood gern gesehen wird.

Derzeit verstecken wir die Mundpartie ja meist hinter Masken, verkrampft-freundliches Dauerlächeln ist also nicht mehr nötig. Bringt das Entspannung?
Das ist möglich. Ich beobachte allerdings oft, wie ich die Maske immer wieder mit dem Unterkiefer nach vorn schiebe, um besser atmen zu können. Vielleicht führt das Maskentragen also auch zu mehr Verspannung – und das nicht nur im übertragenen Sinn.

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