Liebe & Sex
Wie Sex nach Plan eine Ehe rettete
- Text: Helene Aecherli; Fotos: Chris Antemann Dreams Collection ©Meissen
Sex nach Plan klingt wenig prickelnd. Oder? Ein Paar hats ausprobiert. Das Resultat: Ungeahnte Lustgipfel – und eine völlig neue Gesprächskultur.
Die Erosion ihrer Beziehung offenbart sich in Missverständnissen – so, wie es oft geschieht, wenn die gemeinsame Sprache zu schwinden beginnt: Sie sehnt sich nach einer Umarmung. Will einfach mal eine Stunde lang mit ihrem Mann kuscheln, ihn an ihrer Seite geniessen. Er aber sehnt sich nach etwas anderem. Wenn er sie berührt, will er Sex. «Nicht schon wieder», denkt sie, «lass mich in Ruhe!» Es ist die Diskrepanz zwischen weiblichem und männlichem Verlangen. «Ein Mann braucht Sex, damit er Zärtlichkeit geben kann, ein Frau braucht Zärtlichkeit, damit sie überhaupt Lust hat auf Sex», ist sie sich bewusst, aber sie kann in diesen Momenten nicht anders. Nähert er sich ihr, weist sie ihn ab, immer wieder, was ihn verunsichert und verletzt, denn er hat Angst, als Mann nicht mehr zu genügen. Wenn sie dann nach Monaten trotz allem wieder einmal miteinander schlafen, kommt er zu früh, und sie ist frustriert, weil nach zwei Minuten schon wieder alles vorbei ist. Sie beginnt, über einen Seitensprung nachzudenken, sagt laut: «Entweder haben wir wieder guten Sex, sonst muss ich mir einen anderen suchen», was ihn noch mehr verletzt, schliesslich ist sie es doch, die ihn ständig abweist.
Anna* (42) ist in der Verwaltung tätig, David (40) im Hausdienst. Sie sind seit 14 Jahren verheiratet, leben in einer Vierzimmerwohnung, haben zwei gemeinsame Kinder im Primarschulalter. Gegen aussen sind sie Mami und Papi, ein eingeschworenes Team, gegen innen auf eine Zweckgemeinschaft geschrumpft. Sie diskutieren, wer kochen, waschen, die Kinder holen muss, und vor allem: Wer was zahlt. Reden aber tun sie kaum mehr miteinander, und wenn, dann streiten sie. Den obligaten Abschiedskuss, morgens, bevor sie zur Arbeit gehen, geben sie sich längst nicht mehr.
David ist gross, muskulös, Anna ist klein, hat pechschwarzes Haar, eine wohlklingende Stimme und, wie sie sagt, «mehr als ein paar Kilo zu viel auf den Rippen». Sie sind hier, in dieser Geschichte, ein Pars pro Toto, Einzelstimmen aus dem zermürbenden Strudel aus täglicher Kampfroutine, vergiftender Sprachlosigkeit und körperlicher Entfremdung; ein Phänomen, das eher die Norm ist als die Ausnahme – egal, wie hippiesk- cool oder gutbürgerlich-zufrieden die Fassaden auch aussehen mögen. Doch wer in diesem Strudel feststeckt, spricht selten offen darüber und noch weniger über die Lieb- und Lustlosigkeit im Bett. Zwar ist es heute, da Sexuelles allgegenwärtig ist, chic geworden, über aphrodisierende Gleitmittel oder Bondage-Techniken zu fachsimpeln. Über die eigene Sexualität zu reden, geschweige denn zu offenbaren, dass man längst kaum Sex mehr hat, ist hingegen nach wie vor ein Tabu.
Anna gehört der Generation jener Frauen an, die sich das feministische Credo «Wenn es nicht klappt, dann klappt es nicht!» aufs Beziehungsbanner geschrieben hat. Sie hat es nicht nötig, bei einem Mann zu bleiben, mit dem es nicht mehr funktioniert. Anna verdient anständig, könnte als Alleinerziehende über die Runden kommen. Die Trennungspapiere hat sie bereits ausgedruckt und sich überlegt, wie es für sie, David und die Kinder nach der Scheidung weitergehen könnte. Sie wäre nicht die Einzige in ihrem Freundeskreis. Die meisten ihrer Freundinnen, die ungefähr zur gleichen Zeit wie sie geheiratet haben, sind heute nicht mehr mit ihrem Mann zusammen. Doch David findet: «Wir haben uns das Ja-Wort gegeben, also bleiben wir zusammen. Wenn es schwierig wird in einer Beziehung, flüchtet man sich nicht einfach in eine nächste. Da muss man durch.» Das beeindruckt sie. Sie sagt sich: «Okay, da muss jetzt aber eine Lösung her.»
Sie beginnt, im Internet zu recherchieren: Warum kommt er so schnell? Warum habe ich keine Lust? Sollte ich mich medizinisch abklären lassen? Muss er zum Urologen? Irgendwann entdeckt sie das Protokoll eines Paars, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, jeden Tag Sex zu haben, um sein Liebesleben wieder in Schwung zu bringen. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Qualität des Akts, sondern darum, es einfach zu tun, als wäre es ein Liegestütztraining. Anna ist interessiert. Endlich mal ein anderer Ansatz. Als sie David davon erzählt, fällt er aus allen Wolken. Aber er will mitziehen. Es ist einen Versuch wert. Sie haben nichts zu verlieren.
Sex wird überbewertet, heisst es oft. Sex ist nicht wie Essen oder Trinken. Wer keinen Sex hat, stirbt nicht – er stirbt höchstens irgendwann mal aus. Doch Anna ist da anderer Meinung: Sex ist die Grundlage, findet sie. Er gehört zu einem gesunden Leben und zu einer gesunden Beziehung. In diesem Sinn, das ist ihr klar geworden, wird Sex sogar unterbewertet. Denn es ist grad die schwindende körperliche Nähe, der Verlust ihrer gemeinsamen Körpersprache, der ihre Ehe ins Wanken gebracht hat.
Anfänglich haben beide Angst. Nach all den Verletzungen, die sie einander zugefügt haben, fällt es ihnen schwer, sich wieder füreinander zu öffnen. Doch der Entscheid steht. Kein Zurück mehr. Und so fangen sie an, jene Zeiten abzupassen, in denen keins der Kinder zuhause ist, um die paar Minuten für sich zu nehmen. Zwei Wochen lang ziehen sie es durch. Es gibt Tage, an denen sie lieber fernsehen würden, als Sex zu haben. Trotzdem bekommen sie wieder Lust aufeinander, es beginnt wieder zwischen ihnen zu prickeln. Denn nun haben sie so etwas wie ein Geheimnis. Flüstern einander zu: «Wann trainieren wir heute?» Zudem fühlt sich David durch das tägliche Training entspannter, er weiss, wenn es heute nicht funktioniert, muss er bis zur nächsten Chance nicht mehr monatelang warten, sondern nur bis zum nächsten Tag. Anna freut sich über die neue Nähe zwischen ihnen, hadert jedoch damit, dass der Sex für sie noch immer nicht erfüllend ist, dass sie keinen Orgasmus hat. Dann aber passiert «der Klick» in ihrem Kopf. Sie erkennt, dass sie etwas von ihrem Partner erwartet, das sie sich selbst nicht erfüllen kann. «Ich erwarte Befriedigung von ihm, ohne fähig zu sein, mich selbst zu befriedigen. Ich habe immer geglaubt, dass Sex etwas ist, das nur mit dem Partner stattfindet, losgelöst von mir selbst. Ich habe mich nie gefragt: Wie fühle ICH mich? Was brauche ICH? Zudem bin ich an allen Ecken und Enden so frustriert, dass ich für mich selbst jegliches Gefühl verloren habe.»
Sie kauft sich einen Auflegevibrator, einen mit Orgasmusgarantie. Doch nichts. Keine Wirkung. Sie ist genervt. Enttäuscht. Aber dann, eines Nachmittags, als sie mit sich allein ist, funktionierts. Der Orgasmus kommt einfach so, ohne grosse Anstrengung. Anna ist überwältigt: «Es ist, als ob man in mir einen Stöpsel gezogen hätte, als wären plötzlich alle Blutbahnen wieder offen. Das hat eine ungeheure Energie freigesetzt.»
Erst erzählt sie ihrem Mann nichts, aus Angst, er könnte das Toy womöglich als Konkurrenz empfinden, oder schlimmer noch: glauben, dass sie ihn jetzt, da sie den Vibrator hat, nicht mehr braucht. Aber sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen. Legt sich eines Abends mit dem Toy neben ihn. Ist sehr nervös. Doch als David seine Frau beim Orgasmus erlebt, wird er neugierig: Er will das Gerät an ihr ausprobieren, will verstehen, wie es funktioniert, entwickelt den Ehrgeiz, mindestens so gut zu werden wie die Maschine. Das ist die Wende.
Von nun an machen sie sich einen Sport daraus, sich die Stunden und Minuten für einander zusammenzuklauben. Am Freitag zum Beispiel, da hat sie frei, er kommt um halb vier nachhause. Um halb sechs muss sie die Kinder holen. Die Zeit dazwischen gehört ihnen. Sitzen die Kleinen am Samstagmorgen vor dem Fernseher, verschwinden sie kurz ins Badezimmer. Sind sie im Bett, verziehen sich Anna und David auf den Balkon. Sie beginnen vermehrt darüber zu reden, was sie gern ausprobieren würden. Erst sagt er: «Nichts.» Sie hakt nach: «Willst du einen Dreier? Ich bin offen.» Er hält sich zurück, will nichts riskieren, jetzt, da sie schon so weit gekommen sind. Doch dann benennt er seine Wünsche immer klarer: mehr Blowjobs, öfter Sex unter der Dusche. Sie geht an einen Vortrag, an dem gezeigt wird, wie man massiert. Er ist überrascht, wie sehr er es mag. Ab und zu liefern sie sich sogar einen Zweiminüter, bevor die Kinder vom Spielplatz kommen. Anna findet es «mega cool», etwas zu tun, von dem sie weiss, dass es ihm einen Kick gibt. Nun spielen sie mit dem Gedanken, sich in einem Swingerclub beim Sex zusehen zu lassen, trauen sich aber noch nicht, diese Fantasie tatsächlich auch umzusetzen.
Je mehr Zeit sie aktiv miteinander verbringen, statt bloss schweigend nebeneinander vor dem Fernseher zu sitzen, und je aufregender es wird, herauszufinden, was dem anderen gefällt, desto stärker wird das Vertrauen darauf, einander Gutes tun zu wollen. Das bringt sie einander als Paar wieder näher. Wäre einer von ihnen völlig unbeteiligt gewesen oder hätte gar alles ins Lächerliche gezogen, wäre es zur Trennung gekommen.
Jetzt aber steigt ganz nebenbei auch die Lust, grundsätzlich wieder etwas zu zweit zu unternehmen, in der Küche beim Kaffee zusammenzusitzen oder mal an ein Konzert zu gehen. Und das wiederum beeinflusst die Art, wie sie miteinander kommunizieren. Hatte Anna früher gestanden, dass das Haushaltsgeld schon wieder weg ist, hätte David sie angefaucht: «Wie hast du es bloss geschafft, dass wir schon jetzt kein Geld mehr haben?» Heute sagt er: «Komm, wir finden schon eine Lösung.» Hatte David sie gebeten, die Kinder holen zu gehen, weil er einen anstrengenden Tag hatte, hätte Anna geantwortet: «Ich bin diese Woche schon dreimal gegangen, du nur zweimal. Jetzt bist du dran!» Heute sagt sie: «Easy, Schatz, ich mach das.»
Heute, sagt Anna, ist plötzlich Wohlwollen da. Sie weiss, sie kann sich auf ihn verlassen, so wie er weiss, dass er sich auf sie verlassen kann. Was sie einander geben, kommt wieder zurück. Diese Gewissheit lässt sie auch streiten, ohne gleich die ganze Beziehung infrage zu stellen, ohne zu brüllen: «Dann zieh doch aus!» Es ist kein In-den-Dreck-Schleudern mehr, wie damals, vor vier Jahren, als ihre Ehe vor dem Aus stand, sondern höchstens ein hitziger Meinungsaustausch, der dem Gegenüber nicht suggeriert: Jetzt liebt sie mich nicht mehr; sondern signalisiert: Er findet einfach nur diesen einen Aspekt blöd. «Das ist okay», sagt Anna. «Und das Beste ist: Danach haben wir trotzdem Lust auf Sex.»
Weder sie noch David stehen auf Fetische wie Lack und Leder, und sie können auch gut ohne Handschellen und Peitsche. Ihr Sex ist noch immer normal, bloss intensiver. Weniger ein Miteinander als ein Ineinander; ein gegenseitiges Sich-Aufnehmen, ein Verschmelzen, das sie oft durch den ganzen Körper hindurch bis in die Zehenspitzen spürt und sie erschauern lässt, wenn sie am nächsten Morgen daran denkt. Manchmal gesteht sie ihrem Mann, dass sie sich nun nie mehr von ihm trennen könne, weil sie keinen anderen Mann finden würde, der über eine derart virtuose Handtechnik verfügt. «Ich werde auch mit 95 nicht genug davon bekommen.» – «Dann werden wir wohl zusammen ins Altersheim müssen», scherzt David.
Heute ist ihre Beziehung stärker als jemals zuvor. Auch ihre Liebe. Und die Neugier darauf, was noch kommen wird.
* Namen von der Redaktion geändert
1.
Porzellanszenerie «Eine zerbrechliche Angelegenheit»