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Wie meine Magersucht bis heute nachhallt

Gesundheit

Wie meine Magersucht bis heute nachhallt

Unsere Autorin hat ihre Essstörung vor fünf Jahren überwunden. Die Stimme in ihrem Kopf aus dieser Zeit begleitet sie jedoch bis heute.

Inhaltshinweis: Detaillierte Beschreibung einer Essstörung

Sommer 2019. Ich bin mit meiner Familie mit dem Wohnwagen in Schweden unterwegs. Es sollten meine Traumferien werden. Ich wollte in der Natur abtauchen, loslassen, viele Waffeln mit Marmelade und Schlagrahm essen. Stattdessen zählt das Monster in meinem Kopf jedes Gramm.

«Waffeln? Sag mal, spinnst du?! Das ist total ungesund.»

Das Monster ist wütend.

«Du wirst dick, wenn du so weitermachst.»

Das Monster lacht hämisch.

«Wenn du heute wieder versagst mit dem Essen, isst du morgen als Strafe nur die Hälfte.»

Das Monster knurrt drohend.

Es nimmt jede Zelle meines Körpers ein. Dieses hässliche Geschöpf in meinem Kopf. Essen. Sport. Essen. Sport. Das sind meine einzigen Gedanken in diesen vier Wochen.

Jeden Morgen, wenn die anderen noch schlafen, schleiche ich mich aus dem Wohnwagen, mache draussen im Gras Sport-Übungen für einen flachen Bauch. Dass meine Menstruation seit drei Monaten aussetzt, ist mir egal. Hauptsache ich bin dünn.

Die grosse Angst vor dem Zunehmen

Heute weiss ich: Das Monster hat einen Namen. Es nennt sich Anorexie. Oder umgangssprachlich: Magersucht. Eine Essstörung, bei der Betroffene dauerhaft die Einnahme von kalorienhaltiger Nahrung einschränken. Dazu kommt eine starke Angst davor, zuzunehmen.

In der Schweiz sind 3.5 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens von einer Essstörung betroffen. Spezifisch an Magersucht erkranken 1.2 Prozent der Frauen und 0.2 Prozent der Männer. Häufig entwickelt sich eine Magersucht in der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter. Je früher eine Magersucht entdeckt und behandelt wird, desto höher sind die Heilungschancen.

Ich hatte Glück. Nur ein Jahr lang quartierte sich die Essstörung in meinem Kopf ein. Heute ist sie weg. Jedenfalls fast. Denn diese Stimme, die mir zuflüstert, was und wie viel ich essen soll, existiert immer noch. Dazu später mehr.

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«Ich war vierzehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal einer Magersüchtigen begegnete»

Ich war vierzehn Jahre alt und besuchte die zehnte Klasse am Gymnasium, als ich zum ersten Mal einer Magersüchtigen begegnete. Wir bekamen eine neue Mitschülerin, mit der ich mich direkt verstand und anfreundete. In den Mittagspausen fiel mir auf, wie wenig sie ass (meistens nur einen Apfel) und dabei auf jeden Bissen achtete. Es war ihre Obsession mit dem Essen, die ich später übernehmen würde.

In diesem Jahr starb meine Grossmutter und mich überbekam das Gefühl, die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Ich begann, mich an etwas zu klammern, das ich – im Gegensatz zum Lauf des Lebens – kontrollieren konnte: Mein Essverhalten. Meine Freundin war im falschen Moment zu meinem Vorbild geworden.

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«Einmal ass ich nur einen Viertel einer Gurke zum Mittagessen. Ich lobte mich selbst dafür»

Ich stellte Regeln auf und verinnerlichte sie. Die Abstände, in denen ich nichts ass, wurden immer grösser. Manchmal verbrachte ich zwanghaft fast acht Stunden ohne Essen – obwohl ich eindeutig Hunger hatte.

Die Lügen wurden mehr. Meiner Familie sagte ich fast jeden Abend, ich hätte am Nachmittag eine grosse Zwischenmahlzeit gegessen und deshalb gerade keinen Hunger. Die Essensportionen wurden immer kleiner. Einmal ass ich nur einen Viertel einer Gurke zum Mittagessen. Ich lobte mich selbst dafür. Und ohne es zu merken, waren die Regeln mein ständiger Begleiter geworden.

Die Realisation

Es war ein Tag im August im Jahr 2019, nachdem ich von den Ferien in Schweden zurückgekehrt war. Ich hatte geduscht, wollte das Handtuch holen und blieb beim Anblick im Spiegel erstarrt stehen.

Mir blickte ein Geist entgegen. Er besass einen Mädchenkörper. Dünn, viel zu dünn war er. Die Knochen standen am Becken ab. Die Augen wirkten gross im Vergleich zum Rest vom Gesicht. Der Körper zitterte. Und dann kam die Realisation: Das war ich. Und das, was ich sah, hatte ich mir selbst angetan.

Es war der Punkt, an dem ich wusste, dass es so nicht weitergeht. Und so gestand ich es eine Woche später meiner Familie. «Ich glaube, ich habe eine Essstörung», sagte ich. Und als die Worte endlich raus waren, wusste ich, dass es kein Zurück gab.

Radikale Akzeptanz als erster Schritt

«Eine Form von radikaler Akzeptanz ist der erste Schritt von der Bekämpfung einer Magersucht», sagt mir Regine Rust im Videogespräch. Sie ist die Geschäftsleiterin der Stiftung Suchthilfe und seit über zwanzig Jahren Psychotherapeutin im Themenbereich Essstörungen. Damit meint sie: Als Magersüchtige zu akzeptieren, dass man wieder essen muss, obwohl es gegen alle Impulse geht.

«Der anorektische Teil sagt: Essen ist Gift»

Regine Rust

«Der gesunde Teil von einer Person mit einer Essstörung weiss: Ich muss essen», sagt Rust. «Der anorektische Teil hingegen sagt: Essen ist Gift.» Wenn diese zwei Teile miteinander im Dialog stünden, würde der anorektische Teil sehr viel öfter gewinnen. Denn der Verzicht auf Essen gebe Essgestörten ein Gefühl der Kontrolle und Sicherheit.

Um das zu verhindern und die Magersucht zu bekämpfen, müsse man sich im ersten Schritt quasi selbst «Gift» zuführen, um an Gewicht zuzulegen. «Das ist das Gemeine», sagt Rust, «denn es fühlt sich zuerst an, als schade man sich selbst, bevor es einem dann besser geht.»

Ich spreche Regine Rust auf die Regeln an, die ich mir eingeprägt hatte und die mir vermeintliche Sicherheit gaben. Sie erzählt mir, dass Regeln und diese Art der Kontrolle unter Magersüchtigen sehr häufig verbreitet sind. Auch, dass es für Personen mit Essstörung oft «schlechte» und «gute» Lebensmittel gäbe. «Halten sie sich an die Regeln, essen sie nur die ‹guten› Lebensmittel, beruhigt sie das wahnsinnig», erzählt sie. Halten sie sich nicht daran, kämen die Katastrophengedanken, und diese fühlen sich an wie eine nicht auszuhaltende Bedrohung.

Das Ziel einer erfolgreichen Bekämpfung der Magersucht ist es, dass die Patient:innen erkennen, dass die Bedrohung nur in ihrem Kopf stattfindet. «In Wahrheit sind sie natürlich nicht bedroht, wenn sie mehr essen. Sie werden nicht daran sterben», sagt Rust, «aber die Ängste, die Scham und die Schuldgefühle, die nach dem Essen auftreten, sind sehr quälend.»

Ein langer Weg zurück

Scham und Schuld standen auch bei mir am Anfang meines Weges zurück in ein Leben ohne Essstörung. Kurz nachdem ich mich meinen Eltern gegenüber geöffnet hatte, brachte mich meine Mutter zur Ärztin. Ich musste auf die Waage stehen und schämte mich. Für die Zahl, die dastand. Für die mitleidigen Blicke der beiden. Ich hörte der Ärztin zu, die mir sagte, wie viel Kilo ich zunehmen musste, bis ich wieder in einem gesunden Bereich sei.

«Ich sah zu, wie die Zahl auf der Waage nach oben ging – und wie ich begann, wieder mehr zu lachen»

Von da an ging ich jede zweite Woche in die Arztpraxis und stellte mich auf die Waage. Ich begann, Youtuberinnen zu folgen, die den denselben Kampf gegen ihre Essstörung kämpften wie ich. Ihre Tipps halfen mir.

In einem Einmachglas sammelte ich zum Beispiel Zettel, auf die ich Anweisungen für mich selbst schrieb. Sie umzusetzen, war eine grosse Herausforderung. Auf den Zetteln stand: «Spät am Abend einen Snack essen». Oder: «Tee mit Milch und Zucker trinken». Oder: «Schokoladen-Cornflakes zum Frühstück essen». Jeden Tag zog ich einen. Und versuchte so, die Regeln zu brechen, die ich verinnerlicht hatte.

Es war anstrengend. Etwa wenn wir als Familie gemeinsam assen und alle Augen auf mir und meinem Teller lagen. Oft wäre es viel einfacher gewesen, aufzugeben. Aber ich wollte meine Familie nicht enttäuschen. Und so ass ich auf und sah zu, wie die Zahl auf der Waage nach oben ging – und wie ich begann, wieder mehr zu lachen. Ich realisierte, dass die Magersucht nicht nur meine Gedanken an sich gerissen hatte, sondern auch meine Lebensfreude.

Nun erwachte sie. Und das Leben war plötzlich strahlender. Ich begann, meine Liebe zum Essen wiederzuentdecken. Die Veränderungen an meinem Körper waren schwierig mitanzusehen, aber ich akzeptierte sie mit jedem Tag mehr. An dem Tag, an dem ich meine Menstruation wieder bekam, weinte ich vor Freude. Ich hatte mir mein Leben zurückgeholt.

Standpunkt heute

Dehnungsstreifen sind die einzigen sichtbaren Spuren von diesem Kampf, die heute noch zu sehen sind. Sie haben die Form von Wellen. Ich liebe sie. Sie sind das Zeichen für meinen Mut.

Die unsichtbaren Spuren sieht niemand. Ich werde sie wohl noch lange mit mir tragen. Es sind die Überbleibsel der Regeln, die ich selbst erschaffen habe. Eine Regel beinhaltete beispielsweise, nie zwei Mal Zucker an einem Tag zu essen. Es ist die hartnäckigste von allen.

«Aus heutiger Sicht bin ich erstaunt darüber, dass ich quasi allein von der Magersucht weggekommen bin»

Es gibt Tage, da kann ich allein dagegen ankämpfen. Aber oft bin ich auch froh um die Unterstützung, die mir mein Freund in diesen Momenten geben kann.

Eine solche Situation spielte sich vor wenigen Wochen ab, als ich mich mit ihm zum Abendessen traf. Es war ein Tag, an dem ich mehr auf mein Spiegelbild achtete als sonst. Als wir beschlossen, Donuts fürs Dessert zu kaufen, spürte ich, wie mich das nervös machte.

Wir setzten uns in ein thailändisches Restaurant und als der Kellner fragte, was wir trinken möchten, war ich perplex. Eigentlich hätte ich gerne einen Eistee gehabt, aber danach assen wir ja bereits Donuts … «Einen Eistee», sagte mein Freund. Und als ich, ohne zu überlegen, sagte: «Dasselbe für mich», bereute ich es sofort.

Mein Freund wusste direkt, was los war. Er kennt meinen Kopf gut. Mit seiner Unterstützung trank ich den Eistee und ass den Donut. Und kämpfte einmal mehr gegen die Regeln und die damit verbundene Bedrohung an.

Aus heutiger Sicht bin ich erstaunt darüber, dass ich quasi allein von der Magersucht weggekommen bin. Ich hatte keine psychologische Unterstützung, keine Vertrauensperson, der ich alles erzählte. Nach dem Gespräch mit Regine Rust wird dieses Gefühl noch deutlicher. In dieser knappen Stunde mit ihr fühle ich mich das erste Mal richtig verstanden und gehört. Ein absurdes, unreales Gefühl. Auch wenn ich von meiner eigenen Situation nicht allzu viel erzähle, scheint sie die Worte zu finden, die ich seit fünf Jahren suche.

Eine tief liegende Erinnerung

«Die Anorexie ist ein starres Korsett, das Sicherheit und Schutz gibt», erklärt Rust. Bei einer erfolgreichen Bekämpfung der Essstörung werde dieses Korsett überflüssig, da man innerlich genug gestärkt sei und sich diese Sicherheit, die sonst durchs restriktive Essverhalten hergeführt wird, selbst geben könne. «Ich habe oft von Klientinnen gehört, dass das Leben sich dann sehr frei anfühlt, wenn das passiert. Aber es ist ein Prozess, der lange dauert», sagt Rust.

«Es gibt eine ganz tiefe Erinnerung, dass die Essstörung etwas ist, das in einer schwierigen Situation eine vermeintliche Lösung war»

Regine Rust

«Kann man denn je vollständig von einer Magersucht geheilt sein?», frage ich sie. «Bei meinen Klientinnen erlebe ich, dass die Magersucht überwindbar ist. Aber aus meiner Erfahrung weiss ich auch, dass sie wie ein Virus ist, das nie ganz verschwindet. Ähnlich, wie wenn man als Kind Windpocken hatte», sagt Rust. Das Virus würde sich in die letzte Ecke der Wirbelsäule zurückziehen. Man kann davon ausgehen, dass man nie wieder erkrankt. Aber wenn alles zusammenkommt, wenn Lebensumstände Ängste und Einsamkeit auslösen, man viel Stress und Leistungsdruck spürt, kann das Virus wieder ausbrechen.

Auf die Essstörung übertragen heisst das: «Es gibt eine ganz tiefe Erinnerung, die Menschen mit Anorexie irgendwo haben, dass die Essstörung etwas ist, das in einer schwierigen Situation eine vermeintliche Lösung war.» Es war etwas, das Trost gegeben hat und sich nach einer Lösung anfühlte. Denn es war tröstlich, die Kontrolle zu haben und sich durch die Gewichtskontrolle kompetent zu fühlen.

Sobald man den Einfluss auf eine Situation verliert – beispielsweise eine Trennung durchlebt oder einem die Wohnung gekündigt wird –, sei die Rückfallgefahr hoch. Als Psychotherapeutin empfiehlt Regine Rust deshalb auch gerade ihren Patient:innen mit einer überwundenen Essstörung, möglichst lange in einer Therapie zu bleiben. «Wenn man wieder auf einem gesunden Gewicht ist, fängt die Arbeit an den tieferliegenden Ursachen erst an», sagt Rust.

Es sei sehr wichtig in dem Prozess, die eigenen Ängste kennenzulernen und auch zu verstehen, wie man in gewissen Situationen reagiert – zum Beispiel, wenn Leistung gefragt ist. Oder wenn man scheitert. «Scheitern ist oft nicht auf der Agenda vieler Anorektiker:innen. Und scheitern und danach weitermachen zu lernen, ist ein ganz wichtiger Punkt.» Ganz am Ende des Weges sei das Ziel, sich selbst annehmen zu können.

Es sei auch wichtig, zu lernen, auf kleine Veränderungen im Leben schnell reagieren zu können. Konkret bedeutet das, zum Beispiel bei erhöhtem Stress schnell einen Ausgleich zu suchen und nicht zu warten, bis einem die Situation über den Kopf wächst. Das Risiko, von den Ängsten und Gefühlen überwältigt zu werden, sei sehr hoch.

«Sollte der Gang auf die Waage wieder zur täglichen Routine und die Freude über immer weiter sitzende Hosen immer wichtiger werden, besteht dringender Handlungsbedarf», so Rust. Was dabei helfen kann, ist Unterstützung in Form von Beratungsangeboten oder geleiteten Selbsthilfeangeboten, um das eigene Essverhalten wieder frühestmöglich zu korrigieren.

Hinter Nebel und Tränenschleier

Bevor wir uns verabschieden, richtet sie das Wort noch einmal an mich: «Ich habe viel Respekt davor, dass Sie sich mit dem Thema auseinandersetzen. Und dass Sie die Krankheit überwunden haben. In meinem Job sage ich das sehr oft, deshalb weiss ich, dass die Patient:innen immer wieder vergessen, dass sie eine potenziell tödliche Krankheit überwunden haben und dass das eine grosse Leistung ist.» In meinen Augen bilden sich Tränen. Und zum ersten Mal verspüre ich sie, die Klarheit.

Das, was ich hier über meine Magersucht erzählt habe, ist so in etwa alles, was ich noch weiss. Viele Erinnerungen an diese Zeit sind schwammig, so als wären sie hinter einer Nebelwand verborgen. Eigentlich nicht verwunderlich, denn wenn im Kopf nur ein einziger Gedanke wieder und wieder abgespielt wird, bleibt nicht viel Raum für andere.

Mir ist wieder einmal klar geworden, dass Essstörungen kein Tabu-Thema sein sollten. Wahrscheinlich erzähle ich deshalb meine Geschichte. Weil ich weiss: Es ist eine von vielen. Und jede Geschichte zählt.

Hast du eine Essstörung, willst du mit jemandem reden oder kennst du Betroffene, die Hilfe benötigen?

Hier findest du eine Liste mit Selbsthilfegruppen zum Thema Essstörungen aus der ganzen Schweiz. Es kann helfen, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.
– Bei der Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES kannst du dich via Mail oder Telefon kostenlos beraten lassen. Auch vor Ort kann ein kostenloser Beratungstermin abgemacht werden.
– Für Kinder und Jugendliche: Telefon 147, auch per SMS, Chat, E-Mail oder im Internet unter 147.ch

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Annika Brohm

Der Text hat mich sehr berührt. Als (ehemals) Betroffene habe ich mich darin sehr wiedergefunden und verstanden gefühlt: die Scham, die Schuld, die übergroße Angst vor dem Zunehmen. Die Worte erinnern mich daran, dass es sich lohnt, gegen die Essstörung anzukämpfen. Immer wieder, wenn es sein muss. Danke an die Autorin für diesen wundervoll geschriebenen, ehrlichen und mutigen Artikel!