Damit Sie wissen, was Sie tun: Die ultimative Herausforderung für den modernen Mann. Wie kläre ich mein Kind auf?
Ich war neun, als ich mit Kugelschreiber eine Vagina in die Parkbank ritzte. Das dazugehörige «Susi will Sex» war noch nicht fertig gekritzelt, da erwischte mich eine Frau. «Weisst du überhaupt, was du da tust?», fragte sie. Nein. Die dicke Hose, auf die ich gemacht hatte, war nichts als warme Luft. Keiner wusste das so genau wie ich selbst. Ich grübelte noch eine Weile, bis ich mir aus vielen Quellen zusammenpuzzelte, was das ist, Sex. Und noch ein Weilchen länger, bis es so weit war, das erste Mal.
Das ist dreissig Jahre her. Ich habe heute selber einen Sohn. Nennen wir ihn Luis. Luis ist so alt wie ich damals. Neulich meinte er zu mir, ich solle mir mal die Zeigfinger in die Mundwinkel stecken und «Hühner picken auf der Strasse» sagen. Ich sagte: «Hühner f-f-ficken auf der Strasse.» Er lachte. Und ich fragte mich, ob es nicht an der Zeit wäre, ihn über ein paar Dinge aufzuklären.
Nun, im Grunde hätte ich mich beruhigt zurücklehnen können. Kinder finden sich da auch ohne Erwachsene zurecht, zumindest ohne uns Väter. Die Jugendlichen von heute sind, so geben sie bei Befragungen an, in der Schule aufgeklärt worden. Dazu tauschten sie sich mit Freunden aus – oder sie fragten Mami. Papi nicht. Sein Aufklärungsbeitrag liegt Studien zufolge bei weniger als fünf Prozent.
«Gesunde» Männervorbilder
Das väterliche Abseitsstehen in der Sexualerziehung scheint zudem – vordergründig zumindest – relativ unproblematisch zu sein; Kinder kommen nach wie vor auf die Welt, und die Zahl der Teenagerschwanger- schaften, gern als Indiz herangezogen, dass etwas schiefläuft in der Aufklärungsarbeit, ist fast nirgendwo so tief wie in der Schweiz.
Warum man Eltern, vor allem aber uns Väter trotzdem in die Pflicht nehmen sollte, hat vor allem einen Grund: Wenn es um Sexualität geht, waren glaubwürdige, im besten Sinn «gesunde» Männervorbilder noch nie so gefragt wie heute.
Heranwachsende müssen doch glauben, die männliche Sexualität sei per se zunächst einmal krankhaft: Kinderpornografie, Prostitution, sexuelle Gewalt – ist in den Medien von Sex die Rede, sind Männer in erster Linie Täter. Die Hysterie geht schon so weit, dass Fluggesellschaften in Australien das Gefahrengut Mann aus Sicherheitsgründen prinzipiell nicht mehr neben allein reisenden Kindern sitzen lassen. Im Sexuellen zeige sich die zweigeteilte Geschlechterordnung in aller Schärfe. «Hier die verletzliche, emotionale, schöpferische und runde Sexualität der Frau – da die kalte, mechanische, eindringende und damit potenziell grenzüberschreitende Sexualität des Mannes», schreiben der Sexualpädagoge Bruno Wermuth und der Psychologe Markus Theunert in ihrem lesenswerten Aufsatz «Grundlagen einer Sexualpolitik aus Männersicht». Gerade Buben können also dringend ein wenig väterlichen Support gebrauchen in der Entwicklung eines lebens- und liebesdienlicheren Rollenverständnisses als dem vom allzeit bereiten, triebgesteuerten Hengst. Männer, die ihren Sprösslingen subtilere Aspekte ihrer Sexualität vorleben als pubertäre Penislängenvergleiche und pornografischen Hochleistungssex.
«Warum ihn wecken, den schlafenden Hund?»
Nur, wo anfangen? Beim Storch? Der wurde längst vom Himmel geholt. Schon meine vierjährige Tochter weiss aus Bilderbüchern mit aufklärerischem Mehrwert, dass Babys bei Frauen zwischen den Beinen herauskommen.
Doch wo sie herauskommen, war noch nie die interessante Frage. Sondern: Wie kommen sie rein? Und da fängt das Problem an. Denn wann ist ein Kind reif für die erste Lektion in fortpflanzungstechnischer Werkzeug- und Funktionslehre – hier Schlüssel, da Loch?
«Wenn Lars das Schmusen mit Lisa schön findet, wird sein Penis grösser und fester» steht in «Mein erstes Aufklärungsbuch», empfohlen für Kinder ab fünf Jahren. Mein Sohn ist neun, aber wird sein Penis grösser und fester, denkt er nur an das eine: Es ist Morgen, vermutlich sollte ich mal pinkeln. Und warum ihn wecken, den schlafenden Hund? Nur das Kind, das weiss, wofür das Feuerzeug gut ist und wie es funktioniert, kann damit auch etwas in Brand stecken …
Nun, laut Experten ist es bei der Sexualaufklärung genau andersrum. Weltweit zeigten alle Studien, sagt die dänische Neuropsychologin und Sexologin Ann-Marlene Henning: Je früher mit der Aufklärung angefangen werde, desto später finde das erste Mal statt. Aufklärung habe insofern eine präventive Wirkung. Und so lernen wir Eltern, dass die Sexualerziehung bereits nach der Geburt beginnt. Dass Kinder vom ersten Tag an sexuelle Wesen sind. Also lassen wir unsere Töchter ihr Müscheli erforschen und dem Sohnemann sein Penis-Origami, obwohl es die Oma «tschuderet» ob all dem Gezupfe und Gefalte. Und legt sich ein paar Jahre später der kleine Luis zur kleinen Linda vom Nachbarhaus nackt ins Bett, versuchen wir nicht zu viel aus unserer Erwachsenenperspektive in dieses Spiel hineinzuinterpretieren. Denn auch das Dökterle ist eine Form von Sexualität, aber eine kindliche, unverdorbene.
Dennoch, und obwohl wir wissen, dass die Grossen bei diesen Erkundungstouren nichts zu suchen haben, riskieren wir – wenn es gar lange ruhig war im Zimmer – einen kurzen Kontrollblick. Und abends dann, wenn das letzte «I ghöre es Glöggli» verstummt ist, geben wir den Kleinen nochmals die wichtigsten Regeln des Doktorspiels durch: Spitzige Gegenstände sind tabu – und vor allem: Jedes Nein ist zu respektieren. Mit dem Ergebnis, dass es allen ein wenig peinlich ist – und schon zweifeln wir wieder, ob es richtig war, sich überhaupt eingemischt zu haben. War ja eh alles «Scho klar, Papi!».
So natürlich wie möglich
Was bleibt, ist die Unsicherheit. Crèmt Papi seiner Tochter die Scheide ein, fühlt sich das irgendwie falsch an. Lässt sich die Vorhaut des Sohnes nicht zurückziehen, holt Mami lieber den Papi. Wie aber soll man seinen Kindern ein unverkrampftes Verhältnis zu ihren Geschlechtsteilen vermitteln, wenn schon Mami und Papi bei Berührung zurückschrecken? Dabei wäre die Grenze doch einfach zu ziehen: Alle Körperkontakte, die einem Bedürfnis des Kindes entsprechen, sind erlaubt. Was dem eigenen Lustgewinn oder der eigenen sexuellen Erregung dient, ist verboten. So formuliert es die Stiftung Kinderschutz.
Wieder also sind wir Eltern ehrlich bemüht, das Ganze so natürlich wie möglich anzugehen.
Im Gegenzug jedoch verbieten uns die Behörden, unsere Kinder nackt im Freibad herumrennen zu lassen – angeblich aus Hygienegründen, in Wahrheit aber wohl eher aus Furcht vor dem ominösen bösen Mann hinter dem Busch, vor dem man uns ringsum warnt. Und so trichtern dann also auch wir schon den Kleinsten ein, dass sie nie, wirklich nie, mit Fremden mitgehen dürfen, selbst wenn süsse Hundewelpen locken. Auch das ist Sexualerziehung. Aber eben: Bei sexueller Gewalt an Kindern stammen die meisten Täter aus dem sozialen Umfeld des Kindes. In über der Hälfte der Fälle sind sie sogar Familienangehörige. Man kennt sich also. Das macht die Sache diffizil. Einerseits will man seine gutgläubige Tochter schützen, andererseits soll sie nicht gleich panisch werden, wenn ihr der Quartiermetzger ein Wurstredli reicht.
Insgeheim schon alles gesehen
Unvermittelt, und viel früher als erwartet, passiert dann etwas ganz anderes: Die Kinder werden geschlechtsreif, und man erwischt sie knutschend unter der Linde um die Ecke. Noch im 19. Jahrhundert bekamen Mädchen die erste Blutung zwischen 15 und 17. Heute mit etwa 12. Auch Buben sind zunehmend Frühzünder. Kamen sie einst mit 17 in den Stimmbruch, ist es jetzt oft mit 15 Jahren schon so weit. Von der Zahnprophylaxe auf direktem Weg in die Aids- prävention; da muss man erst einmal Schritt halten.
Und während wir Erziehungsberechtigten uns noch den Kopf darüber zerbrechen, wie wir unsere Kinder schadlos in die Darkrooms des menschlichen Paarungsverhaltens einführen könnten, haben die insgeheim schon alles gesehen. Je nach Studie haben sechzig bis über neunzig Prozent der 11- bis 13-jährigen Buben in der Schweiz bereits Pornos angeschaut und knapp die Hälfte ihrer weiblichen Gspänli. Wohlgemerkt: in einem Alter, wo man hierzulande darüber streitet, ob da den Kindern schon Plüschvaginas zugemutet werden dürfen im schulischen Sexualunterricht. Auf www.youporn.com – Zugang ohne jede Altersschranke! – gibts kein Plüsch, dafür «take off panties and let me fuck your virgin ass», 8.34 Minuten lang Hardcoresex, innerhalb der letzten Monate 649 145 Mal aufgerufen.
Kommt hinzu: Teenager mögen zwar die bizarrsten Spielformen von Sexualität gesehen haben, lange bevor sie überhaupt jemanden küssen. Doch was all das mit ihnen und ihrem vermutlich wenig glamourösen ersten Mal zu tun hat, wissen die wenigsten. Sogar die Jugendlichen selber klagen bei entsprechenden Befragungen, dass sie von den Erwachsenen aus ihrem Umfeld gern mehr erfahren würden über sexuelle Praktiken, Selbstbefriedigung, Pornografie, aber auch Liebe und Zärtlichkeit. Und dass sie sich insgesamt weniger moralgesteuerte Sexual- und Gesundheitserziehung, dafür mehr ehrliche Information und Anteilnahme wünschten. Doch just da, wo es aus Sicht der jungen Erwachsenen spannend würde, kneifen heute Lehrer und Bildungspolitiker gern – mal aus Scham, mal aus falsch verstandenem Jugendschutz.
Die Schule als Aufklärungs-Institution?
Besserung ist leider nicht in Sicht. Im Gegenteil. Mittlerweile frage ich mich sogar grundsätzlich, ob die Schule in ihrem so mühseligen wie widersinnigen Streben nach einer Idée suisse der Sexualaufklärung überhaupt noch die Institution sein kann, ja, sein soll, die meine Kinder dereinst über die brennenden Fragen der Zeit aufklärt. Fragen, die weit über das Vermitteln von biologischen Primärkenntnissen hinausgehen.
Nehmen wir die aktuelle Debatte rund um den Lehrplan 21. Noch immer ringen die 21 am Lehrplan beteiligten Kantone im stillen Kämmerlein um einen gemeinsamen Fahrplan, was den obligatorischen «sexualkundlichen Unterricht» ab der 5. Klasse betrifft. Die Schweiz ist zwar klein, aber zwischen den unterschiedlichen Moralvorstellungen liegen Welten. Hier die «Prüden», dort die «Verdorbenen» – und mittendrin die Schule, die verzweifelt um einen moralischen Minimalkonsens ringt. Man muss befürchten: Der gemeinsame Nenner, wenn er denn Mitte Jahr endlich gefunden ist und der Lehrplan in die Vernehmlassung gegeben wird, dürfte so klein und harmlos ausfallen, dass die Jugendlichen ihren Wissensdurst auch in Zukunft wohl im Internet stillen müssen.
Während sich gewisse Eltern zum Beispiel bereits über Hotpants aufregen und staatlich verordnete Aufklärung a priori für Teufelszeug halten, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass meinem Sohn im Rahmen der schulischen Sexualerziehung – im Idealfall von externen Fachleuten – ein «guter Sexfilm» gezeigt würde; explizit in der Darstellung, aber ehrlich und ohne diese irren Pornoklischees. Eine Idee, die bereits am geltenden Recht scheitert. Eltern, Erziehungs- und Bildungsverantwortlichen ist es gemäss Artikel 197 im Strafgesetzbuch verboten, unter 16-Jährigen explizite Darstellungen von sexuellen Handlungen zu zeigen, egal in welchem Kontext. Bei Zuwiderhandlung drohen Geld- oder gar Gefängnisstrafen.
Zu peinlich Papi-mässig
Wenn «Star Wars» im Fernsehen gezeigt wird, soll ich mich als Vater oder Mutter dazusetzen, um meinem Kind beim Einordnen des Gesehenen beizu- stehen. Will ich meinem 15-Jährigen aber, der ja gerade staatlichen Umfragen zufolge schon zig Pornos geschaut haben dürfte, quasi am realen Beispiel vor Augen führen, wie realitätsfern dieses Pornogerammle ist, werde ich dafür bestraft. Ist doch absurd, oder? Im «Grundsatzpapier zum Themenkreis Sexualität und Lehrplan 21» steht dafür: «Zu thematisieren sind auch Werte und Normen im Zusammenleben der Menschen allgemein und speziell in Bezug auf das Verhältnis der Geschlechter wie die Übernahme von Verantwortung für sich und andere, die Gleichberechtigung der Geschlechter, Bedeutung der Familie für den Einzelnen und die Gesellschaft und Respekt für unterschiedliche Formen des Zusammenlebens.» Das klingt, wohl nicht nur in meinen Ohren, nicht besonders sexy.
Ich habe mir deshalb schon mal das neue und viel gelobte Aufklärungsbuch «Make Love» gekauft. Darin werden nicht nur alle relevanten Themen offen und jugendnah behandelt, sondern auch manche Pornolügen entlarvt. Die darin gezeigten Bilder sind zwar explizit, aber nicht voyeuristisch. Und vor allem zeigen sie jugendliche Paare, die tatsächlich Paare sind. Vielleicht werde ich es mal irgendwo in der Wohnung herumliegen lassen. Denn das Buch dem Sohn aufs Nachttischchen zu legen, fände wohl nicht nur ich, sondern vor allem er dann doch zu peinlich Papi-mässig.
Torinstinkt in der Hose
Und es wäre wohl auch kontraproduktiv. Denn ganz entgegen dem medialen Hype raten die meisten Experten auch in der Sexualerziehung grundsätzlich zur Gelassenheit. Eltern sollen ihre Kinder und deren Gefühle ernst nehmen, ihnen bei Fragen beistehen, aber sie nicht unnötig quälen und bedrängen mit Debatten über Vaginalringe, Pornoklischees, Pillenpackungen und Kondome.
Nun, mein Sohn und ich stehen ohnehin noch in Kapitel 1.2 der Aufklärungsarbeit. Da sieht Gelassenheit so aus: Als mein Sohn neulich in aller Öffentlichkeit lauthals «mein Schwanz» sagte, entwickelte sich daraus ein schmutzig-schönes Gespräch unter Männern über Geschlechtsteile, über die verschiedenen Worte, die es dafür gibt, und wie sie wirken. Mit der väterlich vermittelten Quintessenz: Sohn darf seinem Penis sagen, wie er möchte. «Also nenne ich ihn Marco Reus», entschied er.
Marco Reus, dachte ich, Deutschlands Fussballer des Jahres 2012; mit so viel Torinstinkt in der Hose kann eigentlich nichts schiefgehen im Leben. Jedenfalls nichts, was nicht auch sonst schiefgehen könnte. Aber das sagte ich nicht. Ich meinte nur: «Marco Reus ist okay.»