Body & Soul
Wie ist es eigentlich, der Cousin von Anne Frank zu sein?
- Aufgezeichnet von Regula RosenthalFoto: Getty Images
Ich bin Anne Franks Cousin und der letzte Überlebende der Familie. Anne und ich fühlten uns innig verbunden, so wie Seelenverwandte. Ich vermisse sie sehr. Ich kann mich noch gut an unsere erste Begegnung erinnern. Sie war noch ein Baby und wohnte damals in Frankfurt. Mein Bruder und ich haben Anne im Kinderwagen spazieren gefahren, und da passierte uns ein Missgeschick: Die kleine Anne fiel aus dem Wagen. Wir hatten ein schlechtes Gewissen und erzählten zuhause niemandem etwas. Glücklicherweise hat sie sich nicht verletzt, und niemand bemerkte etwas.
Anne, die eigentlich Annelies Marie hiess, aber von allen Anne genannt wurde, hat uns mehrmals in Basel besucht. Sie wohnte bei uns, aber auch in Sils-Maria, wo wir die Sommerferien in einem Haus von Verwandten verbrachten. Anne hat in ihrem Tagebuch Sils-Maria zweimal erwähnt. Es hat ihr in der Schweiz sehr gut gefallen. Sie erwähnte in ihrem berühmt gewordenen Tagebuch, das sie in ihrem Amsterdamer Versteck geschrieben hatte, die Hoffnung zu überleben. Sie schmiedete Pläne für die Zeit nach der Befreiung von den Nazis. Sie träumte davon, in die Schweiz zu kommen.
Mich hat sie immer bewundert. Sie mochte es, wenn ich schauspielerte. Eines Tages wünschte sie sich, dass ich mich verkleide. Ich sollte die Grossmutter imitieren. Erst war es mir peinlich, doch Anne erhielt immer, was sie wollte. Also nahm ich zögerlich ein schwarzes Kleid aus ihrem Kleiderschrank, Grossmutter Alice trug immer Schwarz. Ich zog das Kleid über mein Hemd und die Hose, stopfte zwei kleine Sofakissen in den Spitzenausschnitt. Anne kicherte vor Begeisterung. Danach platzierte ich den Hut mit einem Blumenbouquet auf den Kopf. Die Schuhe, die viel zu gross waren, stopfte ich vorn mit Taschentüchern aus. Meine Cousine hat schallend gelacht – bis das Zimmermädchen kam und uns schmunzelnd zusah. Danach habe ich mit Gesten meine Grossmutter imitiert. Langsam gefiel mir das Spiel. Ich habe Anne den Arm gereicht wie ein Erwachsener. Anne küsste meine Hand schmatzend, und so haben wir uns dem Rest der Familie präsentiert. «Und was machen wir jetzt?», fragte ich Anne. «Wir spielen Verstecken.» Ich schlug eine Regel vor, um es spannender zu machen. Wer den Versteckten nicht findet, muss eine Strafe bezahlen, etwa das Dessert abgeben. Anne konnte sich viel besser verstecken als ich, sie war raffiniert. So kam es, dass ich ihr als Verlierer die Glace überlassen musste. Meine vier Jahre jüngere Cousine hat ihren Coupe sofort leer gegessen, das kleine Schleckmaul, dann den Becher mir zugeschoben. Ich gab ihr das Dessert seufzend.
Anne war kein Wunderkind. Sie war ein ganz normales Mädchen, wissbegierig, unkompliziert und voller Fantasie. Sie hat von Filmstars und dem Theater geschwärmt. Sie hatte gehofft, ich würde einmal als Schauspieler berühmt. Aber weltberühmt wurde sie. Über 55 Millionen Menschen haben ihr Tagebuch gelesen, das in achtzig Sprachen übersetzt wurde. Die erste Auflage kam 1947, nach dem Zweiten Weltkrieg, auf den Markt. Otto Frank, ihr Vater, brachte es heraus. Glücklicherweise wurden ihre Notizen aus dem Versteck der Familie Frank in Amsterdam unbeschädigt gefunden. Anne hat es nicht mehr erlebt. Sie und ihre Schwester Margot starben 1945 an Erschöpfung im Konzentrationslager von Bergen-Belsen, wo sie an Typhus erkrankt waren. Anne hat immer gern geschrieben, am liebsten wäre sie Journalistin oder Schriftstellerin geworden. Ich wurde oft in bösen Briefen angefeindet. Erst kürzlich nahm ich in Basel an einem Prozess gegen einen Holocaustleugner teil, der behauptet, das Tagebuch der Anne Frank sei erfunden. Irgendwie scheint ihr Tagebuch für solche Leute ein Störfaktor zu sein. Es macht mich wütend und traurig, dass es Menschen gibt, die die Nazi-Gräuel leugnen, aber ich bin es bereits gewohnt. Ich erfahre aber auch sehr viel Positives im Zusammenhang mit dem Tagebuch von Anne. Ich bin Präsident des Anne-Frank-Fonds, der die Autorenrechte verwaltet. Aus dem Erlös des Buchs und von Theater- und Filmvorführungen unterstützen wir Friedensprojekte, Kinderhilfe und völkerverbindende Projekte, auch solche in Israel, aber nur, wenn palästinensische Organisationen beteiligt sind. Ich habe noch einige Erinnerungsstücke von Anne. Darunter ist ein Brief, den sie mir zum Geburtstag geschickt hatte. Hie und da nehme ich ihn hervor und lese ihn. So bin ich Anne stets nah. Es gibt auch eine Rose, die nach ihr benannt ist. Sie gedeiht auch in meinem Garten sehr gut.
Buddy Elias (85), Schauspieler, Basel