Einfach war es nie mit der Liebe. Heute aber scheint sie unserer Autorin Helene Aecherli verwirrender als je zuvor. Vielleicht, weil sie ist, was sie immer war: ein Geheimnis.
Ich war sechs Jahre alt, ging in den Kindergarten und war verliebt in Lorenz. Er hatte Sommersprossen und widerspenstiges Haar, das ihm um die Ohren wehte, wenn er mich in der Pause über den Chindsgihof jagte. Wir spielten Rössli und Reiter, das heisst, ich war das widerspenstige Pferdli, er der Reiter, der es einfangen musste. Eines Tages spürte ich, dass etwas zwischen uns anders war. Wir konnten die Pause jeweils kaum erwarten. Und waren wir zurück im Chindsgi-Stübli, sassen wir entrückt grinsend nebeneinander. An Lorenz’ Seite fühlte ich mich wie auf einem goldenen Gummifloss, das mich über all die ruppigen Stromschnellen des Alltags tragen würde. Ich ahnte: Das muss Liebe sein.
Diese Kindergartenromanze bescherte mir einen der reinsten Momente in Sachen Liebe. Ich war, er war, wir waren. Das wars, mehr brauchte es nicht. Danach wurde es komplizierter: Mit 15 verliebte ich mich in meinen Klassenkameraden Stefan, genannt «Stiif». Er fand mich auch läss und fuhr mich als Zeichen seiner Zuneigung auf seinem frisierten Töffli nachhause, wenn mein Puch Maxi S streikte. Bei der erstbesten Gelegenheit wechselte er dann aber zu Sändy, die ein cooleres Töffli hatte und ohne Helm fuhr.
Anfang dreissig begegnete ich Michael und sah in ihm meine ganz grosse Liebe. Wir verbrachten zehn Jahre miteinander, bis er sich mithilfe einer Affäre durch die Hintertüre verzog, weil ihm bewusst geworden war, dass er sich doch nicht binden und mich schon gar nicht befruchten wollte, worauf ich einen Apfelschäler nach ihm warf und unsere gemeinsame Wohnung im Speckgürtel Zürichs bei Nacht und Nebel verliess.
Lars, so hiess meine jüngste Liebe. Nach vielen leidenschaftlichen Monaten, unzähligen Kuss-Selfies und ebenso vielen Whatsapp-Nachrichten («Wie gerne würde ich jetzt in deinen Armen liegen» – «Nur, dass du es weisst: Dein Arsch ist fantastisch») erkannte er auf einmal, dass er sich auf einer emotionalen Achterbahn befand, «in einem Auf-und-Ab-der-Gefühle», das er in dieser Wucht seit seiner Scheidung nicht mehr erlebt hatte. Dies offenbarte er mir an einem Freitagabend um halb sechs. Wir sassen auf meinem Sofa, tranken Tee, er lehnte sich vor, seine Lider flatterten wie sterbende Falter. «I think I love you like a friend», stiess er hervor. In diesem Moment war es, als würde meine ganze Energie aus meinem Körper strömen und sich wie eine wabernde Brühe über Sofa und Teppich ausbreiten. «Verstehe», sagte ich nur. «Okay. Aber du musst gehen. Jetzt!» Lars nickte, stand auf, packte seine Sachen so schnell, wie ich noch nie zuvor einen Mann habe packen sehen, und verschwand. «Stiif» knackste mein fragiles jugendliches Selbstbewusstsein an – schlimm, aber gehört zur Adoleszenz. Michael stürzte mich in eine existenzielle Krise – ein Drama, aber durchschaubar: Ich wollte Kinder, er keine. Lars’ unvermittelte 180-Grad-Kehrtwende hingegen versetzte mich jetzt, im Alter von 52 Jahren, in ein nie erlebtes, fassungsloses Staunen: What the fuck war da bloss geschehen? Was habe ich falsch gemacht? War ich zu vorlaut gewesen? Zu überschwänglich? Zu dominant? Zu «So wärs nun mit mir im Alltag, Schätzchen»?
Doch all diese Fragen waren müssig. Und so argumentierte ich mich schliesslich aus der narzisstischen Kränkung heraus, indem ich mir einredete, nun zumindest um eine weitere Liebesanekdote reicher geworden zu sein. Eine Anekdote, immerhin, die sich sehr viel besser erzählen liesse, als die Szenen des gemeinsamen Gurrens vor dem Cheminéefeuer (es sei denn, ich wagte mich an Poesie heran – oder an einen Porno). Und doch musste ich mir letztlich eingestehen, nun endgültig im Pool der Ratlosen gelandet zu sein, die im hüfttiefen Wasser herumwaten und vor sich hinmurmeln: Wie ging das schon wieder mit der Liebe?
Je länger ich mich mit dieser Frage beschäftige, desto klarer wird mir: Ich habe keine Ahnung. Hatte ich mit sechs noch eine Vision von Liebe, genauer gesagt, von der romantischen, partnerschaftlichen Liebe, so orte ich heute nur noch eine Art Grundverwirrtheit. Vielleicht ist es nun tatsächlich so weit, dass ich sagen muss: «Jäh nu, je älter man wird, desto schwerer wiegt halt der Rucksack, den man mit sich schleppt, da wirds auch mit der Liebe komplizierter.» Das hört sich bullshitmässig banal an, ich weiss, aber womöglich ist das mit dem Rucksack gar nicht mal so daneben. Nicht, dass mir dessen Gewicht vorzeitig einen Damenbart wachsen lassen hätte. Nein, mehr in dem Sinne, als dass ich erkenne, dass ich mein Leben nicht mehr an eine Liebesgeschichte anpassen will, sondern mir eine Liebesgeschichte wünsche, die sich meinem mittlerweile eigentlich recht ausgefüllten – und ja, auch ziemlich erfüllten – Leben anpasst. Das heisst, ein Partner kann sein, muss aber nicht.
Nun wäre dies im Grunde eine Anspruchshaltung, die für alle Beteiligten herrlich entspannt sein könnte. Stattdessen lässt sie Männer offensichtlich grosse Bogen um mich schlagen – was nüchtern betrachtet natürlich völlig nachvollziehbar ist, denn wer möchte schon einfach ein Komplementärfaktor im Leben einer Frau sein, sozusagen Evas zusätzliche Rippe? Darüber hinaus verstösst gerade diese «im-Prinzip-bin-ich-mirselbst- genug»-Attitude gegen die stetig gewachsene gesellschaftliche Vorstellung, die Liebe sei die Krönung der individuellen Existenz.
Vor Kurzem traf ich einen alten Studienkollegen zum Dinner, der diese These untermauerte, ohne es zu ahnen. Noch bevor wir die Löffel in unsere Curries tauchen konnten, erklärte er mir, wie verwunderlich er es fände, dass eine Frau wie ich ohne Partner lebt, ja nicht einmal verheiratet gewesen sei. Welch ungenutztes Liebespotenzial, seufzte er, welche Verschwendung der Biologie! Ich hätte ihm das Curry ins Gesicht schütten können, entgegnete aber stoisch, dass ich mich keineswegs als Nichtliebende empfände, im Gegenteil, dass ich mein Liebespotenzial rege zu nutzen wisse. Und ich erzählte ihm von der Liebe zu meiner Familie, ganz besonders zu meiner Nichte, von meiner Liebe zu Freunden und Kolleginnen, zu den Menschen im Jemen, denen ich seit Jahren verbunden bin, und von meiner Liebe zu meinem Beruf. Er nickte verständnisvoll, murmelte etwas von «Natürlich, die Frauen sind heute unabhängig und brauchen keinen Mann mehr, um zu überleben», hielt jedoch an seinem Punkt fest: Die Absenz einer romantischen Verbindung ist ein bedauernswertes Manko. Und mit dieser Haltung, wir wissen es, steht er keineswegs alleine da. Aber es ist ein Anspruch an die Liebe, der mich erstarren lässt. Und nicht nur mich.
«Die Liebe hat heute eine Validierungsfunktion, die sie zuvor nie hatte», bringt es die israelische Soziologin Eva Illouz auf den Punkt, die spätestens seit ihrem Buch «Warum Liebe weh tut» in Sachen Herzensangelegenheit als «Cheftheoretikerin» gilt, wie es die «Süddeutsche Zeitung» einmal formuliert hat. «Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der wir unablässig bewertet, beurteilt und benotet werden – als Schüler, Studentinnen, Unternehmer, als Künstler oder Sportlerinnen. Von der Liebe erhoffen wir uns, dass sie uns über diesen konstanten Wettbewerb hinaushebt und uns zu Gewinnern macht – was bedeutet, dass wir die Verantwortung für unseren Selbstwert an die Liebe übertragen haben.»
Diese Validierungsfunktion hat sonderbare Blüten getrieben. Sonderbar insofern, wenn auch marktwirtschaftlich völlig naheliegend, als dass sie die Sehnsucht nach Liebe zu einem Konsumgut gemacht hat, zu einem Rohstoff, der sich noch besser ausbeuten lässt, seit man ihn in Algorithmen übersetzen kann. Dies bestätigt ein Blick auf die Riesen der Branche: Parship, eine der bekanntesten Onlinedating-Plattformen im deutschsprachigen Raum, verzeichnet allein in der Schweiz 500 000 registrierte Mitglieder, der Gesamtumsatz beläuft sich auf etwa 125 Millionen Euro. Jener von Tinder, der grössten kommerziellen Mobile-Dating-App, soll sich 2018 auf 800 Millionen Dollar verdoppelt haben, die Zahl der User liegt derzeit weltweit bei über 50 Millionen. Selbst habe ich mich zwar von jeglichen Dating-Plattformen verabschiedet, da ich im Gegensatz zu Freundinnen, die wahre Prachtskerle aus dem Netz gefischt haben, bloss Nerds an den Angelhaken bekam.
Seither beobachte ich nur noch und stelle fest, wie die Algorithmisierung der Liebessehnsucht eine Explosion der Möglichkeiten generiert hat, die so euphorisierend ist wie furchteinflössend. War das Angebot an valablen Liebeskandidaten einst verhältnismässig übersichtlich, verheisst heute jeder Wisch und jeder Klick neue, noch vielversprechendere Optionen. Angesichts dessen wirkt der Wunsch nach Verbindlichkeit so anachron wie Grossmutters Mottenpulver. Der Preis, den man dafür bezahlt, heisst Fomo, das «Fear of Missing out»-Syndrom, und bezeichnet die Angst, etwas zu verpassen. Denn wie kann man es wagen, sich auf einen Menschen festzulegen, wenn derjenige, der vielleicht noch perfekter zu einem passt, nur einen Klick entfernt ist?
Die Psychotherapeutin und Bestsellerautorin Esther Perel nennt ihn The One; den Seelenverwandten, von dem wir glauben, er sei alles für uns und wir alles für ihn. «Er ist die Person, für die wir bereit sind, alle Apps dieser Welt zu löschen.» The One ist nicht mehr bloss Ernährer, Partner, Beschützer und im besten Fall noch Vater – oder Mutter – der gemeinsamen Kinder, sondern auch der beste Freund, mit dem wir nicht nur die tollsten Gespräche führen, die grössten Abenteuer erleben, sondern auch den leidenschaftlichsten Sex haben. Im Grunde haben wir, so lautet Esther Perels Fazit, die Liebesbeziehung zur Utopie erklärt: «Was wir heute von einem einzelnen Menschen erwarten, erwarteten wir einst von einer ganzen Dorfgemeinschaft.»
Eine ganze Dorfgemeinschaft? Wie anstrengend. Vielleicht ist es einfach an der Zeit, der Liebe nicht mehr so viel Beachtung zu schenken. Den ganzen süssklebrigen Ballast abzuwerfen, um selber frei zu werden und der Liebe im Gegenzug den nötigen Raum zu geben, um einzutreffen. Oder auch nicht. Denn Liebe bleibt letztlich das, was sie schon immer war: eine Glückssache – und ein Rätsel, so geheimnisvoll wie tückisch. Vor ein paar Wochen begegnete ich einem Mann: liebevoll, empathisch, interessiert. «Ein Lotto-Sechser!», frohlockte mein Umfeld und schwenkte imaginäre Hochzeitssträusse. Doch will ich wirklich Raum für ihn freischaufeln? Ist er jemand, der zu mir passt? Ach, nur schon diese Fragen verraten mir, dass ich ihm werde gestehen müssen: «I just love you like a friend.» Fuck.
«Wie geht Liebe?» ist auch das Thema der nächsten annabelle Soirée vom 9. Mai in Zürich.
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