Familie
Wie eine erwachsene Beziehung zu den Eltern gelingen kann
- Text: Melanie Biedermann
- Bild: Stocksy
Psychologin Anne Otto hat ein Buch darüber geschrieben, warum erwachsene Kinder mit den eigenen Eltern straucheln – und wie es künftig besser laufen könnte.
annabelle: Frau Otto, Ihr Buch trägt den Titel «Für immer Kind? Wie unsere Beziehung zu den Eltern erwachsen wird». Warum brauchen wir eine Anleitung im Umgang mit unseren Eltern?
Anne Otto: Weil verschiedene Lebensphasen uns ganz unterschiedlich prägen und unsere Beziehungen verändern. Das betrifft die Beziehungen zu unseren Eltern, zu den eigenen Kindern, aber auch etwa Freund:innenschaften. Ich selber spürte das besonders stark in der Phase, als alle schwanger wurden. Eine befreundete Therapeutin sagte mir damals: «Du, in fünf Jahren haben all deine Freund:innen Kinder.» Ich dachte, sie übertreibt, aber genauso wars.
Ein Klassiker.
Ja. Und alle Freund:innen, die keine Kinder kriegten, mussten einen Umgang damit finden, dass die anderen sich jetzt für eine Familie entschieden haben – was die Freund:innenschaften oftmals auch verändert. Im Buch geht es um den Umgang mit solchen Umbrüchen. Ich wünsche mir mehr Voraussicht bei diesen Themen, dass wir uns frühzeitig damit auseinandersetzen – bevor es uns womöglich ganz unvermittelt trifft.
Gibt es denn konkrete Phasen, auf die wir uns vorbereiten können?
Früher dachte man, es gibt Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Alter. Heute ist ein Bedürfnis da, diese Phasen noch weiter aufzuteilen. In der Entwicklungspsychologie geht man seit einigen Jahrzehnten davon aus, dass jede Phase bestimmte Fragen birgt, sogenannte Entwicklungsaufgaben, in denen man bestimmte Dinge im Leben verwirklicht.
Zum Beispiel?
Etwa im jungen Erwachsenenalter eine Partner:innenschaft oder einen Beruf zu finden. Oder sich im ganz späten Alter damit auseinanderzusetzen, dass man sterben wird.
Was passiert, wenn man das nicht tut?
Es ist natürlich nicht so, dass irgendwann eine Glocke ertönt, die Chance vorbei ist und man etwas falsch oder richtig gemacht hat. Aber wer sich bewusst mit den Themen der jeweiligen Lebensphase auseinandersetzt, kann besser planen und eine eigene Haltung finden.
Im Buch schreiben Sie, man müsse dazu bereit sein, seine Eltern zu enttäuschen. Inwiefern ist das wichtig für die gemeinsame Beziehung?
Ich glaube, das ist ein guter Selbsttest für die eigene Unabhängigkeit. Es gibt Menschen, die sich mit 60 noch nicht vorstellen können, ihre Eltern zu enttäuschen. Wenn man eigene Fehler eingestehen kann, auch den Eltern gegenüber, ist das oft auch ein Zeichen dafür, dass man erwachsener und unabhängiger geworden ist.
Was passiert da genau?
Man beginnt, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Im Grunde ist das die Fähigkeit, sein Gegenüber als Mensch mit vielen verschiedenen Eigenschaften zu sehen und eben nicht nur in der Rolle des Elternteils oder des Kindes. Diese Wahrnehmungserweiterung verändert, wie wir miteinander umgehen.
Es gibt auch das andere Extrem: Im Buch nennen Sie etwa das Beispiel von Autorin und Podcasterin Charlotte Roche, die sich entschloss, den Kontakt zu ihren Eltern komplett abzubrechen.
Für so einen Kontaktabbruch gibt es normalerweise eklatante Gründe. Die Psychotherapeutin Claudia Haarmann ist auf solche Familiengeschichten spezialisiert und betont immer wieder: Es müssen nicht die ganz schlimmen, klassischen Traumata passiert sein, aber es geht immer in die Richtung «Ich kann nicht so sein, wie ich bin» oder «Es geht nicht um mich, ich erfülle für meine Eltern nur eine Funktion.» Ich verurteile einen Kontaktabbruch nicht – wer so weit geht, hat gute Gründe. Oft kann man sich aber auch von den Eltern emanzipieren, indem man etwa lernt, die eigene Position zu vertreten.
Lernen, die eigenen Eltern zu enttäuschen.
Genau. Ich glaube ja tatsächlich, dass unser Autonomierungsprozess schon sehr früh beginnt, womöglich schon in der kindlichen Trotzphase.
Echt, so früh?
Ich kann das nicht mit Studien belegen, aber ja, ich glaube schon. Wenn Kinder mit zwei bis drei Jahren beginnen zu trotzen, müssen sich die Eltern ja auch schon dazu positionieren.
«Selbst Kinder zu kriegen, ist nur einer von vielen Wegen, autonomer zu werden»
Apropos: Welche Rolle spielt das Kinderkriegen in der Beziehung zu den eigenen Eltern?
Erstmal steckt in dem Wort Eltern auch schon das Alter. Das ist nicht flapsig gemeint, man nimmt schlichtweg eine andere Position ein, weil man für jemanden verantwortlich ist. Oft wird dann auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern angefacht. Man beginnt, sich zu fragen: Wie war das damals mit meiner Mutter? Wo war mein Vater? Es können ein besseres Verständnis für die eigenen Eltern und eine erneute Annäherung daraus entstehen. Das dauert in der Regel allerdings ein paar Jahre – und, das finde ich wichtig zu betonen: Dieses Annähern kann passieren, muss aber nicht.
Sind kinderlose Erwachsene in dieser Hinsicht im Nachteil?
Selbst Kinder zu kriegen, ist nur einer von vielen Wegen, autonomer zu werden. Gegebenenfalls lernt man eben genau auch mit der eigenen Kinderlosigkeit, sich von den Eltern abzugrenzen und sich zu behaupten – viele haben ja den Wunsch, irgendwann Grosseltern zu werden.
Im Buch fragen Sie, ob der Anspruch, die Pflege bedürftiger Eltern selber zu stemmen, noch zeitgemäss sei. Haben Sie eine Antwort gefunden?
Der Gedanke «Ich muss für meine Eltern sorgen, weil ich ja auch so viel von ihnen bekommen habe» ist zumindest bei Leuten, die ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben, immer noch gegeben. Dass es den Wunsch gibt, etwas zurückzugeben, ist ja auch schön. Trotzdem sagen alle Expert:innen, mit denen ich gesprochen oder von denen ich gelesen habe, dass es heute eine unmögliche Aufgabe ist, das so einzulösen wie früher. Wer es versucht, läuft Gefahr, ein Burn-out zu bekommen.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand.
Ja, die Töchter und Schwiegertöchter, die dafür oft immer noch wie automatisch in die Verantwortung genommen werden, sind oft berufstätig. Wir bekommen später Kinder – das Pflegethema wird also meist erst in einem Alter wichtig, in dem man selber vielleicht schon erste Gebrechen hat. Dazu dauern Pflege- und Begleitungsphasen oft länger, weil wir generell gesünder sind als früher. Ein modernerer Ansatz wäre: Die Familie pflegt trotzdem, aber mit vereinten Kräften; die Männer bringen sich mehr ein, man holt sich Pflegedienste dazu. Für viele ist der Schritt zur Fremdbetreuung aber bis heute schambesetzt, ein Versagen. Da umzudenken, wäre ein erster Schritt.
Dazu fehlt es an öffentlichem Diskurs, oder?
Das nehme ich auch so wahr, ja. Die Philosophin Barbara Bleisch hat ein tolles Buch zum Thema geschrieben: «Warum wir unseren Eltern nichts schulden.» Darin erklärt sie, dass es viel wichtiger sei, die emotionale Beziehung mit den Eltern weiterzupflegen, also etwa regelmässig zu telefonieren oder gemeinsam Weihnachten zu feiern, statt Dinge zu übernehmen, die auch andere tun könnten.
Das klingt theoretisch gut, aber was, wenn die eigenen Vorstellungen mit jenen der Eltern clashen?
Es ist eine Gratwanderung. Es ist wichtig, seinen Standpunkt und eigene Bedürfnisse zu kommunizieren und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die für alle funktionieren.
Und inwiefern darf man sich in die Entscheidungen der Eltern einmischen?
Dazu ein klassisches Beispiel: Meine Mutter ist 85 und will noch Autofahren. Man kann versuchen, einzuwirken, aber sie ist trotzdem mündig. Bis auf wenige Fälle im höchsten Alter oder bei Krankheit gilt: Die müssen es auch einfach selber wissen. Ich finde es auch sehr wichtig, alte Menschen nie in eine Kinderrolle zu drängen; dieses «Im Alter wird man wieder Kind» halte ich für unwahr und problematisch. Man begleitet seine Eltern aus dem Leben heraus und nicht hinein. Das sind Abbauprozesse, keine Aufbauprozesse.
«Kann ich selber für mein inneres Kind sorgen?»
Und dann kommt der Tod. Was passiert mit einem, wenn die Eltern sterben?
Das kommt darauf an, wie gut man sich als Erwachsener aufgestellt hat. Damit meine ich: Kann ich selber für mein inneres Kind sorgen? Denn wenn ich weiss, was ich brauche, eigene Bedürfnisse kenne und mich selbst fürsorglich behandeln kann, dann ist das, was in der Aussenwelt mit meinen realen Eltern passiert, eher zweitrangig. Und dennoch ist es natürlich so, dass sich ein Gefühl der Verlassenheit einstellt, wenn die eigenen Eltern sterben, und man oft darüber grübelt, dass man nun selbst eine Generation nach vorne rückt. Diese Gefühle lassen sich nicht auflösen – das ist Trauer und in diesem Fall eine sehr spezielle Form von Trauer. In dieser Phase kommen Fragen auf wie: Kann ich Verantwortung tragen? Kann ich alte Verstrickungen ruhen lassen?
Die Voraussicht, die Sie sich bei diesen Themen wünschen, kann uns helfen, uns besser aufzustellen?
Ja. Ich sehe den Zusammenhang, zum Beispiel wenn ich mir all die Gespräche mit erwachsenen Kindern vor Augen führe, die ich für das Buch geführt habe.
Eine weitere Hoffnung von Ihnen ist, dass sich der Diskurs ändert. Für das Wort «bemuttern» gibt es beispielsweise kein männliches Äquivalent.
In der Psychotherapie sagt man oft «beeltern». Bevatern wäre auch schön. Denn ja, begriffliche Differenzierung schafft neue Realitäten. Dass es etwa normaler wird zu sagen, der Mann betreut seine kranke Mutter, wäre auch sehr wünschenswert.
Sie betonen im Buch die Signalwirkung von Gesetzen für so einen Wandel. Im Kanton Zürich wurde vor Kurzem eine Initiative für 18 Wochen Elternzeit für beide – statt der derzeitigen 14 Wochen für Mütter und zehn Tage für Väter – vom Stimmvolk mit 64,8 Prozent Nein-Stimmen abgeschmettert. Was sagen Sie dazu?
Ich persönlich sehe es als ganz fatales Zeichen. Als Psychologin würde mich natürlich interessieren: Was befürchten die Leute? Warum? Gesetze sind tatsächlich immer ein Signal dafür, dass etwas möglich ist, dass es erlaubt und erwünscht ist. Von da aus kann es sich auch in der Arbeitswelt besser verankern. In Deutschland hat sich diesbezüglich zwar etwas getan, aber in manchen Branchen ist es für Männer immer noch unüblich, eine längere Elternzeit zu nehmen.
Glauben Sie, die junge Generation trägt hinsichtlich dieser zähen Gender- und Generationenkonflikte zu einem Wandel bei?
Mir wird immer wieder rückgemeldet, dass die jüngere Generation aufgeschlossener sei, etwa der Psychotherapie gegenüber, aber auch im Denken über die Eltern. Da spielen Fragen mit wie: Was hat meine Familie mir mitgegeben? Welche Aufträge erfülle ich gerne, welche will ich nicht erfüllen? Diese Auseinandersetzung kann grössere Empathiefähigkeit schaffen, eine Zuwendung zu inneren Werten. Man sieht es auch in Fridays for Future und der Umweltbewegung. Er gibt ganz generell ein grösseres Bewusstsein, auch für familiäre Prozesse. Letztlich glaube ich aber, dass dieses aktive, bewusste Gestalten von Familienbeziehungen gerade erst aufkommt – für Jung wie Alt.
Wenn wir nochmal über die ewige Kinderrolle nachdenken: Wäre es wünschenswert, Kindsein und Erwachsensein als Dinge zu sehen, die immer nebeneinander existieren?
Ja, denn psychologisch gesehen sind wir den Grossteil unseres Lebens beides. Zwischen diesen Qualitäten wechseln zu können, ist eine Fähigkeit, die Bereicherung bringt. Auch sich bewusst zu sein, dass wir als Erwachsene noch Jugend in uns tragen. So bekommen wir viel mehr Möglichkeiten, mit anderen Menschen umzugehen und können Situationen aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Für viele ist auch das übrigens eine Definition von Erwachsensein.
Anne Otto ist Diplom-Psychologin und Autorin. Zu ihren letzten Sachbüchern zählen »Woher kommt der Hass? Die psychologischen Ursachen von Rechtsruck und Rassismus« (2019) und »Ich bin dann mal bei mir. 12 Auszeiten für die Seele«, mit Verena Carl (2021). Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihr neustes Buch heisst «Für immer Kind? Wie unsere Beziehung zu den Eltern erwachsen wird» (ca. 35 Fr.).