Aesop verspricht keine faltenfreie Zukunft, sondern Authentizität und Natürlichkeit – und ist damit Vorreiter des weltweiten Trends.
Es war das Jahr 1987. Alle hörten Rick Astley, bemalten die Lippen knallrot und betonierten sich die Frisuren hoch. Dennis Paphitis schauderte es. Der Coiffeur aus Melbourne ersann Crèmes in feinen Tuben, die einer ultramodernen Apotheke zu entstammen schienen, Tiegel wie für den Museumskatalog und Pipettenflaschen, die man sonst nur aus dem Chemieunterricht kannte. Seine Vision: Schönheit aus der Natur zu gewinnen. Aesop war geboren.
Heute lebt sein Erbe in mehr als 240 Läden weltweit fort. Die australische Marke, die von Handpflegeprodukten über Duschgels bis hin zu Unisex-Düften alles aus hautfreundlichen Zutaten herstellt, hat im vergangenen Jahr einen zweistelligen Umsatzzuwachs hingelegt – obwohl viele Geschäfte aufgrund der Pandemie geschlossen hatten. Suzanne Santos, allererste Mitarbeiterin in Paphitis’ Coiffeursalon und heute als General Manager so etwas wie der kreative Kopf hinter Aesop, meint: Es sind eben Produkte für diese Zeit.
Designerläden und natürliche Düfte
Nachhaltig, hochwertig, eigensinnig. Wer eine Crème von Aesop kauft, tritt in ein sinnliches Universum ein. Wo es mal nach Rosen duftet und mal nach Kräutern, wo ein Laden von einem Regisseur wie Luca Guadagnino («Call Me by Your Name») gestaltet wird oder vom hochgehandelten Architekturbüro Snøhetta (sonst bekannt für den spektakulären Bau der Osloer Oper).
All diese Ideen kommen aus einem grauen Lagerhaus in Melbourne. Zwei Etagen an der Smith Street, alter Backstein, kein Firmenlogo an der Wand, kein Schild an der Tür, lediglich ein aufgemaltes Virginia-Woolf-Zitat: «Why are women … so much more interesting to men than men are to women?» – «Warum sind Frauen für Männer so viel interessanter als Männer für Frauen?» Nur eine Türglocke deutet darauf hin, dass hinter der Fassade Menschen irgendetwas tun. Kocht jemand im diskreten Gebäude Drogen?
Die Hauptzentrale in Melbourne
Es wird tatsächlich getüftelt in Melbournes Szeneviertel Fitzroy, allerdings nicht an chemischen Stimmungsaufhellern. Wem die Tür geöffnet wird, findet ein Labor anderer Güte vor: Es riecht nach Zitrusdüften, Angestellte experimentieren mit Petersiliensamenessenzen, und Weisskittel sitzen über Algenextrakten. Das ist der Hauptsitz von Aesop, die hier ihre Pflegeprodukte für Haut, Gesicht und Haare testet, ihre Gestaltung und ihren Versand koordiniert.
Aesop hat in den vergangenen dreissig Jahren den Markt für Schönheitsprodukte umgekrempelt. Nicht nur mit dem Design. Paphitis hat die Botanik zurück in die Schönheitspflege gebracht. Die alten Griechen setzten bereits Zitrusöle und Bienenwachs in der Kosmetik ein, der Sohn griechischer Einwanderer verzichtete auf branchenübliche Zusätze wie Parabene, Silikone oder Farbstoffe und experimentierte mit Sesamöl, Grapefruitsamen oder Salbei.
Einfach, schlicht und minimal
Aus dem Coiffeursalon ist inzwischen ein international operierendes Unternehmen geworden. New York, Hongkong, Paris, Zürich. «Einfachheit, Integrität, Authentizität», das seien die drei Pfeiler der Marke. Ganz offensichtlich haben alle Ideen und Produkte aus der Welt von Aesop eines gemeinsam: den Hang zum Minimalismus. Weniger ist mehr. Für die Produkte heisst das: keine schweren Düfte, klare Naturgerüche wie aus Omas Kräutergarten. Die Innenarchitektur übersetzt das Credo so: keine grellen Farben, keine Schnörkelschriften, klare Linien.
Die Designphilosophie des Gründers zieht sich auch durch die Zentrale. Die Wände sind makellos monochrom weiss gestrichen, in der Küche stehen die Kaffeebehälter exakt aneinandergereiht, angeblich gibt es sogar feste Regeln, welches Toilettenpapier zu benutzen sei. Aesop ist die Marke für alle Ordnungsfetischisten – also diejenigen, die eine sehr eigene Vorstellung davon haben, wie man zu duften und wo ein Tiegel zu stehen hat.
Keine Zeit für Pflege
Aus diesem Starrsinn heraus ist auch Suzanne Santos zu einem Markenzeichen geworden und bereist normalerweise als Markenbotschafterin die Welt. Nun sitzt die drahtige Frau mit den kurzen grauen Haaren zuhause in Melbourne und überlegt, wie Corona die Gesellschaft verändert hat, die früher immer das «mehr, mehr, mehr» propagierte. «Viele Menschen haben in dieser schwierigen Zeit erfahren, dass es andere Dinge gibt, die ihnen guttun», hat sie kürzlich in einem Interview gesagt. Schaut sie auf die Zahlen ihres Unternehmens, denkt sie wohl auch an exklusive Pflegeprodukte.
«Wir sind heute anderen Stresslevels ausgesetzt», das haben Santos und ihre Mitarbeiterinnen immer wieder gepredigt – und so die Fülle der Lotions, Crèmes und Gesichtsmasken im Regal gerechtfertigt. Im Job funktionieren, nebenbei Kinder erziehen und noch Zeit für das Sportstudio haben. Um all das zu schaffen, sparen die meisten Menschen an der Nachtruhe. Das wiederum mache dem Körper zu schaffen, er kann sich nicht richtig regenerieren, die Haut wird davon als erstes Organ betroffen. Ihre Barrierefunktion nimmt ab, sie lässt mehr Schadstoffe durch. Aesop, zu Hilfe! Zweimal täglich Hände und Gesicht waschen, danach die Haut mit einer Feuchtigkeitscrème dabei unterstützen, ihren normalen Frischelevel zu erreichen. Suzanne Santos hat bei ihren Ladenbesuchen Kunden oft erklärt, wie man sich richtig pflegt. Eigentlich, sagt sie, brauche man nur 15 Sekunden am Tag, um sich das Gesicht ordentlich zu waschen und danach eine Crème aufzutragen. «Wenn man das zukünftig in seinen Tag integriert», sagte sie in Interviews, «dann hat man schon einen Moment, in dem man sich nur um sich kümmert.»
«Keine grellen Farben, keine Schnörkelschrift – Aesop ist die Marke für Ordnungsfetischisten»
Lebensweise ändern
Selfcare beginnt also mit kleinen Schritten. Dazu zählt man im Aesop-Kosmos auch: weniger Bier und mehr Wasser trinken, mit nicht zu heissem Wasser duschen, weil der Wärmeschock die Haut erst einmal austrocknet. Man zieht plötzlich in Betracht, was auf Englisch ganz knackig nach einem Weltverbesserungsseminar klingt: lifestyle changes. Genau deshalb ist der Markt für Pflegeprodukte in den vergangenen Jahren so enorm gewachsen. Die Menschen überdenken ihre Ernährung, optimieren ihren Körper und pflegen ihre Erscheinung. Auch Männer haben heute keine Probleme mehr damit, sich mit Crèmes zu verschönern. Der mehrfach zum weltbesten Fussballer gekürte Cristiano Ronaldo verrät in Zeitschriften seine Schönheitstipps – undenkbar noch vor zwanzig Jahren. Marktforschungen gehen davon aus, dass der Markt für Schönheitsprodukte bis 2022 noch einmal um vier bis fünf Prozent wachsen wird, auf einen Wert von 430 Milliarden US-Dollar, das entspricht etwa 392 Milliarden Franken.
Das Institut Allied Market Research stellt in einer Studie fest, dass sich insbesondere die Verwendung von natürlichen Zutaten durchsetzen wird. Petersiliensamen? Tamarindenholz? Rosmarin? Bei Aesop hat man von Anfang an auf diese Entwicklung gesetzt. Was sich bei der Gründung noch wie ein Schulgartenprojekt las, entpuppte sich als richtige Entscheidung, das wachsende Umweltbewusstsein der Menschen zu berücksichtigen. Vor beinahe zwanzig Jahren habe man begonnen, mit Antioxidantien zu arbeiten, die in der gesunden Ernährung eine wichtige Rolle spielen, und viel mit Weintraubenkernen experimentiert, sagt Santos. Momentan arbeite das Team an Algenextrakten, die dehydrierte Haut erneuern können. Das sei eine zeittypische Schädigung, denn immer mehr Menschen verbringen Stunden in klimatisierten Wohnungen, Hotels oder Einkaufszentren.
Naturkosmetik boomt
Auf dem Markt für Schönheitsprodukte herrschen momentan zwei Strömungen vor: die Hautaufhellung, die besonders im asiatischen Raum gefragt ist, und das Anti-Aging, um Alterserscheinungen zu vertuschen. Beide Kategorien beliefert Aesop nicht. Denn das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass Altern und Hautfarbe Probleme seien. Und davon gehen Suzanne Santos und ihre Marke nicht aus. Das gehe gegen die Philosophie von Aesop. Trotzdem oder gerade deshalb wächst der Markt für Aesop ständig. Seit Anita Roddick in den späten Achtzigerjahren mit ihrem Body-Shop-Konzept die Tierversuche aus der Kosmetik verbannt hat, gab es kein Geschäftsprinzip mehr, das die milliardenschwere Industrie so sehr ins Schwanken gebracht hat.
Inzwischen boomen überall auf der Welt kleine und grössere Manufakturen mit ähnlichen Ideen. Korres aus Griechenland stellt seit 1996 erfolgreich Naturkosmetik her, die eine Apothekerfamilie entwickelt hat, und verkauft in den teuersten Warenhäusern Europas. Rudolf Hauschka produzierte bereits 1935 natürliche Schönheitspflege für einen recht überschaubaren Kundenstamm – heute sind die Mittelchen aus Süddeutschland der Renner bei Hollywoodstars wie Julia Roberts und Robert Downey Jr.
Mundpropaganda statt Werbung
Wie Aesop setzen diese Firmen auf eine Apothekenoptik, doch nur wenige gehen in ihrem Streben nach Glaubwürdigkeit so weit wie die Australier, die konsequent auf Werbung verzichten. Was natürlich eine viel bessere Form des Marketings nach sich zieht: die Mundpropaganda. Da könnte es vielleicht ein wenig schaden, dass Aesop nicht mehr der sympathische kleine Betrieb aus Down Under ist, sondern von Paphitis vor einigen Jahren komplett an den brasilianischen Konzern Natura verkauft wurde – unter dessen Dach auch Body Shop sein Geld verdient. Der Gründer tritt seitdem nur noch als Berater in Erscheinung, Santos sitzt nach wie vor in der Chefetage und verteidigt die Entscheidungsfreiheit von Aesop. Bisher ging mit dem Verkauf kein Verlust der Glaubwürdigkeit einher.
Auf persönliche Empfehlungen können sich die meisten Kosmetikkonzerne mit Millioneninvestitionen nicht verlassen. Dafür bringen sie zu viele neue Produkte auf den Markt, wechseln das Sortiment ständig aus. Bei Aesop soll ein Produkt mindestens zwölf Jahre in den Läden bleiben, nur ganz wenige Linien wurden bisher eingestellt. Anfang Juni kommen drei neue Eau de parfums auf den Markt (natürlich sagt bei Aesop niemand Parfums, das wäre irgendwie ordinär). Gemeinsam haben die Unisex-Produkte eine trockene, erdige Note, ein Fenster zur Natur sollen sie sein, heisst es aus der Zentrale. Eher Wald- als Schaumbad.
Pflegeprodukte für jeden
Diese vorsichtige Positionierung zwischen Architekturfreaks und Biomarktkunden wirkt so, als würde Aesop Angst haben, die falsche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bloss keine Massenware, mehr Inklusion wagen! Deshalb lautet die Firmenpolitik: Kein Make-up wird verkauft, und kein Kunde wird geschlechtsspezifisch angesprochen. Mamas kleine Helfer sollen auch Papas kleine Helfer sein. Die Begeisterung für Aesop kennt bisher wenige Grenzen, scheint es.
Nur eines nervt: die hochtrabenden Zitate auf jedem Produkt. Dennis Paphitis hat angeblich selbst darauf bestanden. Der ehemalige Philosophiestudent hat einmal den Witz gemacht: «Wenn ich meine wahre Berufsbezeichnung enthüllen müsste, wäre es wohl Direktor für Zitatensuche.»