Warum so viele Frauen lustlos sind
- Text: Claudia Senn
- Bild: Stocksy
Sexuelle Luststörungen sind häufig – vor allem in langjährigen Beziehungen, sagt die Gynäkologin und Sexualtherapeutin Eliane Sarasin Ricklin. Ein Gespräch über Lustkiller, sexuelle Fantasien und konkrete Tipps.
Dieser Artikel ist aus dem Archiv und erstmalig im Januar 2017 erschienen.
annabelle: Eliane Sarasin Ricklin, Sie sind Gynäkologin und bieten auch eine sexualmedizinische Sprechstunde an. Wie viele Ihrer Patientinnen berichten über mangelnde sexuelle Lust?
Eliane Sarasin Ricklin: Vierzig bis fünfzig Prozent werden es schon sein.
So viele?
Ja, die weibliche Luststörung ist das häufigste sexuelle Problem überhaupt. Das heisst aber nicht, dass jede Frau, die keine Lust verspürt, auch darunter leidet.
Wie gross ist denn der Anteil jener, die einen Leidensdruck empfinden?
Etwa zehn bis fünfzehn Prozent. Manche sagen: Ich vermisse meine Lust. Ich fühle mich nicht mehr so lebendig, nicht mehr so weiblich. Diese Frauen sind leichter zu therapieren, weil sie motiviert sind, etwas zu verändern. Viel öfter höre ich jedoch: Wenn mein Mann nicht dauernd Druck machen würde, so würde mir die Lust nicht fehlen. Ihnen macht bloss der Konflikt zu schaffen, der dadurch auf der Partnerschaft lastet.
Diese Frauen suchen also Ihre Hilfe, weil der Partner gesagt hat, es ginge so nicht weiter?
Ja, das kommt in Hetero-Beziehungen häufig vor. Manche Männer glauben, das Problem liege allein bei ihrer Partnerin, und drängen sie zu einer Konsultation. In so einem Fall versuche ich erst einmal herauszufinden, was die Frau selbst möchte. Hat sie lediglich keine Lust auf Sex mit ihrem Mann? Oder hat sie keine Lust auf Sex im Allgemeinen? Hätte sie Lust auf eine andere Art von Sex? Hätte sie Lust auf Sex mit jemand anderem?
Haben sich Ihre Patientinnen diese Fragen denn nicht schon selbst gestellt?
Meistens nicht. Manche reagieren darauf sogar ziemlich ratlos. Viele Frauen mit Lustproblemen fühlen sich so in die Enge getrieben, dass sie gar nicht mehr über ihre eigenen Wünsche nachdenken können. Sie empfinden sich als defizitär, was sie völlig blockiert, während sie gleichzeitig vom Partner bedrängt werden. In manchen Partnerschaften haben sich diese Positionen über Jahre zementiert.
Was ist es denn, das den Frauen die Lust verdirbt?
Das ist nicht immer einfach herauszufinden. Manche sagen im Brustton der Überzeugung: Ich liebe meinen Mann, und wir haben es eigentlich gut miteinander. Es tut mir wirklich leid für ihn, dass ich keine Lust habe. Im Gespräch wird dann deutlich, dass sie sich beispielsweise im Haushalt oder mit den Kindern zu wenig unterstützt fühlen oder völlig erschöpft sind. Oft gären im Hintergrund alte Kränkungen vor sich hin, ohne dass die Probleme auf den Tisch kommen. Der Grund für die Lustlosigkeit muss jedoch nicht zwingend in der Partnerschaft liegen. Auch berufliche Überforderung, finanzielle Sorgen oder belastende Ereignisse in der persönlichen Biografie können sich negativ auf die Lust auswirken. Jede Stresssituation ist per se ein Lustkiller.
Gibt es auch organische Ursachen?
Natürlich, Gesundheit und Sexualität stehen in enger Beziehung. Neben Krankheiten können auch gewisse Medikamente wie etwa Antidepressiva die Lust beeinträchtigen. Eine meiner Patientinnen konnte wegen eines solchen Medikaments keinen Orgasmus mehr bekommen. Als sie ihrem Partner davon erzählte, meinte er: Dann lohnt es sich ja gar nicht mehr, Sex zu haben. Er glaubte, ohne ihren Orgasmus sei der Sex nichts wert, obwohl die Frau das nicht so empfand. Männer sind da viel zielorientierter.
«Eine neue Beziehung, ein Flirt, eine Affäre – und wir fühlen uns wieder lebendig und lustvoll»
Wie wirken sich die Wechseljahre auf die Libido aus?
Die Wirkung der Hormonveränderungen durch die Menopause wird überschätzt. Östrogen ist nur ein Mosaikstein der weiblichen Lust. Neulich hat sich eine Patientin bei mir angemeldet, sie muss sich wegen ihrer Brustkrebsdiagnose einer antihormonellen Therapie unterziehen, die ihren Östrogenlevel drastisch reduziert. Der Anlass für die Konsultation war ihre sexuelle Lustlosigkeit, die sie auf ihre Behandlung zurückführte. Doch als sie nach einigen Wochen Wartezeit schliesslich in meine Praxis kam, war ihre Lustlosigkeit wie weggeblasen, trotz des tiefen Hormonspiegels. Denn zwei Wochen zuvor hatte sie sich neu verliebt. Das kennen wir alle: Eine neue Beziehung, ein Flirt, eine Affäre – und wir fühlen uns wieder lebendig und lustvoll.
Es ist also ein Mythos, dass Frauen nach der Menopause das Interesse an Sex verlieren?
Ja. Häufig werden jedoch durch den Östrogenabfall die Schleimhäute im Genitalbereich trockener. Das kann beim Sex schmerzhaft sein. Ich empfehle meinen Patientinnen die regelmässige Pflege dieser empfindlichen Zone. Wenn medizinisch nichts dagegen spricht, verschreibe ich auch lokal wirkende Östrogene in Form von Vaginalzäpfchen oder -crèmes, deren Risiken und Nebenwirkungen viel kleiner sind als jene einer systemischen Hormontherapie.
Warum erleben denn so viele Frauen das Klimakterium als unerotische Phase?
Lustkiller sind Gedanken wie: Ich bin jetzt nicht mehr attraktiv. Niemand dreht sich mehr nach mir um. Wenn meine Kinder ausziehen, habe ich keine Aufgabe mehr. Wer die Menopause nur mit Abschied assoziiert, leidet stärker. Kommt dazu, dass die meisten in diesem Alter in einer langjährigen Beziehung leben, und jemanden zu begehren, den man auf sicher zu haben meint, ist nun mal nur bedingt aufregend. Eine Patientin drückte es einmal so aus: Jeden Tag dasselbe Joghurt – das ist nicht prickelnd, selbst wenn es die Lieblingssorte ist.
«Sexualität spielt sich in einer Beziehung meist auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner ab»
Wie kommt es, dass den meisten Paaren nur eine mehr oder weniger kurze Phase grandiosen Verliebtheits-Sexes vergönnt ist, bevor sie in öde Routine verfallen?
Sexualität spielt sich in einer Beziehung meist auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner ab. Man lernt sich kennen und probiert sich miteinander aus, in dieser Phase ist der Sex noch extrem spannend. Dann findet man heraus, was der andere mag und was einem selbst gefällt, und einigt sich auf einen individuellen Ablauf, den man über Jahre oder Jahrzehnte wiederholt – ohne sich darüber auszutauschen, ob das Szenario noch immer für beide stimmig ist. Bei aller Harmonie wirkt eine solche Routine nicht besonders erotisierend. Der amerikanische Sexualwissenschafter Jack Morin hat die Formel aufgestellt: Erregung = Anziehung + Hindernis. Etwas überwinden zu müssen, steigert die Lust. Deshalb klappen Fernbeziehungen meist recht gut. Da besteht das Hindernis in der geografischen Distanz.
Was tun gegen die Langeweile – wenn man nicht gleich in zwei verschiedene Städte ziehen will?
Oft hilft es, das gewohnte Szenario etwas zu verändern. Man könnte dem anderen offenbaren, welche sexuellen Wünsche man sonst noch hat. Das braucht natürlich Mut und Vertrauen, denn man muss damit rechnen, dass sie der:dem Partner:in nicht gefallen. Gleichzeitig ist es die einzige Möglichkeit, in einer langjährigen Partnerschaft neue sexuelle Spannung aufzubauen.
Wie bringen Sie Paare mit eingeschlafenem Sexleben dazu, sich erotisch wieder anzunähern?
Eine allgemeingültige Antwort gibt es nicht, jedes Paar hat seine eigene Dynamik. Grundvoraussetzung ist sicher, dass beide Partner:innen motiviert sein müssen für eine Veränderung. Ist das der Fall, empfehle ich ihnen meist, sich regelmässig miteinander zu verabreden und abwechselnd die Regie für diese Abende zu übernehmen. Schon die Vorbereitung eines solchen Rendez-vous kann erregend wirken.
Haben Sie hierfür konkrete Tipps?
Eine Anregung ist «Das indiskrete Fragebuch» von Ulrich Clement: Welche Wünsche der:des anderen erfüllst du gern, welche weniger gern? Gibt es Dinge, die du deiner:deinem Partner:in zuliebe in Kauf nimmst, ohne sie wirklich zu wollen? Wofür bist du deiner:deinem Partner:in dankbar, weil du es ohne die Person nicht erreicht hättest? Was nimmst du heute noch übel und kannst nicht verzeihen? Solche intimen Fragen miteinander zu besprechen, kann erotische Spannung erzeugen. Bei der Lust läuft vieles übers Gespräch. Ein Geheimnis in funktionierenden Langzeitbeziehungen ist das bleibende Interesse aneinander, die Freude, sich immer wieder neu zu entdecken und neugierig aufeinander zu bleiben. Das gilt auch für die Sexualität.
Klingt nach anstrengender Beziehungsarbeit.
Ja, wenn man etwas verändern will, geht es leider nicht anders. Die bequeme Lösung gibt es nicht. Ich erinnere mich an eine Patientin im mittleren Alter, die auf Drängen ihres Mannes in meine Praxis kam. Er forderte, dass sie wieder mehr Lust bekommen müsse, sonst stünde die Beziehung infrage. Die beiden hatten seit vielen Jahren keinen Sex mehr, davon abgesehen beschrieb die Frau ihre Ehe als unbelastet.
Und dann?
Anfangs war sie nicht sehr an Veränderung interessiert. Doch nach einiger Zeit erwärmte sie sich für den Gedanken, wieder mehr Erotik in ihr Leben zu lassen, und begann, sich auch äusserlich zu verändern. Ihre Kleidung, ihre Bewegungen, ja, ihr ganzes Auftreten wurde femininer. Als sie mit ihrem Mann jedoch besprechen wollte, welche Art von Sex ihr denn gefallen könnte, war er plötzlich nicht mehr so interessiert und meinte: Ach, weisst du was, Schatz, schon gut, lassen wirs lieber.
Machte ihm ihre plötzliche Forschheit Angst?
Ja. Ein Gespräch über die eigenen sexuellen Wünsche bedeutet, die gewohnte Komfortzone zu verlassen und sich auf neues Gelände zu wagen, wo man sich nackt und verwundbar fühlt. Das kann auch Personen verunsichern, die ursprünglich die Veränderung wünschten.
Wie ging es weiter mit den beiden?
Irgendwann fingen sie zaghaft an, sich wieder anzunähern, da bekam er Erektionsprobleme und zog sich zurück. Die Frau reagierte sehr gekränkt und wollte die Therapie abbrechen. Ein dreiviertel Jahr später kamen die beiden erneut in meine Sprechstunde, diesmal gemeinsam. Sie hatten gemerkt, dass ihnen das Thema Sexualität doch wichtig ist und dass sie nur zusammen eine Veränderung herbeiführen können.
Haben sie es geschafft, wieder zueinanderzufinden?
Ja. Auch dieses Paar forderte ich auf, sich abwechslungsweise zu verführen. Die Frau fand heraus, dass ihr ein bestimmtes Setting wichtig ist, wenn es zu Sex kommen soll: Kerzen, duftendes Massageöl, behagliche Wärme, romantische Stimmung. Ihre eigenen Abende gestaltete sie dementsprechend liebevoll. Dem Mann waren ihre Bedürfnisse zuvor gar nicht klar gewesen. Nun konnte er seine Verführungsstrategie anpassen. So kam Bewegung in das festgefahrene Liebesleben des Paares.
Ist die weibliche Lust störanfälliger als die männliche?
Auf jeden Fall. Sie erscheint mir wie ein Schmetterling, der sich ganz schnell verscheuchen lässt. Wir alle geben beim Sex Gas, und wir stehen auf die Bremse. Die meisten Frauen stehen tendenziell mehr auf der Bremse als Männer. Wir können jedoch auch lernen, ein bisschen mehr Gas zu geben.
Wie denn?
Indem wir uns fragen: Was törnt mich an? Wie törne ich mich selbst an? Manche Frauen wissen gar nicht, welche Erotik ihnen entspricht. Sie könnten zum Beispiel mit der Kleiderwahl experimentieren, mit Make-up und Parfum, erotischer Literatur, Tanzen oder Yoga. Alles, was einem dabei hilft, den Körper besser wahrzunehmen, kann zu einer befriedigenderen Sexualität verhelfen. Die Lust fängt bei einem selbst an.
Welche Hilfsmittel können Sie denn mit gutem Gewissen empfehlen?
Gleitgel finde ich sinnvoll, gerade für ältere Frauen nach der Menopause, bei denen die Trockenheit der Schleimhäute zum Thema wird. Besonders die Produkte auf Silikonbasis sind sehr empfehlenswert.
Kann ein Vibrator einer lustlosen Frau auf die Sprünge helfen?
Möglicherweise schon. Vibration im Genitalbereich wird von vielen als erregend erlebt. Ein Besuch im Erotikshop kann sich also durchaus lohnen. Diese Läden haben ja nicht mehr das Schmuddel-Image von früher. Es gibt speziell für Frauen konzipierte Boutiquen mit kompetenter Beratung. Wer Sextoys mag, sollte ruhig damit experimentieren.
Was für Experimente meinen Sie?
Wir alle haben unsere individuellen Masturbationstechniken entwickelt, mit denen wir zuverlässig zum Orgasmus kommen. Ich rate meinen Patient:innen, ihre erogenen Zonen auszudehnen, indem sie herausfinden, was sich über das Gewohnte hinaus sonst noch angenehm und erregend anfühlen könnte. Das langsame, bewusste An- und Entspannen des Beckenbodens kann beim Erkunden hilfreich sein – ebenso wie ein Vibrator oder andere Sextoys. Je besser man den eigenen Körper kennt, umso befriedigender erlebt man seine Sexualität.
«Sexuelle Fantasien sind nicht immer kompatibel mit unserem modernen Frauenbild»
Der wichtigste Motor für die weibliche Lust liegt zwischen den Ohren, so heisst es.
Ja, sexuelle Fantasien können sehr stimulierend wirken. Sie sind jedoch nicht immer kompatibel mit unserem modernen Frauenbild. Beim Sex hat vieles mit Nehmen und Genommenwerden zu tun, das widerspricht der Political Correctness, die auf die Gleichstellung der Geschlechter abzielt. Viele Frauen finden beispielsweise Überwältigungsfantasien erregend, in denen sie von einem Mann oder mehreren dominiert werden. Gerade jüngere, genderbewusste Patientinnen, die sich selbst als emanzipierte Frauen erleben, sind manchmal sehr befremdet von sich selbst, wenn sie sich solche Überwältigungsfantasien eingestehen.
Können sie die Fantasien nicht mit ihrem Selbstbild vereinbaren?
Genau. Dabei geht es in den meisten Fällen ja gar nicht darum, das Szenario in die Tat umzusetzen. Sie sollen Fantasie bleiben. Überwältigungsfantasien speisen sich aus dem Bedürfnis, begehrt zu werden. Dahinter steht die Vorstellung: Ich bin so unwiderstehlich, dass die Männer gar nicht anders können, als über mich herzufallen. Diese narzisstisch geprägte Idee macht die Erregung aus.
Verschwindet die Lust im hohen Alter irgendwann ganz?
Das hängt von der individuellen Lebenssituation ab. Neulich war eine über 80-jährige Patientin in meiner Sprechstunde. Sie erzählte mir, dass ihr Mann infolge seines Altersdiabetes leider impotent geworden sei und sich sexuell ganz zurückgezogen habe. Sie bedauerte dies sehr, weil Sex für sie immer eine Kraftquelle gewesen sei und ihr die Zärtlichkeit und Intimität fehlen. Auch mit über achtzig Jahren! Im Allgemeinen gilt, dass die Lust auf Sex mit dem Alter immer mehr abnimmt, der Leidensdruck ebenso. Bei vielen verschwindet das Interesse an Sexualität jedoch nie ganz.