Neulich fragte mich die Mutter einer Nachbarin, wie viele Kinder ich hätte. «Einen Sohn», antwortete ich. «Das ist aber traurig», sagte die Frau und zog kopfschüttelnd mit ihren drei Enkelkindern weiter. «Find ich nicht!», rief ich ihr noch hinterher.
Dass ich sie nicht mit Kastanien bombardiert habe, finde ich schön, zeigt es doch, dass ich Manieren und keinen Minderwertigkeitskomplex habe. Ich selbst bin nämlich auch ein Einzelkind und habe den überwiegenden Teil meiner Kindertage in vollen Zügen genossen. Ich bin also durchaus optimistisch, dass auch mein Solosohn eines Tages auf ein fröhliches Leben zurückblicken kann.
«Herrlich waren Gewitternächte, in denen ich in die Mitte des grossen Elternbettes schlüpfen durfte und mich konkurrenzlos ankuscheln konnte»
Zugegeben, ab und an habe ich mir durchaus einen grossen Bruder gewünscht. Er hätte super ausgesehen und wäre immer auf meiner Seite gewesen. Und natürlich fand ich es doof, dass keine Blutsverwandten mir längere Ausgehzeit erkämpft hatten. Aber sonst?
Keine alten Klamotten austragen
Herrlich waren Gewitternächte, in denen ich in die Mitte des grossen Elternbettes schlüpfen durfte und mich konkurrenzlos je nach Laune links oder rechts ankuscheln konnte. Stundenlang baute ich in meinem sonnigen Kinderzimmer Playmobilwelten auf, streute die sorgsam gesammelten Bleistiftspäne als Hühnerfutter in meine bunte Bauernhoflandschaft, ohne je fürchten zu müssen, dass ein kleines Geschwisterlein meine Komposition wie Godzilla niedertrampeln könnte.
Nie musste ich alte Klamotten austragen oder Weihnachtsgeschenke teilen. Dass ich bis heute die «Die drei Fragezeichen in der Silbermine»-Kassette mitsprechen kann, zeigt: Ich hatte einen funktionierenden Recorder und fand in der Kombination Hör- und-Spiel-Frieden.
Todlangweilig ohne Geschwister
Natürlich war auch mir zwischendurch todlangweilig so ohne Geschwister und nicht immer entstand aus diesem Vakuum Erfreuliches. Da gab es zum Beispiel mal die Eröffnung eines Schwimmbads für Ameisen. Ansonsten las ich viel, das geht alleine prima.
Die in «Die Brüder Löwenherz» beschriebene Geschwisterliebe liess mein kleines Herz beim Lesen höherschlagen. Im Real-Life-Abgleich aber fand sich zumindest in meinem Primarschulumfeld nichts Vergleichbares.
Bei meiner besten Freundin K. und ihrer grossen Schwester beschränkte sich gemeinsames Spielen vor allem auf stundenlange Gefangenschaft von uns Kleinen unter dem Schreibtisch. Kollege G. wurde in der Schule von beiden Geschwistern durchgehend ignoriert, mal abgesehen von gelegentlichen Ohrschnipsern und dem Griff in seine Znünibox.
«Ich hatte nie zurückstecken oder hungern müssen. Weder nach Anerkennung, Liebe oder Apfelschnitzen»
Von Futterneid hörte ich das erste Mal bewusst während des Studiums, als sich ein Freund beim Sonntagsessen mit seinem Bruder um den letzten Löffel Bratensauce stritt. Für mich völlig absurd, ich selbst hatte nie zurückstecken oder hungern müssen. Weder nach Anerkennung, Liebe oder Apfelschnitzen. Kein Wunder, dass ich ebenfalls stets freudvoll zu Übernachtungspartys bei meinen Grosseltern aufbrach, denn auch hier galt es ja nur, Sarahlinchen aka Engelein gemütlich auf das Sofa zu betten und ihr nebst Aufmerksamkeit mundgerechte Stücke ihrer Leibspeisen zu servieren.
Ich, das «Puderzuckerpüppi»
Dass die beste Freundin meiner Mutter mir in meinen Teenagerjahren den Spitznamen «Puderzuckerpüppi» verpasste, weil mir – pardon – so viel Puderzucker in den Hintern geblasen wurde, muss ich rückblickend als treffend anerkennen. Manchmal unterschreibe ich deshalb auch noch so. Etwa auf Weihnachtskarten.
Mannschaftssport hat mich nie gelockt und meine Eltern wären auch gar nicht auf die Idee gekommen, meine Sozialverträglichkeit in Turnhallen trainieren lassen zu wollen. Erstaunlich, dass ich selbst also um mein eigenes Einzelkind ein rechtes Bohei veranstalte und ihn zum Pulk schiebe, wann immer ich «Gruppenaktivität» höre. Ich bin vermutlich einfach weniger souverän, als meine Eltern es waren. Und habe mehr Theorien zu wahlweise einsamen oder egozentrischen, überwiegend aber unausstehlichen Kindern ohne Geschwister gelesen.
Verwöhnt: okay; Verzogen: No-Go
Eine gemeinsame Studie der Universitäten Leipzig, Zürich und Victoria University of Wellington, Neuseeland, kam jüngst zu dem Ergebnis, dass «Geschwister einen überraschend geringen Einfluss auf die Persönlichkeit im Erwachsenenalter haben». Erwiesen ist mittlerweile aber auch, dass das Stereotyp des narzisstischen Einzelkindes sich in der breiten Bevölkerung nach wie vor hartnäckig hält. Ungeachtet der Tatsache, dass Einzelkinder faktisch keine vermehrten Anzeichen zum sogenannten «grandiosen Narzissmus» aufzeigten. Ich sollte mich wirklich entspannen.
Meinen Eltern bin ich dankbar, dass es bei uns nebst klaren Regeln (verwöhnt: okay; verzogen: No-Go) seit meiner frühesten Kindheit auch immer eine offene Tür für andere Kinder gab. Egal ob Pyjamapartys am Wochenende oder Sommerferien in Südfrankreich – gefühlt war immer eine meiner Freundinnen dabei. Oder ich war mit ihnen weg.
Einsam habe ich mich selbst zu der Zeit nicht gefühlt, als meine Mutter krankheitsbedingt für ein paar Monate von Frankreich, wo wir damals lebten, nach Deutschland zog. Statt nach Hamburg ausquartiert zu werden, zog ich mit neun Jahren zu meiner Freundin Steffi, deren Familie mich mit einer solchen Herzensgrosszügigkeit aufnahm, dass ich die Zeit verrückterweise vor allem als geborgen in Erinnerung behalten habe.
«Hänge ich einer romantisierten Vorstellung von Geschwisterzusammenhalt nach?»
Vielleicht wurde mir damals schon klar, dass mein Seelenheil zwei Eckpfeiler benötigte und bis heute benötigt: ausreichend Raum für mich allein und Wahlverwandtschaften aus dem Freundeskreis. Es stimmt natürlich, dass ich nie wissen werde, wie es sich anfühlt, echte Geschwister zu haben, und ich will überhaupt nicht in Abrede stellen, dass mir da Grosses entgeht.
Meine Familie ist auf andere Weise gewachsen
Je älter ich werde, desto mehr bedaure ich ja auch, keine zu haben. Weil es spannend gewesen wäre, zu sehen, wen meine tollen Eltern noch so hervorgebracht hätten. Aber auch, weil es schön wäre, eine Schwester oder einen Bruder an der Seite zu haben, der oder die mit mir liebt und mit anpackt, seit sich das Kräfteverhältnis geändert hat, Eltern älter werden, sterben und existenzielle Fragen zu besprechen sind. Nur – wäre dem überhaupt so? Oder hänge ich hier einer romantisierten Vorstellung von Geschwisterzusammenhalt nach?
Meine Familie ist indes auf andere Weise gewachsen. In die Sommerferien kommt seit drei Jahrzehnten mein bester Freund aus Teenietagen mit, der für meinen Sohn ein Onkel und meinen Eltern Ziehsohn wurde. Bis heute fährt er regelmässig zum Sonntagsfrühstück mit anschliessendem Würfelspiel-Marathon zu meiner Mutter. Für jemanden, der wie ich in einem anderen Land lebt als seine Eltern, ist das nicht mit Gold aufzuwiegen.
Er gehört zu dieser Handvoll Menschen in meinem Leben, von denen ich weiss, dass wir immer füreinander da sein werden. Aus freien Stücken, nicht, weil es sich so gehört. Weihnachten feiern wir seit dem Tod meines Vaters mit unseren liebsten Freund:innen in Hamburg, mit allen Kindern, Hunden, Geschwistern und Eltern zusammen. «Ich finde, dass du jetzt Tante Sarah für unsere Mädchen bist, irgendwie sind wir doch alle Familie, okay?», hat mir meine Freundin Janina nach dem letzten Fest gesagt. So viel mehr als nur okay.
Ein Einzelkind, was heisst das schon?
Sarah Lau rückt ihr Leben als Einzelkind geschickt ins rechte Licht. Zwei ältere Schwesternsind manchmal anstrengend für einen deutlich jüngeren Bruder. Trotzdem möchte ich das Leben mit beiden nicht missen. Vor allem in älteren Jahren, heute sind wir alle drei über 75, bin ich froh, dass sie noch leben. Wenn wir auch räumlich weit getrennt sind, pflegen wir regen Kontakt mit moderne Hilfsmitteln, Besuche sind nicht mehr so häufig. Unsere Eltern haben unsere Erziehung in den schweren Nachkriegsjahren, wir sind Heimatvertriebene aus Tschechien, hervorragend gemeistert. Das war eine gute Orientierung für das Leben mit unseren drei Kindern. Einzelkinder habe ich zeitlebens als verwöhnt und verzogen, manchmal sogar unsympatisch kennen gelernt. Vor allem alleinerziehende Elternteile kompensieren mit übertriebener Fürsorge so ihr schlechtes Gewissen.
Vielen Dank für diesen Artikel. Meine Tochter war ein zufriedenes Einzelkind und hat jetzt ein munteres, freundliches einjähriges Baby. Kaum war ihr Kind (nach einer schwierigen Schwangerschaft und Geburt) auf der Welt, wurde sie schon gefragt, wann denn das zweite komme. Eine Unverschämtheit! Es stimmt auch, dass Geschwister sich manchmal nicht viel zu sagen haben – was sich allerdings später ändern kann. Dann kann der Zusammenhalt größer werden, besonders in Notlagen. Das muss aber nicht so sein.