Gesundheit
Übergriffe, Beleidigungen, Gewalt: Höchste Zeit, über traumatische Geburten zu sprechen
- Text: Sarah Lau
- Bild: Keystone
Viele Schwangere erleben bei Untersuchungen und Geburten Dramatisches. Nicht selten sind die betroffenen Frauen danach ernsthaft traumatisiert, zum Teil ihr Leben lang.
Als Isabelle Brechbühl mit 28 Jahren schwanger wurde, war da nichts als Freude und Zuversicht. Die Schwangerschaft verlief ohne Komplikationen, und als die Wehen einsetzten, fuhr die Erstgebärende mit ihrem Mann in ein Berner Spital, hoffnungsfroh, in wenigen Stunden ihren kleinen Sohn in den Armen zu halten. Dass sie zunächst abgewiesen wurde, weil der Wehenschreiber zu einem anderen Ergebnis kam, als der eigene Körper ihr signalisierte, nahm Isabelle hin. Schliesslich vertraute sie da dem Klinik-Personal.
Keine Erklärung, was vor sich geht
Selbst als sie im Lift fast zusammenbrach, musste ihr Mann sie zu einem erneuten Gang zum Empfang überreden. Fast entschuldigend bat das Paar um nochmalige Untersuchung – und dann ging plötzlich alles sehr schnell. Während ihr Mann das Gepäck aus dem Auto holte, kam Isabelle in einen Raum. Allein. Panik stieg auf. Nachdem die Hebamme – überrascht, wie weit der Geburtsvorgang bereits vorangeschritten war – umgehend die Verlegung in den Gebärsaal angeordnet hatte, wurden Isabelle eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht gedrückt und die Hose ausgezogen. Niemand erklärte ihr, was vor sich ging. Ständig wechselte die Belegschaft. Was danach geschah, weiss Isabelle nur noch bruchstückhaft. Aber daran erinnert sie sich: Irgendwann rissen ihr zwei Hebammen die Beine auseinander, während eine dritte auf ihren Bauch stieg, um das Baby runterzuschieben, das schlussendlich mit der Saugglocke herausgezogen wurde. «Ich dachte nur noch: Kann ich jetzt bitte sterben?»
«Ich hatte aufgegeben»
Wird eine Lage als lebensbedrohlich empfunden, schaltet das Stammhirn auf Überlebensmodus. Und sind weder Flucht noch Angriff möglich, folgt Erstarrung. Oder Gehorsam. Isabelles Mann sagt heute noch, dass er seine Frau weder zuvor noch danach jemals so erlebt habe: abwesend, apathisch, als sei sie woanders. Und genauso habe sie sich auch gefühlt: «Ich hatte aufgegeben.»
In ihrer Erinnerung hörte Isabelle eine Ärztin noch etwas sagen, das nach «gerissen» und «Gratis-Piercings» klang. «Ich wusste nicht, wovon die Frau da redet, aber ich empfand es als beleidigend, dass so über meinen offenbar verletzten Körper geredet wurde.» Als die Ärztin begann, den Dammriss zu nähen, spürte Isabelle jeden Stich. Sie wies darauf hin, sagte, dass sie Schmerzen habe. Man nähte ohne Betäubung weiter. «Es war von Anfang bis Ende der blanke Horror.»
«Eine Standardgeburt in der Schweiz»
Ein Alptraum? Definitiv. Gemäss Hebamme Carole Lüscher aber vor allem eines: Alltag. «So wie Isabelle ihr Geburtserlebnis beschreibt, kommt es tausendfach vor, eine Standardgeburt in der Schweiz», sagt sie. Lüscher leitet die Hebammenpraxis 9punkt9 in Bern und war eine der Expertinnen, die im letzten November an einer Medienkonferenz auf das Thema «Gewalt unter der Geburt» aufmerksam gemacht haben. Die Veranstaltung bildete den Auftakt zu den jährlichen Aktionstagen «16 Tage gegen Gewalt an Frauen»; koordiniert von der feministischen Friedensorganisation CFD und getragen von hundert Partnerorganisationen.
Nach der Geburt ernsthaft traumatisiert
Allein was Carole Lüscher, selbst dreifache Mutter, von grobschlächtigen Vaginaluntersuchungen, vorzeitigem Öffnen von Fruchtblasen, Drohungen und abwertenden Bemerkungen gegenüber Schwangeren berichtet, offenbart die Dringlichkeit des Themas. Denn es geht dabei nicht um Frauen, die eine Geburt zum Wohlfühlerlebnis hochstilisieren wollen und betrübt sind, wenn im Gebärsaal die Walgesangs- CD stottert. Nein, es geht um Frauen, die in einem der verletzlichsten und einschneidendsten Momente ausgerechnet von jenen Menschen ignoriert, übergangen oder gedemütigt werden, denen sie vertrauen müssen – und in deren Hände sie nicht nur ihr eigenes, sondern auch das Leben ihres Kindes legen. Nicht selten sind die betroffenen Frauen danach ernsthaft traumatisiert, zum Teil ihr Leben lang. Und nicht nur sie, auch Hebammen und Ärztinnen leiden oft über Jahre, wenn sie Zeuginnen derartiger Vorfälle geworden sind.
Stephan Oelhafen«Die Art und Weise, wie man Frauen begegnet, ist mindestens so wichtig wie der Geburtsverlauf an sich»
Einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Aufklärung steuert auch eine neue Studie der Berner Fachhochschule Gesundheit bei. Erstmals wurden dafür über 6000 Frauen, die in den Jahren 2018 und 2019 in der Schweiz ein Kind zur Welt gebracht haben, zu ihren Erlebnissen befragt. Ergebnis: Jede vierte Frau erlebte bei der Geburt «informellen Zwang». Was dies bedeutet, erklärt Studienleiter Stephan Oelhafen: «Meist geht es darum, dass eine Fachperson versucht, die Gebärende in eine bestimmte Richtung zu drängen.
Dabei geht es um eine Untersuchung, ein Medikament oder eine Behandlung, von denen die Fachperson denkt, sie seien richtig für die Frau, und sie diese dann unter Druck setzt.» Oft mit dem Argument, man könne sonst nicht mehr die Sicherheit von Mutter und Kind gewährleisten. Eine zentrale Erkenntnis ist für Oelhafen der omnipräsente Mangel an Respekt den Frauen gegenüber. «Die Art und Weise, wie man Frauen begegnet, ist mindestens so wichtig wie der Geburtsverlauf an sich. Traumatisch sind nämlich auch das Gefühl, ausgeliefert zu sein, der Kontrollverlust, das Gefühl der Erniedrigung.»
«Frauen müssen aufhören, bei einer Geburt alles kontrollieren zu wollen»
«Frauen müssen aufhören, bei einer Geburt alles kontrollieren zu wollen», betont indes Helene Huldi. Sie ist Frauenärztin und Geschäftsleiterin einer Solothurner Gemeinschaftspraxis für Gynäkologie und Geburtshilfe. «Eine Geburt ist eine Extremsituation und kann immer anders verlaufen, als man sich das vorher ausgemalt hat. Eine gewisse Flexibilität hinsichtlich der möglichen Massnahmen ist seitens der Patientinnen wichtig.» Zudem müssten Hebammen und Geburtshelferinnen «brutal» sein können – «sonst arbeiten sie schlichtweg im falschen Beruf!».
In Notsituationen, erklärt Huldi, sei keine Zeit für grosse Erklärungen. Trotz der markigen Worte – man darf Helene Huldi nicht missverstehen: Ihr ist bewusst, wie wichtig die Kommunikation und der gegenseitige Respekt zwischen Fachpersonal und Patientin sind. Ein schlichtes «Ich erkläre es Ihnen später» reiche ihres Erachtens jedoch meist aus, um eine Situation zu deeskalieren.
Carole Lüscher«Eine Geburt soll doch die Frauen stärken und sie stolz auf sich machen»
Mag stimmen. Tatsache jedoch ist, so zumindest die Erfahrung von Carole Lüscher, dass viele Schwangere bereits im Vorfeld damit rechnen, dass ihnen im Gebärsaal Leid widerfahren wird. «Wenn ich in den Geburtsvorbereitungskursen höre, was Frauen von einer Entbindung im Spital erwarten, dann klingt es, als ziehen sie in eine Schlacht», so Lüscher – «dabei soll eine Geburt doch die Frauen stärken und sie stolz auf sich machen.» Besonders toxisch macht das Gewalterlebnis im Gebärsaal der Umstand, dass die Verursacher nicht einfach nur ignorante alte Männer in Weiss sind. Auch Frauen können zu Täterinnen werden. Die Ursachen dafür sind vor allem struktureller Natur.
Kreisssäle so schnell wie möglich wieder frei machen
Ärztinnen stehen genauso wie ihre männlichen Kollegen unter Druck, Kreisssäle so schnell wie möglich für die nächste Patientin frei zu machen, was den Einsatz von wehenauslösenden Medikamenten und Kaiserschnitten befeuert. Zudem ist das Bedürfnis nach Kontrolle über den Geburtsprozess enorm, nicht zuletzt aus Angst, es könnte etwas schiefgehen. Und so verlassen sich die Verantwortlichen nicht selten «auf das Ergebnis von Maschinen», so Carole Lüscher: «Weil komplexe Diagnosen Zeit erfordern. Zeit, um alle Faktoren einzubeziehen, Zeit, um die Einschätzung mit der Frau zu teilen. Zeit, Dinge zu erklären und die Frau ernst zu nehmen. Zeit, die die Frau braucht, um wählen zu können.»
Drei bis vier Geburten parallel betreut
Hebammen wiederum sind gezwungen, meist drei bis vier Geburten parallel zu betreuen – und daneben noch Telefondienst zu leisten. Dabei wären die persönliche Bindung zur Patientin sowie die Sicherstellung einer 1:1- Betreuung die besten Schutz- und Präventionsmassnahmen. Denn die Schwangeren sind sich im Gebärsaal selbst selten die Nächsten. Der Situation ausgeliefert lassen sie in dieser für sie und ihr Kind so verletzlichen Phase Dinge mit sich geschehen, die sie normalerweise nie erdulden würden.
Was dabei genau als Zwang empfunden wird, ist jedoch von Frau zu Frau unterschiedlich. «Daher stellt nicht jeder erlebte Zwang auch einen Zwang im Rechtssinne dar», sagt die Basler Rechtsanwältin Anouck Zehntner von der Kanzlei Indemnis. Auch sie höre immer wieder von Fällen, in denen Angstmacherei betrieben werde. «Mir wurde etwa berichtet, dass eine Gynäkologin mit den Worten ‹Wir wollen ja nicht, dass ihr Baby im Bauch verhungert› auf die Einleitung der Geburt gepocht hat.»
Nur: Aus juristischer Sicht zieht der durch diese Aussage ausgeübte Zwang für sich allein keine Konsequenzen nach sich, da es sich laut Zehntner dabei weder um einen strafrechtlich relevanten Tatbestand handelt, noch zivilrechtliche Ansprüche daraus entstehen. Zivilrechtlich etwa müsste belegt werden, dass ein Schaden entstanden ist, der finanziell ersetzt werden muss. Gerade wenn es um psychische Folgen geht, bleibt oft die Beweislast der Knackpunkt. Aber: «Grundsätzlich stellt jede Behandlung ohne Einwilligung der Patientin einen Eingriff in deren körperliche Integrität dar. Liegt keine Einwilligung vor, ist die Behandlung grundsätzlich widerrechtlich», so die Rechtsanwältin.
Sophia Bentlin*«Er machte mir Angst ums Baby und liess mir quasi keine andere Wahl»
Nicht nur im Geburtssaal, auch in gynäkologischen Untersuchungsräumen kommt es immer wieder zu sexuellen Übergriffen – «nachweislich», wie selbst die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in ihren internen Richtlinien festhält. Und sie betont: «Das Problem wird generell unterschätzt.» Dies, weil die meisten Übergriffe gar nicht gemeldet würden, «einerseits aus Schuld- und Schamgefühlen, andererseits, weil die Patientinnen nicht wissen, an wen sie sich wenden können». Das genaue Ausmass ist folglich unbekannt. Statistiken gibt es keine. Doch verschiedene Studien aus dem Ausland gehen davon aus, dass bis zu zehn Prozent der Ärzte schon übergriffig wurden. Und: Meist sind es Wiederholungstäter.
«Ich spürte nur intuitiv, dass etwas ganz schrecklich schiefläuft»
Sophia Bentlin* führte 2017 ein routinemässiger Ultraschall ins Spital. Als ihr Partner den Raum verlassen hatte, drängte sie der behandelnde Gynäkologe plötzlich zu einer vaginalen Untersuchung, von der zuvor keine Rede war. «Ich fühlte mich überrumpelt. Er machte mir Angst ums Baby und liess mir quasi keine andere Wahl.» Was in den folgenden Minuten im Untersuchungszimmer passierte, kann Bentlin auch nach drei Jahren Traumatherapie nicht genau sagen. Aber sie ist sich bis heute sicher, sexuell belästigt worden zu sein. Vom Moment an, wo sie entkleidet auf der Liege lag, sei die Situation gegen ihren Willen «sexualisiert » gewesen, so Bentlin. Im ersten Moment habe sie gar nicht gecheckt, was da passierte. «Ich spürte nur intuitiv, dass etwas ganz schrecklich schiefläuft.»
Am Ende verliess Bentlin verwirrt den Raum – und verbrachte den restlichen Tag damit, das verstörende Gefühl in sich zu ergründen. Sie schrieb den Arzt an, teilte sich mit, wollte eine Antwort auf die Frage, was genau geschehen war und warum sie sich nicht mehr an die ganze Untersuchung erinnern könne. Der Arzt äusserte daraufhin zwar sein Bedauern, wies aber jegliches Verschulden von sich.
«Ich war im Alltag oft wie weggetreten»
Der Vorfall hinterliess tiefe Spuren – und riss Sophia vier Tage nach der Entbindung, mit dem Hormonsturz, in ein tiefes Loch: «Es war ein wahr gewordener Alptraum, eine Erfahrung, die wünscht man seinem schlimmsten Feind nicht.» Wenn sie ihr Baby zum Stillen ansetzte oder ganz plötzlich, auf dem Weg zum Einkaufen; immer wieder ereilten Sophia massive Flashbacks. «Ich war im Alltag oft wie weggetreten, konnte monatelang nicht mehr auf dem Rücken schlafen, weil das getriggert hat.»
Viele Frauen bleiben nach derartigen Erlebnissen in einem dissoziativen Zustand, ohne dass dieser wie im Fall von Sophia als posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wird. Schlafstörungen, nervöser Hyperantrieb und Flashbacks – das alles sind typische Symptome, die Missbrauchsopfer aufweisen.
Bin ich zu empfindlich?
Sophia holte sich schnell professionelle Hilfe. Dennoch dauerte es Monate, bis sie sich überwand, gegen den Arzt Anzeige zu erstatten. Die Scham ob der eigenen Passivität im Augenblick des Geschehens und das Suchen nach einer Mitschuld sind bei Opfern sexueller Übergriffe klassische Verhaltensmuster. Auch Sophia stellte sich selbst infrage. Zeige ich den Mann zu Unrecht an? Bin ich zu empfindlich? Sie rief bei diversen ärztlichen Berufsverbänden an, meldete sich beim Kantonsarzt. Einfach weil sie das Gefühl nicht loswurde, dass die vaginale Untersuchung damals alles andere als zwingend gewesen ist – und dass der Arzt diese sexuell ausgenutzt hat. Es müsse schon ein bisschen etwas Schlimmeres passieren, damit ein Arzt nicht mehr praktizieren dürfe, habe ihr das Kantonsarztamt erklärt. «Was denn noch?», fragt Sophia zurück, die mehr als 15 000 Franken für die Therapie und die Kosten der juristischen Auseinandersetzung weitgehend privat übernehmen musste.
Eine Strafuntersuchung lehnte die zuständige Staatsanwaltschaft ab. Bei den Vergleichsverhandlungen mit der Klinik ging es Sophia letztlich «vor allem darum, diesem Mann ins Gesicht zu sagen, wie beschissen das alles für mich war und was das für mich ausgelöst hat». Obwohl selbst die Staatsanwaltschaft die traumatischen Folgen des damaligen Arztbesuchs nicht in Abrede stellte, blieb eine Entschädigungszahlung seitens der Klinik über 4000 Franken die einzig Konsequenz. Der betreffende Arzt praktiziert weiter. Das Spital verpflichtete sich lediglich, ihn und die bei ihnen tätigen Gynäkologinnen und Gynäkologen weiterhin anzuweisen, die Richtlinien der Schweizer Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe über sexuelle Übergriffe in der Arztpraxis bewusst einzuhalten.
Haftung von Medizinalpersonen
«Wenn es um die Haftung von Medizinalpersonen geht, machen meiner Ansicht nach die Gesetzgebung und die Rechtsprechung in der Schweiz es den Patienten sehr schwer, ihr Recht durchzusetzen. Es braucht ein hohes Durchhaltevermögen», sagt Rechtsanwältin Anouck Zehntner. Die Tatsache, dass die Patientin den Beweis erbringen muss, dass ein Behandlungsfehler begangen wurde und dieser zu einem bestimmten Schaden geführt hat, stelle eine hohe Hürde dar – «zumal als Beweis meistens nur die durch die beschuldigte Medizinalperson erstellten Dokumente zur Verfügung stehen», so Zehntner. Ebenfalls abschreckend sind die hohen Kosten, die ein rein zivilrechtliches Gerichtsverfahren nach sich ziehen kann.
Carole Lüscher hat im Lauf ihrer Tätigkeit als Hebamme selbst viel Unrecht erlebt – oder von Kolleginnen zugetragen bekommen. Da ist die Rede von einem Arzt, der trotz der Schreie seiner Patientin weiter so stark an der Nabelschnur riss, dass die Gebärmutter mit herauskam. Anstatt sich zu entschuldigen, habe er nur kommentarlos den Operationssaal angesteuert und es anschliessend dem Ehemann überlassen, das Vorgefallene seiner Frau zu erklären. Ein Mal habe sie selbst einen Beschwerdebrief an die Klinikleitung abgeschickt.
«Was soll denn so ein Arzt für ein Vorbild sein?»
Damals wurde Lüscher Zeugin, wie ein Gynäkologe zu seiner friedlich dösenden Patientin ins abgedunkelte Zimmer kam. Die Frau hatte gerade eine Periduralanästhesie (PDA) bekommen und erholte sich von einer Wehe. Ohne Begrüssung oder Kommentar zog er sich die Gummihandschuhe über und steckt der Frau seine Finger in die Scheide. Auf den entrüsteten Kommentar der Hebamme und auch des Ehemanns wies der Arzt lautstark jegliche Vorwürfe zurück. «Noch dazu hatte er einen Kollegen in der Ausbildung dabei, was soll denn so ein Arzt für ein Vorbild sein?», so Lüscher. Von der Belegschaft unterschrieb die Hälfte den Brief. Die anderen hatten zu grosse Angst vor negativen Sanktionen.
Helene Huldi«Ich kann als Ärztin nicht immer wissen, was eine Patientin schon alles erlebt hat»
Mittlerweile weisen die hiesigen Spitäler ihre Mitarbeitenden immerhin an, Patientinnen sechs Wochen nach der Behandlung aktiv zu kontaktieren, um sie nach ihren Erfahrungen zu befragen. Oft sackt das Erlebte nämlich ohnehin erst etwas zeitversetzt, gerade wenn es daheim ein Neugeborenes zu versorgen gilt. Helene Huldi begrüsst solche Nachgespräche. «Auch mir passiert es, dass eine Patientin mein Verhalten nicht okay findet und ich Grenzen überschreite, ohne es zu realisieren. Ich kann als Ärztin nicht immer wissen, was eine Patientin schon alles erlebt hat», sagt die Gynäkologin.
So gebe es nicht selten Frauen, die traumatisiert sind von einem früheren Missbrauch. «Sie erleben – durch ihre Vorgeschichte gesteuert – eine für mich völlig normale Handlung ganz anders, sind aber in dem Moment vielleicht erstarrt und unfähig, dies zu formulieren. Frauen sind in der Geburtssituation dem Körper ausgeliefert und können sich ohnmächtig fühlen. Deshalb ist ein nachträgliches Treffen zwischen Patientin und behandelnder Ärztin manchmal sogar noch wichtiger als ein Vorgespräch, um das Erlebte adäquat aufzuarbeiten.»
Isabelle Brechbühl jedenfalls geht bis heute nicht gern an der Klinik vorbei, in der ihr erstes Kind zur Welt gekommen ist. Dass es damals Probleme mit den Herztönen ihres Sohnes gegeben hat, erfuhr sie weder von ihrer Ärztin noch von der Hebamme. Erst Jahre später fand sie die Kraft, den Geburtsbericht zu lesen, der keine Entschuldigung, wohl aber einen ersten Erklärungsansatz für das damals brachiale Vorgehen im Gebärsaal lieferte. Isabelle hatte vergleichsweise Glück. Ihr Körper reagierte mit Erbrechen und starkem Zittern auf die Geburt, Schüttelfrost und Zähneklappern inklusive. Sie konnte das Erlebte weitgehend abschütteln – und fand umgehend Freude an ihrem Baby.
«Ich wollte nicht jammern»
Mit dem traumatischen Geburtserlebnis aber blieb sie lange Zeit allein. Denn natürlich ist es für Freunde, aber auch für die Eltern selbst ein Einfacheres, sich über das Neugeborene zu freuen und das Erlebte zu bagatellisieren. Nach dem Motto: Hauptsache, das Baby ist gesund. Selbst mit ihrem Mann hat Isabelle lange Zeit nicht über das Geburtserlebnis reden können. Zu gross war seine Scham, seiner Rolle als Beschützer nicht angemessen nachgekommen zu sein. Ungeachtet der Tatsache, dass auch er in der damaligen Situation chancenlos war. «Ich selbst habe es bewusst vermieden, das Thema anzuschneiden. Ich wollte nicht jammern und zugeben müssen, dass diese Geburt das Schlimmste war, was mir jemals passiert ist. Zumal niemand in meinem Umfeld jemals von einem positiven Geburtserlebnis erzählte. Und so blieb ich in der Annahme, dass es wohl okay war, wie es bei mir gewesen ist.» Heute aber, zwei Geburten später, weiss Isabelle: Das war es nicht.
* Name geändert