Digitale Plattformen fördern Kreativität, lassen uns Neues ausprobieren oder Wissen teilen. Doch gerade in Familien führt die Internet- und Social-Media-Nutzung immer wieder zu Ärger. Warum nur? Unsere Autorin Tanja Ursoleo plädiert für mehr Gelassenheit und für ein Miteinander statt Verbote.
Ich bin eine Digital Mom. Ich muss Sie aber enttäuschen, wenn Sie nach Instagram-tauglicher Inspiration mit polierter Wohnung und spielenden Kids im Park im perfekten Setting suchen. Statt Sharenting, also Erziehung als Lifestyle, wie Autorin und Journalistin Anya Kemenetz den aktuellen Social-Media-Trend der Insta-Moms bezeichnet, hat mir die digitale Welt als Mutter noch ganz andere Möglichkeiten eröffnet. Seit mein neunjähriger Sohn ein Baby war, weiss er, was ein Touchscreen ist und wie ein iPhone funktioniert (Hallo Siri!). Und als später sein Internetkonsum, vor allem auf Youtube, immer mehr anstieg, musste ich umdenken. Nein, ich habe nicht sein Tablet versteckt und das Wi-Fi ausgeschaltet. Ich wollte vor allem eins: ihn aus der Passivität herausholen. Er ist ein begeisterter Videofilmer (Mami macht es vor), also eröffnete ich ihm einen Youtube-Kanal. Sein erstes Video über das Sonnensystem wurde über 300-mal angeklickt. Wir sprechen viel über unsere Erfahrungen in der digitalen Welt, er zeigt mir seine Lieblings-Youtuber, aka Mega-Influencer, von deren Existenz ich vorher keinen Schimmer hatte, erklärt mir, wie er Minecraft-Welten kreiert, oder einen Roboterhund mit Lego baut. Ich zeige ihm, wie meine 360°-Kamera funktioniert und wie ich meinen Content aufbereite. Die Applikationen und digitalen Plattformen, die wir heute alle auf unseren Geräten haben, eröffnen uns eine neue Welt der Möglichkeiten: Kreativ sein, Neues ausprobieren, sein Wissen mit anderen teilen – ein Kinderspiel.
Natürlich sind Ängste rund um den Konsum, also auch um Privatsphäre, Fake News und Cyber Mobbing, legitim, doch allzu oft versteift man sich auf die negativen Aspekte, die die Digitalisierung mit sich bringt. Vielleicht sind auch Sie in der Zeit vor dem Internet aufgewachsen, und gehören nun zur ersten Generation Eltern, die Kinder im digitalen Zeitalter erziehen. Veränderung ist unbequem, aber wir tun unseren Kindern keinen Gefallen, wenn wir einfach nur verbieten oder uns aus dieser Welt zurückziehen.
Viele Ratgeber und Experten orientieren sich an der 3-6-9-12-Methode des französischen Psychoanalytikers und Psychiaters Serge Tisseron, die er bereits 2013 aufgestellt hat: kein Bildschirm unter 3 Jahren, keine eigene Spielkonsole vor 6, kein Internet vor 9 und kein unbeaufsichtigtes Internet vor 12 Jahren. Klingt ein bisschen veraltet, schliesslich hat Tisseron diese Richtlinien bereits 2013 aufgestellt. Doch vor allem die Spielkonsole ab 6 ist mir persönlich ein Dorn im Auge. Mein Sohn scheint sich (noch) nicht für die Playstation zu interessieren. Als er zuletzt mit einem Freund zum Spielen verabredet war, widmete der sich ausschliesslich seiner Konsole.
Der Deutschlehrer Philippe Wampfler hat Tisserons Regel aktualisiert: vor 3 Jahren Bildschirmnutzung begleiten und einüben, kein eigenes Gerät vor 8, keine unbegleitete Nutzung von Social Networks vor 10 und keine unbegleitete Internetnutzung vor 12 Jahren. Er erklärt: «Generell sollte die Regel auf die Lebensumstände einer Familie angepasst werden. Die von mir eingesetzten Grenzen sind eher kognitive: Kinder können erst nach einer bestimmten Entwicklung mit Medien und Geräten so umgehen, dass sie sicher sind. Entscheidend ist deshalb nicht, Kindern den Zugang zu verweigern, sondern sie zu begleiten und als Eltern abzuschätzen, wie etwas auf ein Kind wirkt und ob es damit umgehen kann.» Und wie sieht es mit Ihren eigenen digitalen Gewohnheiten aus? «Vergessen Sie nicht, dass Ihr Kind sich an Ihrem Verhalten orientiert, weniger an dem, was Sie sagen», erklärt Autorin Anya Kamenetz, die sich für ihr Buch «The Art of Screen Time» intensiv mit dem Thema befasst hat, «es liegt an uns Eltern, unsere eigenen Regeln innerhalb der Familie zu setzen, um einen positiven Rahmen im Umgang mit Technologien zu schaffen.»
Auffallend ist, dass es in den Ratgebern und Regelbüchern oft um Bildschirme geht und wie viel Zeit Kinder im Internet verbringen. Doch die Technologien bleiben nicht stehen und die Techgiganten arbeiten intensiv an Headsets, Brillen und Goggles. Technologien wie Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality werden einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Im Moment ist der Einstieg zwar noch einem technisch versierten Publikum vorbehalten – hohe Preise, zu wenig qualitativer Content und vor allem funktionieren die Technologien nur mit einem sehr leistungsfähigen Computer – doch das könnte sich bald ändern. Dann stehen wir als Eltern vor neuen Herausforderungen, denn dann geht es nicht mehr nur um Bildschirme, sondern um ein Eintauchen in virtuelle Welten.
Auch wenn mein Sohn, entgegen aller pädagogischen Richtlinien und Warnungen, bereits sehr früh online unterwegs war – er kann sehr gut mit Schere, Stift und Papier umgehen. Ebenso wie virtuelle Werke mit Tilt Brush kreieren. Das eine schliesst das andere nicht aus.