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Sind wir wirklich Sklavinnen von Östrogen & Co.?

Gesundheit

Sind wir wirklich Sklavinnen von Östrogen & Co.?

  • Text: Sarah Lau, Foto: Stocksy 

Unsere Autorin spürt die ersten Anzeichen der Wechseljahre. Oder was ist sonst der Grund für ihre miese Laune? Lassen wir die Hormonbombe am besten einfach mal hochgehen.

Ich hasse sie. Bemerkungen wie: «Die hat wohl ihre Mens». Gern gepaart mit abschätzigen Blicken. Und ich mag es fast genauso wenig, wenn Frauen unwirsche Reaktionen mit dem Hinweis entschuldigen: «Sorry, PMS, weisch».

Problematisch an Äusserungen zum Hormonhaushalt finde ich vor allem, dass sie nahezu immer mit Ableitungen über Unvermögen einhergehen – und fast ausschliesslich Frauen betreffen. Ungeachtet der Tatsache, dass in Männern ebenso Testosteron, Östrogen und Co. am Wirken sind. Allerdings muss ich zugeben, dass auch ich mich – vor allem seit die vierzig überschritten ist – tatsächlich konfrontiert sehe mit Stimmungsschwankungen, ganz zu schweigen von den zunehmenden körperlichen Beschwerden, die mein Körper mir allmonatlich bereitet. Kurzum: Ja, auch ich fühle mich immer öfter «hormonig» – was auch immer das genau heissen mag. Denn seien wir ehrlich: Dafür, dass Hormone angeblich eine so entscheidende Rolle in unserem Dasein spielen, wissen die meisten unter uns herzlich wenig über sie. So auch ich. Also fange ich an zu recherchieren.

Rund tausend Hormone arbeiten in meinem Körper, davon sind gerade mal um die hundert näher erforscht. Sie sitzen in endokrinen Drüsen wie der Schilddrüse und den Eierstöcken, werden aber auch in bestimmten Zellen und Geweben gebildet, wie etwa im Herzen oder im Magen. Via Blut überbringen diese Botenstoffe Nachrichten und erteilen Befehle. So wird vom Stoffwechsel bis zum Schlaf, über Stimmung, Atmung und Sex so ziemlich jeder Bereich unseres Lebens von ihnen geregelt. Ich verschlinge Bücher darüber.

Fortpflanzung und Fleckenentferung

Je mehr ich lese, desto drängender die Frage: Bin ich eigentlich nicht mehr als meine Hormone – zyklusbedingt berechenbar und ihnen machtlos ausgeliefert? Julie Holland, Autorin des «New York Times»-Bestsellers «Moody Bitches» sagt klar: ja. Ihr zufolge sind wir mehr oder weniger alle auf dem Entwicklungsstand einer Neandertalerin. Weniger haarig vielleicht, dafür nach wie vor determiniert von unseren (Geschlechts-)Hormonen.

In der ersten Zyklushälfte bis zum Eisprung sind wir gut drauf, Östrogen wirkt als Antistresshormon, wir fühlen uns verführerisch und fürsorglich. Schliesslich sind wir auf Befruchtungssuche. In den zwei Wochen danach, in der lutealen Phase zwischen Eisprung und Menstruation, sinkt der Östrogenspiegel und «wir strengen uns nicht mehr ganz so an, den potenziellen Vater unserer Kinder bei der Stange zu halten», wie Holland es formuliert. Nun sei die perfekte Zeit für den Hausputz, eine Art Nestbausyndrom setze ein.

Aha. Fortpflanzen und Fleckenentfernung bestimmen also mein Dasein. Garniert wird das Ganze dann noch mit Tipps von sogenannten Hormone Health Coaches, wie Frau zyklusbedingte Stimmungsschwankungen positiv für sich nutzen soll. Ein florierendes Geschäft. Blöd nur, dass ich auf diese horoskopähnlichen Ratschläge («Führen Sie jetzt schwierige Gespräche!») ziemlich allergisch reagiere.

«Die Unterschiede zwischen Mann und Frau wurden in meinem Universum eher ignoriert als betont»

Doch warum eigentlich? Warum wehre ich mich so vehement, mich als hormongesteuertes Wesen zu betrachten? Nicht zuletzt, weil mir mein Leben lang beigebracht wurde, ungeachtet meines Geschlechts alles erreichen zu können, sprich: Die Unterschiede zwischen Mann und Frau wurden in meinem Universum eher ignoriert als betont. Entsprechend fällt es mir schwer, spezifisch weibliche Leiden – seien es nun Mens- oder Wechseljahrbeschwerden – publik zu machen.

Fernsteuerung Testosteron

Tamponfreie Marathonläufe unter dem Hasthtag #freebleeding zu posten, ist für mich in etwa so abwegig wie der Verzehr von Känguruhoden im Dschungelcamp. Dabei sehe ja durchaus auch ich den Enttabuisierungsbedarf. Durch die Unterstreichung der Unterschiede aber wittere ich umgehend Benachteiligung (bis heute hält sich nicht nur bei US-Politikern die Ansicht, Menstruationszyklen und Menopause seien Grund genug, Frauen von wichtigen Ämtern auszuschliessen). Mal ganz abgesehen davon, dass die Narzisstin in mir den Gedanken der hormonellen Gleichschaltung von uns Frauen indiskutabel findet.

Wie gut, dass es nicht nur Julie Holland, sondern auch Menschen wie Nataly Bleuel und ihr Buch «Das sind die Hormone» gibt. Es ist verständlich geschrieben, berücksichtigt auch gleichgeschlechtlich Liebende und Transgender-Personen – und hinterfragt selbst vermeintlich Selbstverständliches; zum Beispiel die Kausalität zwischen Hormonen und Verhalten. Bleuel verweist dabei unter anderem auf den portugiesischen Verhaltensneuroendokrinologen Rui Oliveira. Dieser fand heraus, dass Fussballspielerinnen vor einem Match mehr Testosteron produzierten als männliche Sportler. Bei den Spielerinnen, die das Spiel gewannen, hielt sich der hohe Testosteronspiegel, während er bei den Verliererinnen wieder sank.

Die Theorie, dass nicht nur das Hormon das Verhalten bestimmt, sondern eventuell auch das Verhalten die endokrinen und neurologischen Prozesse, untermauert die Wissenschaftsjournalistin Bleuel noch mit einer anderen Studie. Diese zeigt, dass bei Schauspielerinnen und Schauspielern – in die Rolle versetzt, einen Mitarbeiter feuern zu müssen – automatisch der Testosteronspiegel stieg. Und zwar bei den weiblichen Akteurinnen sehr viel mehr als bei den männlichen. «Es ist mit den Hormonen also ein bisschen so wie mit dem Huhn und dem Ei. Was war zuerst da? Das Testosteron, das ein bestimmtes Verhalten (fern-)steuern soll? Oder eine Situation in meinem Umfeld, die einen Hormonausstoss auslöst?», fragt Bleuel.

Chemische Emotionsschleuder

Dass es im Gegenzug auch Situationen gibt, in denen zweifellos hormonelle Prozesse den Ausschlag geben – und die nach dem immer gleichen Schema ablaufen –, beschreibt die Autorin natürlich auch. Bestes Beispiel: die Geburt. Ich selbst gehöre zu den Frauen, deren Hormone (Östrogen, Progesteron und Endorphin) am dritten Tag nach der Entbindung um das Fünfzig- bis Hundertfache abgefallen sind und bei denen der Milcheinschuss mit einem ausgewachsenen Babyblues einherging.

Bis heute blicke ich irritiert auf diesen tränenreichen Tag zurück. Dass chemische Prozesse in meinem Körper derart gewaltige Emotionen hervorrufen können, war mir bis zu diesem Tag nicht bewusst. Nicht zuletzt, weil ich ja fünfzehn Jahre lang die Pille genommen habe und damit – unreflektiert, bedenkenlos und ehrlicherweise auch ohne Beschwerden – körperlich als auch psychisch stärkere Ausschläge künstlich umschifft habe.

Jetzt stehen als nächste Etappe meines Lebens die Wechseljahre an und anders als damals bei der Verschreibung der Pille will ich genauer wissen, was meine Optionen sind. Fakt ist: Mein Östrogenspiegel sinkt ab, wodurch gefässschädigendes LDL-Cholesterin mächtiger und mein Risiko für einen Herzinfarkt steigen wird. Das Risiko, eine postmenopausale Osteoporose zu entwickeln, steigt Statistiken zufolge um rund dreissig Prozent. Wahrscheinlich werde auch ich unter Hitzewallungen leiden und damit klarkommen müssen, dass mein Kalorienbedarf abrupt auf 65 Prozent des Bedarfs einer Dreissigjährigen abrutscht. In der Perimenopause, also der Phase um die Transition, verdreifacht sich mein Risiko, an einer Depression zu erkranken.

Und während das Östrogen in den fruchtbaren Jahren für Fettspeicherung in Brüsten und Hüften gesorgt hat (genau: sexy Reize aussenden!), sorgt die Östrogen-Dominanz nun für Wassereinlagerungen plus Fettumverteilung Richtung Bauch. Ich werde an einem Tag super drauf sein und am nächsten beschissen. Obwohl sich objektiv nichts an meinem Leben geändert haben wird. Mal abgesehen von den ganzen existenziellen Fragen und Unsicherheiten, die mich in dieser Transformationsphase umtreiben werden, höre ich schon jetzt die Schreie bestimmter Freundinnen bei der blossen Erwägung einer Hormonersatztherapie. Was tust du deinem Körper an? Hormone! Das gibt Brustkrebs!

Hormonelles Dasein beeinflussen

Die Schweizerische Menopausengesellschaft – genauer Christian De Geyter, der die Abteilung für gynäkologische Endokrinologie am Universitätsspital Basel leitet, differenziert. Denn ja, es stimme, dass Tumorwachstum bei Brustkrebs gerade nach der Menopause durch Östrogene gefördert wird. Es stimmt aber auch, «dass Hormonpräparate existieren, für die sogar ein erniedrigtes Brustkrebsrisiko gefunden wurde, wie zum Beispiel für Raloxifen», so De Geyter.

Ob ich letztlich Hormone nehmen werde oder nicht, weiss ich noch nicht. Kann ja auch sein, dass ich zu den zwei Dritteln gehöre, die keine oder nur wenig Beschwerden während der Wechseljahre haben. Sollte ich zum leidenden Rest gehören, will ich schon jetzt klarstellen: Die Unterstellung, ich sei nur wegen eines pralleren Decolletées und vollem Haar auf die Extra-Portion Östro¬gen aus, finde ich zutiefst beleidigend.

Was ich mir in jedem Fall schon jetzt anschaue, sind die Faktoren, mit denen jeder von uns selbstbestimmt auf sein hormonelles Dasein einwirken kann: Ernährung, Schlaf, Berührungen, Bewegung, Glücklichmachendes. Denn ja, mein Körper bildet zunehmend weniger Melatonin, was zu nächtlichen Schlafstörungen führt. Aber: Nur zehn Minuten Mittagsschlaf reichen, um besser durch den Tag zu kommen, gleichzeitig das Wachstumshormon Somatotropin zu aktivieren und im Schlaf Muskeln auf- und Fett abbauen zu lassen.

Es ist auch richtig, dass ich viel schneller zunehmen werde, während ich zwischen 45 und achtzig fast die Hälfte meiner Muskelmasse verliere. Es stimmt aber auch, dass Bewegung und moderates regelmässiges Training gerade von Frauen ab vierzig radikal vernachlässigt wird – und bei Wiederaufnahme Wunder bewirkt. Und dabei ist es recht egal, ob Rudern, Wandern oder (Hormon-)Yoga der Schlüssel zum Schwitzen ist.

Hormonelle Auf und Ab

Dass in Japan übrigens kein Wort für Wechseljahrbeschwerden existiert, führt man auf die sojareiche Ernährung zurück, die östrogenähnliche Substanzen beinhaltet. Leider sprechen immer mehr Studien dafür, dass es den Knochen nicht viel bringt, sich ab vierzig plötzlich tonnenweise Miso und Tofu einzuverleiben. Unbestritten ist aber, dass Ernährung einen riesigen Einfluss aufs Wohlbefinden hat. Dazu gibt es viele neue interdisziplinäre Erkenntnisse. Der Neurologe Christof Kessler gab jüngst in einem Interview mit der «Süddeutschen Zeitung» an, dass eine zucker- und fettreiche Ernährung auf Dauer zu einer erhöhten Anfälligkeit für Depressionen führt. Nüsse, Fisch, Käse, Eier, dunkle Schokolade aber helfen aufgrund des enthaltenen Tryptophans, die Serotoninproduktion anzukurbeln. Ergebnis: Die Stimmung hebt sich.

Nun wird mich auch das nicht davor bewahren, immer mal wieder zickig, aufbrausend, erschöpft und / oder ungerecht durchs Leben zu gehen. Über allem aber steht, mich so wenig wie möglich von den ganzen Ängsten und Widersprüchlichkeiten stressen zu lassen, die die hormonellen Auf und Ab mit sich bringen. Schwankende Östrogen- und Progesteronspiegel und die im Lauf der Jahre abgearbeiteten Nebennieren schaffen es nämlich immer schlechter, das Stresshormon Cortisol in Schach zu halten. Wenn aber viel davon ausgeschüttet wird, versucht der Körper, Energie zu sparen, indem er die Funktion von Eierstöcken, Schilddrüse und Verdauungsorganen runterfährt. Das Ergebnis: Von massiver Erschöpfung hin zu Verdauungsproblemen, chronischen Entzündungen, Heisshunger und Schlafstörungen ist alles dabei.

Es kommt also einiges auf mich zu. Manchmal werde ich meinen hormonellen Schwankungen und Launen nachgeben, ein anderes Mal werde ich mich von mir abzulenken wissen oder mich auffangen lassen. Und wenn ich wieder mal so richtig genervt bin von all den unaufhaltbaren chemischen Prozessen und Reaktionen meines Neandertalerkörpers, wer weiss, vielleicht werde ich mein Ätzendsein doch auch mal mit dem süffisanten Hinweis auf das sich verabschiedende Östrogen entschuldigen: «Sorry, Menopause, weisch.»

Die Top 5 der Hormone – welches ist eigentlich für was zuständig?

Östrogen
Das Schönheitshormon

Zur Gruppe der Östrogene zählen Östron, Östradiol und Östriol, wobei man diese meist vereinfachend unter dem Oberbegriff Östrogen zusammenfasst. In Eierstock, Plazenta und Nebenniere aus Testosteron gebildet, steuern die weiblichen Geschlechtshormone den Zyklus, die Reifung der Eizelle und die Fruchtbarkeit. Ausserdem wirken sie auf Knochenbau und Stoffwechsel ein, schützen Herz und Gefässe – und machen uns hübsch. Denn Östrogen pusht die Kollagenbildung, bewahrt uns vor Falten, zaubert ein pralles Decolletée und volles Haar. Liegt eine Östrogendominanz (Gelbkörperschwäche) vor, können PMS-Beschwerden, Gewichtszunahme und unerfüllter Kinderwunsch die Folge sein. Östrogenmangel dagegen verursacht die typischen Wechseljahrbeschwerden von Hitzewallungen bis zu Angstzuständen.

Progesteron
Das Schwangerschaftshormon

Progesteron, auch Gelbkörperhormon genannt, ist der wichtigste Vertreter der Gestagene. In der ersten Hälfte des Zyklus ist es diesem Sexualhormon zu verdanken, dass sich in der aufgebauten Gebärmutterschleimhaut eine befruchtete Eizelle einnisten und wachsen kann. Tritt während einer Schwangerschaft ein Mangel an Progesteron auf, kann es zu einer Fehlgeburt kommen, da die Schleimhaut die Eizelle nicht halten kann. Progesteron gilt als Gegenspieler des Östrogens, und zusammen sichern sie Fruchtbarkeit und Fortpflanzung. Progesteron kann aber noch mehr: Es hält die Androgene in Schach, steigert die Lust, wirkt entwässernd und antidepressiv.

Oxytocin
Das Kuschelhormon

Dass Sex für mehr Nähe und Verbundenheit sorgt, liegt am dabei ausgeschütteten Neurohormon Oxytocin. Es macht uns vertrauensseliger und empathischer, reduziert Angst und Stress und wirkt generell prosozial. Bei Schwangeren leitet es die Wehen ein, stimuliert nach der Entbindung die Milchproduktion und sorgt auch hier für eine tiefere Bindung zwischen Mutter und Baby. Derzeit wird sogar geforscht, inwieweit Oxytocin soziale Fähigkeiten bei Autisten verbessern und bei chronischen Depressionen eingesetzt werden kann.

Testosteron
Das Powerhormon

Auch wenn Frauen nur ein Zehntel der bei Männern üblichen Menge dieses Sexualhormons im Blut haben, spielt es auch im weiblichen Körper eine entscheidende Rolle – organisch und psychisch. Testosteron fördert die Lust, stimuliert den Muskelaufbau, sorgt für Antrieb und reguliert den Fett- und Zuckerstoffwechsel. Zu viel ruft starke Körperbehaarung und Akne hervor, zu wenig erzeugt unter anderem Hitzewallungen, Schlafstörungen und Depressionen. Übrigens: Oft senkt die Pille das freie Testosteron in der Blutbahn und kann entsprechend Ursache für eine gedämpfte Libido sein.

Cortisol
Das Stresshormon

Unter Anspannung produziert unser Körper in der Nebennierenrinde Cortisol. Zusammen mit den Botenstoffen Noradrenalin und Adrenalin sorgt das primäre Stresshormon für die Freisetzung von Glukose als Energiequelle – wichtig für unser Gehirn, das in Stresssituationen bis zu zwölf Mal mehr an Nervennahrung benötigt. Nicht überlebensnotwendige Funktionen wie Verdauung werden runtergefahren und unsere Organe in Alarmbereitschaft versetzt. So werden wir leistungsfähiger und konzentrieren uns auf das für den Moment Wesentliche. Was kurzfristig eine tolle Sache ist, macht langfristig Probleme: Dauerhaft sind eine erhöhte Herzfrequenz, ansteigender Blutdruck, Schlaflosigkeit und je nach Typ Gewichtszu- oder -abnahme gesundheitsschädigend.