Liebe & Sex
Şeyda Kurt: «Ich war irritiert, als ich zum ersten Mal eine Beziehung ohne Drama erlebte»
- Text: Marie Hettich
- Bild: Thomas Seips
Die 29-jährige Autorin Şeyda Kurt erklärt in ihrem Bestseller-Sachbuch «Radikale Zärtlichkeit», warum Liebe und Politik unbedingt zusammengedacht werden müssen – auch wenn es mühsam ist.
annabelle: Şeyda Kurt, Sie schreiben in Ihrem Buch, Sie hätten Angst bekommen, als Sie zum ersten Mal eine «heilsame und faire» Liebesbeziehung erlebten. Wieso das?
Şeyda Kurt: Weil wir alle mit einem Bild von Liebe aufwachsen, in dem der Schmerz dazugehört. Als ich nach vielen sehr unguten Erfahrungen mit Anfang 20 zum ersten Mal in einer Beziehung war, in der das Drama nicht ein Kernelement der Beziehung darstellte, hat mich das sehr irritiert. Es irritiert mich zum Teil heute noch: Wenn es nicht weh tut, kann es dann überhaupt richtig sein? Kann eine Liebesbeziehung auch eine Liebesbeziehung sein, wenn sie nicht total leidenschaftlich ist – ist das dann nicht eher eine Freund:innenschaft?
Wie hat sich diese Liebeserfahrung denn konkret von den vorherigen unterschieden?
In erster Linie darin, dass sie auf dem Commitment beruht, einander guttun und füreinander sorgen zu wollen. Sich zu respektieren und zu begleiten – auch und gerade in unserer Verschiedenheit. Das meine ich auch mit dem Begriff «Zärtlichkeit» im Buchtitel: ein produktives, bejahendes Miteinander – Zärtlichkeit als eine kontinuierliche Praxis.
Und was meinen Sie mit «radikal»?
Damit ist die politische, gesamtgesellschaftliche Ebene gemeint. Wir gehen ja irgendwie alle davon aus, dass so vieles in unserer Welt böse, berechnend, sexistisch, rassistisch und so weiter ist – aber in der Liebe, so denken wir, treffen Menschen in ihrer Rein- und Wahrheit aufeinander. Das ist natürlich Quatsch. Deshalb plädiere ich dafür, die Liebe aus politischen Überlegungen auf keinen Fall herauszuhalten.
Was soll mir das persönlich bringen?
Es passiert ja ganz oft, dass man erst in der Retrospektive merkt, dass man sich in gewissen Beziehungen total scheisse gefühlt hat oder zu einem Menschen geworden ist, der man nie sein wollte. Sobald etwas politisiert wird, werden Muster sichtbar – und die eigenen Erfahrungen sind nicht mehr bloss die eigenen Erfahrungen. Gerade wenn sich FLINTA-Personen – also Frauen, Lesben sowie inter, nicht-binäre, trans und agender Personen – miteinander abgleichen, wird deutlich, wie viele von uns Gewalt und Scheitern erlebt haben. Im besten Fall erkennen wir solche Situationen also künftig rechtzeitig – und können dann handeln.
«Es ist ein Privileg, davon auszugehen, dass die Liebe etwas Heiliges ist»
Können Sie nachvollziehen, wenn Leute vielleicht finden: Ach Mensch, muss denn jetzt auch noch die Liebe durchanalysiert werden? Die Liebe – das grosse, schöne Mysterium?
Klar kann ich das nachvollziehen. Aber es ist ein Privileg, davon auszugehen, dass die Liebe etwas Heiliges ist – so, wie sie in Film und Literatur dargestellt wird. Sehr viele Menschen haben gar nicht den Luxus, das zu glauben, weil sie in ihren Beziehungen Gewalt erleben. Sie erfahren sich als machtlos und ohnmächtig. Ausserdem sind viele vom Konzept der romantischen Liebe per se ausgeschlossen: queere oder asexuelle Menschen zum Beispiel – oder Leute, die nicht monogam leben.
Woran liegt es, dass gerade FLINTA-Personen so oft miese Erfahrungen machen?
Daran, dass FLINTA-Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit von klein auf gelernt haben, dass sie vieles um der Harmonie Willen einfach schlucken müssen. Ich bin zum Beispiel in einer ziemlich politischen linken Familie aufgewachsen. Wir waren oft auf Demos und Veranstaltungen, wo immer wieder die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern propagiert wurde – und irgendwann habe ich gemerkt: Hä, bei uns zuhause läuft das aber irgendwie anders!? Die Care- und Hausarbeit war total ungleich verteilt.
Alles blieb an der Mutter hängen?
Ganz genau. Sie hat sich komplett aufgeopfert. Und immer wurde mir erzählt, dass sie das aus Liebe macht, aus ihrem weiblichen Naturell heraus. Hier werden unter dem Namen der Liebe Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse verschleiert.
Heisst?
Der Kapitalismus ist auf unbezahlte Hausarbeit angewiesen. Ausserdem muss man sehen: Wer hat denn in den letzten Jahrhunderten hauptsächlich über die Liebe geschrieben? Darüber, was Liebe ist oder sein sollte? Dass sie etwas Naturgegebenes ist – etwas, dem wir komplett ausgeliefert sind? Allermeistens waren das cis-hetero Männer mit Besitz. Indem sie das Verhalten der «liebenden» Frau vorschrieben, konnten sie davon ausgehen, dass ihr Eigentum und ihre Familienverhältnisse gesichert sind. Es ist so wichtig, dass wir uns über diese Dinge bewusstwerden – und sie nicht von Generation zu Generation einfach weiter- und weitergeben.
«Wie viel Raum darf ich einnehmen, wie viel darf ich fordern?»
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es sich für Sie revolutionär angefühlt hat, nicht mehr monogam zu leben. Möchten Sie das ausführen?
Für mich hat sich der Schritt revolutionär angefühlt, weil ich in einer Familie mit sehr starren Vorstellungen von einem «guten Frauenleben» aufgewachsen bin. Zum Beispiel der Vorstellung, dass ich durch eine Heirat finanziell abgesichert sein muss. Als weibliche und zusätzlich rassifizierte Person habe ich gelernt, dass ich keine grosse Handlungsmacht habe – kein Recht darauf, Dinge selbst zu entscheiden. Mit diesem Thema habe ich auch heute noch zu kämpfen: Wie viel Raum darf ich einnehmen, wie viel darf ich fordern?
Was spricht aus Ihrer Sicht gegen die Monogamie?
Ich habe per se überhaupt nichts gegen monogame Beziehungen – das soll jede:r für sich selbst entscheiden. Aber aus feministischer und auch aus anti-rassistischer Perspektive heraus muss die Monogamie als patriarchales Prinzip kritisch beäugt werden: Seit jeher ging es darum, Kontrolle auf Körper, die Kinder bekommen, auszuüben. Für Männer war es wichtig, ihren Besitz im Sinne einer Blutsverwandtschaft weiterzugeben – und so von Generation und Generation, wie ein kleines Unternehmen, Kapital anzuhäufen. Und auch dem System Kapitalismus kommt das bürgerlich-monogame Raster natürlich gelegen.
Wie denn?
Menschen sind eine sehr kontrollierbare und verwertbare Einheit, wenn sie im Doppelpack aus Mann und Frau durchs Leben gehen – die Staats- und Wirtschaftsakteur:innen wissen genau, mit wem sie es zu tun haben. Kein Wunder also, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der der Monogamie als Institution – als bürgerliche Ehe zum Beispiel – Vorrechte zu Teil kommen, die andere Beziehungsformen nicht haben.
Und welche Rolle spielt die anti-rassistische Perspektive, die Sie gerade angesprochen haben?
Die Vorstellung von dieser monogamen, zivilisierten, westlichen Seinsform hat dazu gedient, sich zum Beispiel von kolonisierten Menschen auf dem afrikanischen Kontinent abzugrenzen – und diese, weil sie nicht in diesen monogam-bürgerlichen Verhältnissen gelebt haben, als unzivilisiert, als animalisch abzuwerten.
«Einige schrieben, sie hätten durch mein Buch eingesehen, was für ein krasses Arschloch sie in ihrer letzten Beziehung waren.»
Im letzten Kapitel fordern Sie «die Vision einer queeren Gesellschaft». Was soll das sein?
Schon seit jeher gibt es queere Autor:innen und Denker:innen, die sich aus einer existenziellen Dringlichkeit heraus die Frage gestellt haben: Wie können wir einander neu begegnen? Wie können wir Liebe und Zärtlichkeit neu denken? Die Serie «Pose» zeigt das beispielsweise so schön: Es geht um Liebe und Fürsorge, aber das wird nicht in erster Linie über romantische Zweierbeziehungen erzählt, sondern über selbstgewählte Gemeinschaften aus Menschen, die sich aufgrund eines ähnlichen Schicksals, aber auch aus politischen Überzeugungen zusammentun. Die sagen: Wir sind zwar nicht blutsverwandt, aber wir sind eine Familie und sorgen füreinander.
Gab es eigentlich eine Rückmeldung zum Buch, die Sie besonders erfreut hat?
Ich habe überraschenderweise sehr viele Rückmeldungen von cis-hetero Männern bekommen. Einige schrieben, sie hätten durch mein Buch eingesehen, was für ein krasses Arschloch sie in ihrer letzten Beziehung waren – und ihre Exfreundin um Entschuldigung gebeten. Das fand ich dann doch sehr cute.
Şeyda Kurt, geboren 1992 in Köln, studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus. Ihr Sachbuch «Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist» hat es auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft.