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Sexual Wellness: Ein neues Milliarden-Business

Sexual Wellness: Ein neues Milliarden-Business

Ein neuer Trend lässt die Kassen von Tourismus und Beauty-Industrie klingeln: Sexual Wellness.

Und, was machst du in den nächsten Ferien? Wie wärs mit einer Reise nach Kalifornien, um mit einem Intimacy-Coach unter dem Sternenhimmel die eigenen sexuellen Wünsche zu ergründen? Oder doch lieber in einer Wellnessklinik die Vagina mittels Lasertherapie verjüngen lassen?

Nach der Fitnesswelle der 80er, der Entdeckung von New-Age-Heilpraktiken und Meditationsmusik in den Spa-Tempeln der 90er und jüngst dem Aufkommen von Medical Spas samt Ernährungsgurus und Mental-Health-Beauftragten rückt jetzt die sexuelle Gesundheit in den Fokus der Tourismus- und Beauty-Industrie. Sexual Wellness heisst das Schlagwort der Stunde und hat weder mit Ferien im Swingerclub noch mit klassischem Sextourismus etwas zu tun. Was also genau bieten Retreats und Wellnesskliniken, die mit Fachpersonen aus Gynäkologie, Sexual- und Psychotherapie sowie Endokrinologie aufwarten?

Die Sha-Wellnessklinik mit Ablegern in Mexiko und im spanischen Alicante gilt mit ihrer 2023 gegründeten Sexual Health Unit als Vorreiterin der Branche. Hier fährt hin, wer sich für Detox und Anti-Aging interessiert – für rund 2000 Franken extra gibts das Sexual-Wellbeing-Programm obendrauf. Fragt man Cynthia Molina, Leiterin der spanischen Unit, definiert sie Sexual Wellness als «eine Art Reise, die dazu dient, die eigene sexuelle Gesundheit, aber auch Freiheit zu erkunden».

Dabei gehe es um viel mehr als nur um Sex: «Es geht um Selbstbewusstsein, Scheidenflora, Hormone – nicht um die Frage, wie viele Orgasmen jemand hintereinander haben kann oder welche Toys eine Person benutzt.» Bei Bedarf spreche sie mit ihren Patient:innen natürlich auch darüber, so die Psychologin. «Doch es geht für mich vor allem darum, herauszufinden, wie es um das Befriedigungslevel meines Gegenübers bestellt ist, und ganzheitlich die Ursachen etwaiger gesundheitlicher Probleme aufzuspüren.»

Dabei seien es hauptsächlich Männer mit Erektionsstörungen und Frauen mit menopausalen Beschwerden wie Scheidentrockenheit oder Inkontinenz, die das Angebot der Sha-Kliniken in Anspruch nehmen. Kosmetische Eingriffe wie Schamlippenverkleinerung und Hymenoplastik, die Rekonstruktion des Jungfernhäutchens, werden auch angeboten – der Wellbeing-Begriff ist so dehn- wie ausschöpfbar. Paare, die in Molinas Sprechstunde kommen, hätten vorwiegend ein Problem: «Keinen Sex», so die spanische Professorin. «Wenn beide in Sex-Rente gehen wollen, ist das ja auch wunderbar, allerdings ist meist jemand in der Beziehung unglücklich mit der Situation.»

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«Wer in einem der Top-Medical-Spas eincheckt, muss ein Budget von mindestens 7000 Franken pro Woche mitbringen»

Gerade medizinische Luxusanbieter mit interdisziplinär aufgestellter Ärzt:innenschaft sind gut darin, alles rauszuholen, was es mit dem Versprechen der intimem Happiness rauszuholen gibt. Ob «Sha», der deutsche «Lanserhof», die Clinique La Prairie bei Montreux oder auch die Zürcher The Kusnacht Practice – ihr Angebot hat mit demjenigen für Kassenpatient:innen so gar nichts zu tun. Wer in einem der Top-Medical-Spas eincheckt, muss ein Budget von mindestens 7000 Franken pro Woche mitbringen.

Dafür gibt es die Gesamtanalyse der eigenen Gesundheit und die Möglichkeit, intime Treatments zu buchen, von deren Existenz die wenigsten überhaupt wissen: So kann der Beckenboden mit Elektrostimulation behandelt werden, wirksam sowohl bei Inkontinenz als auch für eine bessere Durchblutung. Es gibt Laserbehandlungen, die durch gezielte Tiefenwärme die Kollagenbildung anregen und die Durchblutung sowie die Elastizität der Vagina fördern. Männer indes können durch eine sogenannte Shockwave Therapy, bei der über ein künstlich erzeugtes Mikrotrauma im Penis Blutgefässe neu aufgebaut und die Durchblutung unterstützt wird, ihre Erektionsfähigkeit verbessern. Und lernen, dass auch sie ihren Beckenboden trainieren sollten.

Alles physische Voraussetzungen, um schmerzfrei und lustvoll Sex haben zu können. Meist sind diese Angebote auf Menschen in ihrer Lebensmitte zugeschnitten, denn in der Regel können erst die sich, wenn überhaupt, einen entsprechenden Aufenthalt leisten.

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«Es dringt mehr und mehr ins Bewusstsein, dass unsere sexuelle Gesundheit von grundlegender Bedeutung für die allgemeine Gesundheit ist»

Noch reisen Besucher:innen eher selten vorrangig ihrer sexuellen Gesundheit wegen an. Was lockt, ist die Aussicht auf Longevity, also auf ein nicht nur langes, sondern vor allem lange gesundes Leben. Es dringt mehr und mehr ins Bewusstsein, dass unsere sexuelle Gesundheit von grundlegender Bedeutung für die allgemeine Gesundheit ist. Nicht nur, weil beim Sex Oxytocin und Endorphine ausgeschüttet werden, die die Laune heben. Endorphine haben auch eine morphiumähnliche Wirkung und lindern Kopf-, Rücken- und Menstruationsschmerzen. Sex kurbelt zudem die Produktion des Müdigkeitshormons Prolaktin an und sorgt so für besseren Schlaf. Und Frauen, die mindestens einmal die Woche mit ihren Partner:innen schlafen, dürfen sich über eine höhere Konzentration von Immunglobulin A im Blut freuen, also Antikörpern, die vor Viren und Bakterien schützen.

«Der weibliche Orgasmus hat eine der stärksten entzündungshemmenden Wirkungen in der Natur», sagt Sergio Pecorelli, emeritierter Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe in Brescia und Yale. Er untersucht seit Jahren sexuelle Dysfunktionen und verweist auch auf einen wichtigen Umkehrschluss: «Die Erektionsfähigkeit, sowohl von Männern als auch von Frauen, ist ein hervorragender Indikator für die Gesundheit» – egal ob in vaskulärer, endokriner, neurologischer, immunologischer oder onkologischer Hinsicht. So kann etwa eine erektile Dysfunktion auf eine chronische Entzündung hinweisen. Diabetes ist eine solche sogenannte Silent Inflammation, eine stille Entzündung, die Gefässprobleme und damit Durchblutungsstörungen verursacht. Wenn die Durchblutung gestört ist, wird es schwierig, bei Erregung Blut in den Penis und die Klitoris zu transportieren.

Zudem ist der Körper im Hintergrund konstant mit Reparaturarbeiten beschäftigt, was puren Stress bedeutet und den Hormonhaushalt gehörig durcheinanderbringt. Zu viel des Stresshormons Cortisol wirkt sich nicht nur negativ auf die Lust aus, sondern ist auch ein wichtiger Auslöser für Schlafstörungen. Wer schlecht schläft, weiss, dass diese mit Stimmungsschwankungen, Energielosigkeit oder gar Depressionen einhergehen und die Lust auf heisse Nächte definitiv nicht steigern.

«Erst ein gesunder, ausbalancierter Körper kann auch wieder etwas empfinden»

Allgemeinmedizinerin Verena Immer

«Gesundheit ist eine komplexe Sache und gerade weil Frauen in ihrem Leben so vielen hormonellen Umwälzungsprozessen ausgesetzt sind, muss bei ihnen umfassender untersucht und ein Gesamtzusammenhang hergestellt werden», sagt Allgemeinmedizinerin Verena Immer, die sich auf Integrative und Longevity-Medizin spezialisiert hat und in der Zürcher The Kusnacht Practice am Wohlbefinden ihrer Klient:innen arbeitet – mit Programmen wie dem Female Health Blueprint, der die Gesundheit der Patient:innen mittels 360-Grad-Ansatz inklusive Hormoncheck, Stoffwechseluntersuchungen, Sauerstofftherapie und Infusionen boostert.

Sie kenne etliche Frauen, die gerade bei unspezifischen Beschwerden wie Schlafstörungen von Ärzt:innen abgespeist wurden: Die Laborwerte seien okay, die Beschwerden könnten also nur psychisch bedingt sein. «Genau deswegen existieren Kliniken wie die unsere – personalisierte Medizin ist auf dem Vormarsch und wir haben die Ressourcen, genauer hinzuschauen.»

Wer bei Verena Immer auf das eine Allheilmittel hofft, wird enttäuscht. Vielmehr gehe es darum, mit sehr individuell eruierten Stellschrauben wie etwa Ernährungsberatung, bioidentischen Hormonen, personalisierten Infusionsprogrammen oder Intervall-Sauerstofftherapie den Hormonmetabolismus sowie den Energiestoffwechsel wieder ins Lot zu bringen. «Erst ein gesunder, ausbalancierter Körper kann auch wieder etwas empfinden», so Verena Immer.

Auch spezielle Menopausen-Retreats gibt es, und zwar zunehmend auch jenseits der High-End-Medical-Spas. Im Südtiroler «Preidlhof» etwa sollen Heilmassagen, Schlafmessungen, Akupunktur und Coachings Frauen helfen, ihren Mittelpunkt zu finden. Wer mit Yoga, Meditation und Atemübungen die Balance wiedergewinnen und darüber hinaus Entzündungen, Schmerzen und Übergewicht reduzieren will, den dürfte ausserdem die Hormone Balance Clinic der Hotelgruppe Costa Navarino im Südwesten des Peloponnes in Griechenland interessieren oder auch der dreitägige «Hormon Balance»-Workshop im Hotel 1884 Norderney auf der deutschen Nordseeinsel, wo Muskelaufbau und Bewegung etwa mit Nordic Walking im Fokus stehen.

Und auch in der Schweiz gibt es immer mehr budgetfreundliche Angebote, übrigens auch für esoterisch Interessierte. Im Walliser «Beau Site» etwa soll im «Frauen-Retreat» vermittelt werden, wie man dank Kräuterkunde, TCM und weiblicher Weisheiten gelassen durch die Wechseljahre kommt.

«Die fortschreitende Enttabuisierung von Masturbation bis Menopause sorgt für eine ganze Palette an neuen Angeboten auf dem Reisemarkt»

Dass sich Menschen in Zeiten wachsender Sexlosigkeit – denn genau das belegen repräsentative Umfragen und Studien weltweit, vom französischen Marktforschungsinstitut Ifop bis zum amerikanischen National Survey of Sexual Health and Behavior – bewusster mit ihrem Körper und ihrer sexuellen Gesundheit auseinandersetzen wollen, hat unterschiedliche Gründe. Eine der Hauptursachen liegt in der Pandemie: Während sich damals viele Paare aufgrund der psychischen Belastung zu gestresst für gemeinsamen Sex fühlten, blieben Singles aufgrund der Kontaktbeschränkungen oft isoliert.

Selbstbefriedigung – im Zeitalter von Online-Streaming-Diensten wie Youporn ohnehin auf dem Vormarsch – gewann weiter an Bedeutung. Passend dazu liess der Onlineshop Amorana verlauten, dass die Sextoy-Verkäufe in der Schweiz um rund 300 Prozent gestiegen seien. Der Erfolg von Auflegevibratoren wie dem Satisfyer führte der Welt zudem einmal mehr vor Augen, dass Frauen auch – oder gerade – ohne penetrativen Sex zum Orgasmus kommen.

«Ein Segen», findet Cynthia Molina. «Ich verordne meinen Patient:innen, sich regelmässig selbst zu befriedigen – nur so lernen sie sich und ihre Bedürfnisse kennen, und das ist die Grundlage für die Kommunikation sexueller Wünsche. Ich spreche übrigens nie von Masturbation, sondern bewusst von Selfcare, Selbstbefriedigung oder auch Do it yourself», so Molina. Noch konkreter wird Sergio Pecorelli: «Frauen sollten zu häufigen Orgasmen ermutigt werden – jeden zweiten Tag einen.»

Die fortschreitende Enttabuisierung von Masturbation bis Menopause sorgt für eine ganze Palette an neuen Angeboten auf dem Reisemarkt. Es fängt mit einer subtilen Einladung zu unverkrampftem Sex im Hotelzimmer an: Immer mehr urbane Häuser wie das Pariser «Le Grand Mazarin» stellen neben Schokomandeln sogenannte Love Kits in die Minibar, darin sorgsam verpackte Kondom-Boxen oder auch kleine Sextoys.

Einen Schritt weiter gehen die Macher:innen von «Unyoked», die ihre Waldhütten in Suffolk oder Wales mit iPads ausstatten, auf denen downloadbare Kurse von Sex Coach Georgina Grace zu finden sind – das passende Equipment wartet in der Kommode. Das «W» in Brisbane erprobte gar, seinen Gäst:innen beim Buchen der Love Suite die Concierge-Dienste einer Sexologin beiseitezustellen. Und bei den Workshops von Back to the Body Collective sollen Frauen in Retreats etwa in der Toskana einen Safe Space finden für «eine tiefere Verbindung zurück zu dir und deinem Körper». Sound Healing, Ecstatic Dance und Body Acceptance Photoshoot inklusive.

«Was aber, wenn das Angebot, das über solche Öle und Gels hinausgeht, nur privilegierten Schichten vorbehalten bleibt?»

Das Global Wellness Institute (GWI), eine gemeinnützige Organisation, die sich der Förderung des Wohlbefindens und der Gesundheit weltweit widmet, hat den Trend ebenfalls im Blick. Dass die Menschen seit der Pandemie vermehrt Ferien mit Mehrwert suchen und die Pflege der mentalen Gesundheit in die Ferienplanung mit einfliesst, schlägt sich auch in den Zahlen nieder.

So prognostizierte das GWI vergangenes Jahr, dass sich der globale Wellnesstourismus bis 2027 zu einem Wirtschaftszweig mit einem Volumen von rund 1.3 Milliarden Franken entwickeln wird. Das US-Marktforschungsinstitut Arizton geht davon aus, dass die gesamte Sexual-Wellness-Industrie – Reisen, aber auch Kurse oder Toys – bis 2028 einen Wert von 55 Milliarden Franken erreichen wird.

Alina Hernandez, Co-Vorsitzende der beim GWI angesiedelten Mental Wellness Initiative und selbst Entwicklerin verschiedener Wellness-Programme, sieht im Aufkommen von Angeboten rund um unsere sexuelle Gesundheit «weit mehr als nur den Trend des Monats». Sie führt aus: «Das Ganze muss im Kontext betrachtet werden: Wir befinden uns mitten in einem Paradigmenwechsel. Millennials und die Generation Z erben zumindest in unseren Breitengraden von ihren Eltern einen viel offeneren Umgang mit Sexualität. Das bedeutet nicht, dass sie promiskuitiver leben, aber sehr viel bewusster und wählerischer mit ihrer Sexualität umgehen. Sie sind offen, ihre sexuelle Gesundheit ganzheitlich zu pflegen.»

Entsprechend fluten auch Beautyprodukte für den Intimbereich den Markt. US-Schauspielerin und Unternehmerin Gwyneth Paltrow hat sich mit ihrem Lifestyle-Imperium Goop natürlich bereits dem Thema verschrieben und eine eigene Sektion für Sexual Wellness Products eingerichtet. Dort gibt es neben aufklärenden Interviews auch Kapseln mit Bockshornklee, die das sexuelle Verlangen unterstützen sollen. Und wer in den heimischen Drogeriemärkten unterwegs ist, weiss, dass hier schon heute Intimpflegeöle und wasserbasierte Gleitgels neben Lockenwicklern zu finden sind.

Was aber, wenn das Angebot, das über solche Öle und Gels hinausgeht, nur privilegierten Schichten vorbehalten bleibt? «Wird es nicht», sagt Hernandez. «Nehmen wir den Tesla – den konnte sich anfangs auch niemand leisten. Jetzt gibt es eine ganze Armada an günstigen E-Autos.»

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