Mit «Mario» ist erstmals ein Drama über homosexuelle Fussballer in den Kinos. Warum sich bisher kein aktiver Schweizer Profifussballer geoutet hat, wollten wir von Regisseur Marcel Gisler wissen. Und wie es ist, als Heterosexueller eine Sexszene mit einem Mann zu drehen, haben wir Hauptdarsteller Max Hubacher gefragt.
Interview mit Marcel Gisler
annabelle: Marcel Gisler, warum wollten Sie einen Film über homosexuelle Fussballer drehen?
Marcel Gisler: Mein Co-Autor Thomas Hess kam 2010 mit dieser Idee auf mich zu. Es war schon damals ein medial ständig präsentes Thema, darum dachte ich: Einen solchen Film muss es schon geben! Wir haben dann herausgefunden, dass dem nicht so ist. Das wollte ich ändern und gleichzeitig die Chance nutzen, eine berührende Liebesgeschichte zu erzählen. Liebesgeschichten im Spannungsfeld eines Liebesverbots berühren uns ja schon seit jeher. Und der Profifussball ist genau das: das Umfeld für ein modernes Liebesverbot.
Sie sagen, die Idee sei 2010 an Sie herangetragen worden. Bis zum Drehbeginn hatten Sie also viel Zeit, zu recherchieren. Haben Sie zur Vorbereitung mit homosexuellen Profifussballern gesprochen?
Nicht mit aktiven. Ich habe mit Funktionären gesprochen, die wussten, dass es aktive homosexuelle Fussballer gibt, aber es wurden mir natürlich keine Namen genannt. Und ich konnte mit Marcus Urban sprechen. Der hat sich als erster deutscher Fussballer geoutet, jedoch erst 2007, lange nach seiner Aktivzeit. Ein bekanntes Muster: Auch Thomas Hitzlsperger hatte sein Coming-out erst nach dem Ende seiner Karriere. Es ist tatsächlich wie im Film: Aktive schwule Spieler outen sich nicht.
In der Schweiz hat sich kürzlich der Schiedsrichter Pascal Erlachner als schwul geoutet. Warum traut sich das kein Profispieler?
Die meisten Vereine pflegen grundsätzlich eine offene und liberale Kultur, was die sexuelle Diversität betrifft. Trotzdem raten sie den Spielern von einem Coming-out ab. Sogar Corny Littmann, ehemaliger Präsident des FC St. Pauli und selber offen schwul, gab diese Empfehlung vor einigen Jahren ab. Er sagte, dass Spieler, die sich outen, dumm wären, denn sie würden damit ihre Karriere und ihren Marktwert zerstören.
Warum senkt Schwulsein den Marktwert eines Spielers?
Die Vereine haben wohl Angst, dass es wegen eines offen homosexuellen Spielers zu Spannungen im Team kommen könnte. Bei meiner Recherche ist mir aufgefallen, dass besonders Teammitglieder aus anderen Kulturkreisen, in denen immer noch chauvinistische Rollenbilder vorherrschen, Probleme mit dem Thema haben. Diese Spannungen würden dann vielleicht der Teamleistung schaden, was natürlich nicht passieren darf. Aus denselben Befürchtungen würde es auch schwierig werden, einen homosexuellen Spieler weiterzuverkaufen. Wenn man sich die Transfersummen anschaut heutzutage, dann sieht man, wo das wahre Problem liegt: bei der Angst, viel Geld zu verlieren. Vordergründig muss der Schein also gewahrt werden. Im Hintergrund wissen aber viele Clubs über ihre homosexuellen Spieler Bescheid.
Ach ja?
Ja. Mir wurde beispielsweise von einem südamerikanischen Spieler Folgendes erzählt: Als er den Club wechselte, wurde vertraglich festgehalten, dass der Partner des Spielers mit ihm in dessen bezahlter Spielerwohnung wohnen darf und vom Club einen Sprachkurs bezahlt bekommt. Ein Coming-out ist aber undenkbar. Und es gibt auch bekannte Bundesligaspieler, die sich Scheinfreundinnen halten. Dieses Versteckspiel wird professionell gemanagt.
Die Clubs wollen also alles verschleiern. Trotzdem haben Sie von den Berner Young Boys, dem FC Bern und dem FC St. Pauli für den Film Unterstützung betreffend Infrastruktur und Recherche erhalten. Ist das kein Widerspruch?
Das kommt auf den Verein an. Es gibt sicher Clubs, die eine Unterstützung dieses Projekts abgelehnt hätten. Die Berner Young Boys werden im Film zum Beispiel durchaus kritisch beleuchtet in Bezug auf den Umgang mit Homosexualität. Als wir ihnen die entsprechenden Szenen gezeigt haben, haben sie aber alles anstandslos abgenommen, es schien ihnen ein realistisches Szenario. Dass wir ihre Trikots und ihr Logo verwenden konnten, war sogar ihre Idee. Dafür sind wir sehr dankbar.
Sie sagten, einige Spieler hätten noch immer Probleme mit dem Thema Homosexualität. Wie sieht es mit den Fans aus?
Auch das hängt von der Club- und Fankultur des jeweiligen Vereins ab: Der FC St. Pauli und seine Fans haben sich beispielsweise früh öffentlich gegen Homophobie ausgesprochen. Auch die Fans der Young Boys sind eher liberal. Bei einem Club mit vielen rechtsextremen Fans würde ein Coming-out dagegen schwierig, dort hört man in der Fankurve oft homophobe Gesänge.
Der Film hat bewusst kein Happy End. Warum?
Ich wollte nicht, dass das Publikum heimgeht und sagt: «Ist ja alles in Ordnung. Wir sind eine tolerante Gesellschaft.» Das wäre ein Märchen. Ich wollte, dass die Zuschauer nach dem Film betroffen sind und denken: «Jesses, muss es denn heute noch so sein?» Die Leute sollen sich Gedanken machen. Und: Ich wollte die Realität abbilden, den Status quo in Hinblick auf sexuelle Diversität im gesamten Spitzensport, nicht nur im Profifussball. Diese Thematik geht alle Disziplinen etwas an – fragen Sie mal bei den Eishockeyclubs nach.
Was wäre nötig, damit sich diese Realität irgendwann ändert?
Komischerweise kommt mir das berühmte «Stern»-Titelbild aus den 1970er-Jahren in den Sinn: Ein Cover mit lauter Frauenporträts und darüber die Überschrift «Wir haben abgetrieben». Ich habe das Gefühl, dass das die einzige Lösung wäre: Eine Gruppe schwuler Spieler outet sich. Dann wäre der mediale Druck auf dem Einzelnen nicht so gross. Beim Coming-out von Schiedsrichter Erlachner im letzten Jahr gab es ja einen unglaublichen Medienrummel, das macht es nicht einfacher. Ich weiss, dass sich die schwulen Spieler zum Teil kennen, ein Gruppen-Coming-out wäre also grundsätzlich machbar. Solange die Vereine ihre homosexuellen Spieler verstecken und die homophoben Gesänge ihrer Fans tolerieren, wird das aber nicht passieren.
Die Hauptverantwortung liegt also in jedem Fall bei den Clubs?
Bei den Clubs und den Verbänden. Die Fifa zum Beispiel hat keine Lust, sich durch eine scheinbar unwichtige Minderheitenfrage das Geschäft verderben zu lassen. Sehen Sie sich nur an, wo die nächste WM stattfindet. In Russland. Wir wissen ja, wie Schwule dort behandelt werden. Und 2022 wird es noch schlimmer: In Katar stehen auf homosexuelle Handlungen fünf Jahre Haft oder 90 Peitschenhiebe.
Das tönt nicht sehr zuversichtlich.
Nun ja, es gibt auch positive Entwicklungen: Schwule Fanclubs konnten in der Schweiz beispielsweise bewirken, dass es in der Trainerausbildung ein Modul zur sexuellen Diversität gibt, das ist zumindest ein Anfang. Vielleicht gelingt es uns irgendwann, dass wir uns nicht mehr für die sexuelle Orientierung eines Spielers interessieren. Dass wir sagen: «So what, ist doch egal, ob der Fussballer schwul ist oder nicht.» Das wäre schön.
Der Regisseur Marcel Gisler wuchs im Kanton St. Gallen auf und lebt heute in Berlin. Der 57-Jährige ist unter anderem als Drehbuchautor von «Lüthi und Blanc» bekannt und hat mit Filmen wie «Electroboy» und «Rosie» zahlreiche Preise gewonnen. Sein Film «Mario» ist dieses Jahr in der Kategorie Bester Spielfilm für den Schweizer Filmpreis nominiert.
Fünf Fragen an Hauptdarsteller Max Hubacher
annabelle: Max Hubacher, Sie haben selber einige Jahre Fussball gespielt. Ist Fussball homophob?
Max Hubacher: Ich habe Fussball gespielt, bis ich 14 war. Damals habe ich noch nicht bewusst über Homophobie nachgedacht. Aber klar, es gab viele blöde Sprüche wie «Das sieht so schwul aus» oder «Du bist eine Schwuchtel». So was habe ich auch selbst gesagt. Das Problem mit dem Fussball und der Homosexualität ist aber noch ein anderes: Fussball ist ein Mannschaftssport, man ist immer auf engstem Raum, duscht zusammen, schlägt sich ab und zu aus Spass auf den Arsch – «Buebespieli» halt. Wenn sich einer plötzlich outet, erschrecken die anderen. Obwohl es irrsinnig ist zu denken, der stehe deswegen auf jeden Mann im Raum. Hetero-Männer stehen auch nicht auf jede Frau.
Ist Homosexualität auch unter Schauspielern ein Tabu?
Ja, das ist ja das Schlimme. Einerseits haben homosexuelle Schauspieler Angst, ihre weiblichen Fans nach einem Coming-out zu verlieren. Andererseits ist auch das Umfeld schwierig: In Künstlerkreisen tun immer alle wahnsinnig weltoffen und tolerant. Sobald sich dann aber wirklich mal einer outet, sieht alles ganz anders aus: Dann fallen Sätze, die weit mehr sind als dumme Sprüche.
Sie sind heterosexuell – für den Film haben Sie Ihre erste Sexszene mit einem Mann gedreht. Hatten Sie Hemmungen?
Nein. Ich habe mir natürlich Gedanken darüber gemacht, wie ich das Ganze angehen soll. Aber irgendwann sagte ich mir: Gopf, wenn ich einen Heterosexuellen spiele, dann bereite ich mich auch nicht extra auf die Bettszene vor. Es sollte da keine Unterschiede geben – gespielt ist die Intimität ja in jedem Fall. Mein grosses Glück war auch, dass ich einen Charakter spielen durfte, der sich zum ersten Mal verliebt und seine Sexualität erst gerade entdeckt – Mario ist im Umgang mit Leon ja noch völlig naiv. Und genau so naiv bin dann auch ich an die Sache rangegangen.
Mario entscheidet sich im Film für die Karriere und gegen die Liebe – was hätten Sie getan?
Ich versuche immer, auf mein Herz zu hören. Wenn ich wie Mario Medikamente nehmen müsste, damit es mir gut geht, dann würde ich etwas an meiner Lebenssituation ändern. Und ich würde wohl noch stärker um meine grosse Liebe kämpfen. Ich kann durchaus nachvollziehen, wie Mario sich fühlt: Mit der Schauspielerei läuft es mir gerade sehr gut, ich arbeite unglaublich viel. Ich weiss, was es heisst, etwas für die Karriere zu opfern. Meine Familie, die Freunde, die Liebe, alles kommt zu kurz.
Sie sind für Ihre Rolle für den Schweizer Filmpreis als bester Darsteller nominiert. Was bedeutet Ihnen diese Nomination?
Ich habe mich unglaublich darüber gefreut. Vor allem, weil ich gerade für diesen Film nominiert wurde. Ich habe im letzen Jahr viele schwierige Rollen gespielt: einen Nazi zum Beispiel und einen Triebtäter. Der homosexuelle Fussballer war da mit Abstand die entspannteste Rolle, der Dreh eine tolle Zeit. Es ist schön zu sehen, dass man auch nominiert werden kann, ohne sich für eine Rolle bis zum Gehtnichtmehr zu quälen.
Schauspieler Max Hubacher spielt im Film den homosexuellen Mario. Der 24-jährige Berner hat schon in zahlreichen grossen Film- und Fernsehproduktionen im In- und Ausland mitgewirkt. Seinen Durchbruch schaffte er 2012 als Hauptdarsteller des Schweizer Spielfilms «Der Verdingbub». Für seine Rolle als Mario ist er als bester Darsteller für den Schweizer Filmpreis 2018 nominiert.
Darum geht es im Film
Mario ist zum ersten Mal im Leben richtig verliebt. In Leon, das neue Teammitglied aus Deutschland. Mario versucht, gegen seine Gefühle anzukämpfen – doch spätestens, als die Berner Young Boys eine gemeinsame Spielerwohnung für Mario und Leon organisieren, können die beiden ihre Zuneigung zueinander nicht mehr unterdrücken. Das merken auch die anderen im Team, und bald machen Gerüchte im Club die Runde. Mario muss sich entscheiden: Will er in die erste Mannschaft aufsteigen oder mit Leon zusammen sein? «Mario» zeigt den verzweifelten Versuch eines jungen Fussballers, seine Homosexualität zugunsten einer Profikarriere zu unterdrücken. Es ist eine herzzerreissende Geschichte über verbotene Liebe, Gefühlschaos und Zärtlichkeit in einem Testosteron-geladenen, homophoben Umfeld. Der Film läuft seit dem 22. Februar in den Schweizer Kinos.