«Mein neues Lieblingswort: Sapiosexual» titelt ein Post auf annabelle.ch über den Sexappeal von Intelligenz. Er ist nur ein paar Zeilen lang, doch seit Jahren der meistgeklickte Beitrag. Was ist dran an dem Wort?
Am 22. Dezember 2011 schrieb ich folgende Zeilen: «Kürzlich bin ich auf Facebook auf ein neues Wort gestossen: sapiosexual. Es hört sich ein bisschen scharf an und ein bisschen giftig, etwa so, wie Chili und Paprika zusammen. Und bedeuten tut es so viel wie: ‹Jemand, für den Intelligenz das sexuell attraktivste Attribut ist›. Wie wunderbar. Klar, mag ich bei Männern schön trainierte Unterarme, einen knackigen Po und wenig Bauch, aber all dies ohne Geist ist sinnlos. Ich bin also ab sofort eine bekennende Sapiosexual!»
Diese Zeilen – da werden Sie mir wohl kaum widersprechen – sind an Mittelmässigkeit kaum zu überbieten. Man könnte sagen, sie sind geradezu plump. Trotzdem – verziehen habe ich sie mir längst. Denn erstens brauchte ich an jenem Tag im Dezember dringend einen Inhalt für meinen damaligen Blog «Sex and Sensibility». Zweitens stehe ich zum Inhalt; Intelligenz und Klugheit empfinde ich tatsächlich als höchst erotisch. Ich liebe ein scharfes dialogisches Pingpong, ein intellektuelles Ringen, bei dem ich mich von meinem Gegenüber zusehends erkannt fühle. Und drittens habe ich in den letzten sieben Jahren andere Texte geschrieben, von denen ich zumindest hoffe, dass sie zum besagten Neunzeiler ein feingeistiges Gegengewicht bilden.
Umso ernüchternder ist nun aber die Tatsache, dass ausgerechnet diese Miniatur seit ihrem Erscheinen auf annabelle.ch der meistgeklickte Text überhaupt ist. Mit fast schon aufsässiger Hartnäckigkeit verdrängt er jegliche Konkurrenz: Reportagen, die unter tagelangen Qualen entstanden sind, Glossen, Kommentare, sogar Spargelrezepte und Sextoy-Tests. Dieser Neunzeiler, so scheint es, wird unweigerlich zur Krönung meines publizistischen Wirkens. Immerhin, könnte man nun sagen, denn das Attribut «meistgeklickt» ist ja nicht zu verachten. Doch, wie konnte es so weit kommen?
Vielleicht, so dachte ich mir, liegt es schlicht und einfach am Latein. Lassen Sie mich kurz ausholen: «Sapio» ist die erste Person Singular Indikativ Präsens des Verbs «sapere» und wird mit «ich weiss, ich verstehe, ich habe Geschmack» übersetzt. Kombiniert man nun «sapio» mit «sexuell», entsteht ein schickes Label, mit dem sich ein im Prinzip uraltes Phänomen passend zum aktuellen Zeitgeist lifestylisieren lässt. Denn um das erotische Potenzial der geistigen Potenz wusste schon meine Grosstante, zumindest erkannte sie, wenn sie ihr fehlte. So erzählte sie immer wieder, wie sie einen netten, aber eben nicht sehr gewitzten Gärtner, der sie heiraten wollte, links liegen liess, um in London Englisch zu lernen und sich nach was «Besserem» umzusehen. Natürlich war sie dabei auch auf Status aus, doch wollte sie einen Mann, der ihr auf Augenhöhe begegnen konnte. Leider kam nach dem Gärtner keiner mehr, und meine Grosstante blieb bis an ihr Lebensende unbemannt. Ob sie gerade deswegen 96 Jahre alt wurde und sich bis kurz vor ihrem Tod stabilster Gesundheit erfreute, sei dahingestellt.
Beim Forschen nach Gründen für den Aufschwung des Labels sapiosexuell stösst man schnell auf die These, dass heute, im Zeitalter sozio-medialer Huldigung dauergefilterter Fitnessmodels sowie des kollektiven Weidens an telegenen Junggesellen, der Fokus auf den Intellekt ein logischer Gegentrend ist. Herrscht das Credo «Sexy-ist-das-neue-Schlau», brauchts eben den Ausgleich «Intelligent-ist-das-neue-Sexy». Ein Indiz hierfür ist, dass parallel zum Erfolg der tumben TV-Kuppelshow «Bachelor» Datingplattformen wie Ok Cupid und Tinder den Terminus sapiosexuell in ihre Profilmasken integriert haben. Mittlerweile existieren Facebook-Gruppen wie «Intelligence Is Sexy», auf denen sich Frauen und Männer zusammenfinden, die Intelligenz als anziehender erachten als Äusserlichkeiten – schliesslich zerfallen Letztere mit zunehmendem Alter, Geist aber bleibt. 9.7 Millionen Menschen haben sich allein dieser Gruppe angeschlossen, fast so viele Menschen wie Schweden Einwohner hat. Um ihr Credo nach aussen zu tragen, verkauft «Intelligence Is Sexy» T-Shirts mit eben dieser Aufschrift für Frauen – und für Männer solche mit «Make Intelligence Great Again». Auf Instagram kursieren Sprüche wie: «You don’t need bigger boobs. You need to read better books» – Du brauchst keine grösseren Brüste. Du brauchst bessere Bücher. Oder: «I like men with massive throbbing vocabularies» – Ich liebe Männer mit heftig pulsierendem Wortschatz. Wer Letztere nicht im analogen Dasein findet, hat seit Neustem die Möglichkeit, auf der Dating-Site Getsapio.com nach einem Partner seines IQs Ausschau zu halten.
Mittlerweile versucht die Gemeinschaft der Sapiosexuellen, den Sexappeal von Intelligenz sogar wissenschaftlich zu erklären. In diesem Zusammenhang wird immer wieder eine Studie des amerikanischen Evolutionspsychologen Geoffrey Miller genannt, die belegen soll, dass der IQ eines Mannes mit der Qualität seines Spermas korreliert. Eine in der Tat attraktive Annahme, doch der widerspricht Tilmann Möltgen, stellvertretender Chefarzt Urologie des Kantonsspitals Aarau. «Die Qualität der Spermien wird einzig aufgrund deren Beweglichkeit, Konzentration und Schnelligkeit bestimmt», erklärt er trocken, «welche chromosonale Ladung sie haben, lässt sich nicht eruieren.» Er wendet aber ein, dass Intelligenz, oder besser Schlau-Sein, durchaus einen evolutionären Vorteil haben kann, es also Sinn macht, wenn sich eine schlaue Frau einen schlauen Mann sucht und umgekehrt. «Denn Schlauheit», so Möltgen, «ist der einzige Vorteil, den wir Menschen gegenüber allen anderen Spezies haben. Wobei wir uns hier natürlich fragen müssen, was Intelligenz überhaupt ist.»
Genau, und damit kommen wir zur Kritik am Terminus sapiosexuell. Rein akademisch getrimmte Intelligenz macht noch lang keinen Sexappeal. Insofern hätte meine Grosstante ihren Gärtner vielleicht doch mal genauer betrachten müssen. Denn ohne Humor, Selbstironie, Empathie und gute Manieren ist alle Schlauheit nichts (dies hätte ich im obigen Neunzeiler ergänzen sollen). So habe ich schon einige vielversprechende Dates aufs letzte Tram geschickt oder darauf beharrt, dass der Tisch, an dem wir dinierten, zwischen uns blieb. Jörgen zum Beispiel (alle Namen sind natürlich geändert) hatte zwar in Aussicht gestellt, beim Cunnilingus mit der Zunge griechische Buchstaben zu lecken, doch erstarrte er jedes Mal zu einem Betonkegel, wenn ich ihn auch nur ein bisschen hochnahm. Stefan hatte zwar atemberaubend über illegale Konstrukte bei Hedgefonds philosophiert, doch wurde er regelrecht ausfällig, als er bemerkte, dass sein Weinglas kaputt war, weil er glaubte, er hätte einen Glassplitter verschluckt und würde nun innerlich verbluten. Nach diesen Erfahrungen erstaunt es mich kaum, dass auf Parship, der grössten Schweizer Datingplattform, Intelligenz als wichtigstes Kriterium in der Partnerwahl erst an siebter Stelle figuriert – nach Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Humor und Treue. Notabene bei Frauen wie bei Männern.
Doch zurück zum Attribut «meistgeklickt». Nach eingehender Analyse muss man festhalten: Das Latein war dafür kein entscheidender Faktor. Sehr viel zentraler ist, dass ich mit «sapiosexual» die englische, nicht die deutsche Schreibweise verwendet habe, was die Reichweite meines Neunzeilers unendlich vergrössert – gleichzeitig aber auch für blitzschnelles Aussteigen gesorgt hat, da viele Userinnen den deutschen Text gar nicht verstehen. Der ultimative Multiplikator ist aber ein noch viel ernüchternder: die Top-Platzierung im Google-Ranking. Deren Genese lässt sich so interpretieren: Wir haben den Terminus «sapiosexual» 2011 ins Web katapultiert, also sehr früh, ganze drei Jahre, bevor die Dating-Apps Tinder und Ok Cupid den Begriff für sich entdeckt haben. So viel gutes Timing belohnen die Google-Algorithmen. Das heisst, wer den Begriff eingibt, sieht als Erstes eben meinen «Artikel». That’s it. So viel zu meinem journalistischen Wirken. Aber hey: Meistgeklickt ist meistgeklickt. Immerhin.