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Remo Largo als Erzieher der Nation

Body & Soul

Remo Largo als Erzieher der Nation

  • Text: Julia Hofer; Fotos: Dan Cermak

Eltern sollen Teenager vertrauen, anstatt sie zu kontrollieren, schreibt Remo Largo in seinem neuen Buch «Jugendjahre». Wie aber war der Erzieher selbst als Vater? Und wie erzieht seine Tochter Eva heute ihre Kinder? Vater und Tochter sagen sich die Meinung.

Remo Largo ist noch nicht da. Das scheint seine Tochter Eva überhaupt nicht zu stören. Als ob es das Normalste der Welt wäre, sagt sie: «Wir haben uns um 17.30 Uhr verabredet? Dann wird er um 18 Uhr hier sein.» In dieser Familie scheint jeder nach seiner eigenen Zeit zu leben. Eva Largos Küchenuhr geht eine Viertelstunde vor, damit sie sich nicht andauernd verspätet.
Tatsächlich: Pünktlich um 18 Uhr klingelt es. Remo Largo, der berühmte Schweizer Kinderarzt, Autor der Erziehungsstandardwerke «Babyjahre», «Kinderjahre» und «Glückliche Scheidungskinder» und Vater dreier Töchter, hat den Weg von Uetliburg (St. Gallen) zu seiner ältesten Tochter Eva und seinen Enkeln nach Winterthur-Wülflingen doch noch gefunden.

Remo Largo hat einen anstrengenden Tag hinter sich. Termine, Interviews, Stau. Aber jetzt umarmen ihn seine Enkel Jana und Remo («Uns hat der Name einfach gefallen», sagt Eva Largo, «das glaubt uns kein Mensch!»), und selbst der Hund latscht wedelnd Richtung Tür. Remo Largo ist 68 Jahre alt, er hat einen festen Händedruck und Augen, denen man sofort vertraut. Das violett  karierte Hemd steht ihm gut, der Schnauz ist – anders als bei der heutigen Jugend, die ihn als ironisches Zitat trägt – ernst gemeint. Obwohl er eigentlich nicht einsieht, warum bei jedem Interview von neuem fotografiert werden muss, folgt er brav den Anweisungen des Fotografen. Im Vorbeigehen legt er jeweils den Arm um seine Enkel, was die Teenager sichtlich zu geniessen scheinen. Man spürt sofort: Er ist kein Mann, der Angst vor Nähe hat.

Generation Largo

Sein neues Buch «Jugendjahre» ist zum Zeitpunkt des Interviews gerade eine Woche auf dem Markt, und bereits geht die zweite Auflage in Druck. 20 000 verkaufte Exemplare. Largo hat einmal mehr einen Nerv getroffen. Sein erstes Buch «Babyjahre» gehört wie der Kinderwagen zur Grundausstattung frischgebackener Eltern. Den todsicheren Tipp, wie man das Baby zum Durchschlafen bringt, findet man darin zwar nicht, Largos Thema ist vielmehr die Entwicklung des Kindes. Mit seiner Botschaft «Jedes Kind ist anders» hat er Generationen von Eltern zu mehr Gelassenheit verholfen – auch das kann nützlich sein, wenn das Kind die Nacht zum Tag macht. 18 Jahre nach Erscheinen der «Babyjahre» schliesst jetzt «Jugendjahre» Largos Serie zur Entwicklungspsychologie ab. Und wieder erhoffen sich Heerscharen von Eltern Hilfe und Rat. Diesmal im Umgang mit ihren Teenagern, die zurzeit wahrlich eine miese Presse haben:  Komasaufen, mangelhafte Schulleistungen, Krawallpartys.

ANNABELLE: Remo Largo, Sie schreiben, Ihre Töchter würden erzieherisch besser mit ihren Kindern umgehen als Sie selbst damals als Vater. Was macht Ihre Tochter Eva denn besser?
REMO LARGO: Das ist schwierig in Worte zu fassen. Ihre Haltung ist eine ganz andere. Eva ist lockerer, kann besser loslassen. Ich habe mich als Vater noch stärker dafür verantwortlich gefühlt, dass aus meinen Kindern etwas wird. Als eine meiner Töchter mit sechs Jahren die Uhr noch immer nicht lesen konnte, habe ich unzählige Male versucht, es ihr beizubringen.

Und wie sehen Sie das, Eva Largo – was machen Sie besser als Ihre Eltern?
EVA LARGO: Ich bin verfügbar. Soeben habe ich meine Arbeitszeit auf 20 Prozent reduziert. Ich will zuhause sein, wenn meine Kinder von der Schule nachhause kommen. Sie sind zwar schon 12 und 14 und verschwinden oft in ihren Zimmern. Aber wenn sie etwas beschäftigt, dann möchte ich für sie da sein. Gerade in diesem Alter ist das wichtig.

Evas war acht Jahre alt, als sich ihre Eltern trennten. Die Kinder blieben vorderhand bei der Mutter, die eine schwierige Zeit durchmachte. Manchmal musste Eva am Morgen die beiden jüngeren Schwestern wecken und Frühstück machen. Gelitten, sagt sie, habe sie unter der Situation aber nicht. «Ich war schon immer ein Alphatier, das war wohl mein Glück. Ich habe früh selber entschieden und damit gute Erfahrungen gemacht.» Später im Gespräch wird Remo Largo sagen, er könne nicht verstehen, warum man in der Schweiz nicht offen aussprechen dürfe, dass auch eine Mutter überfordert sein könne. Daran sei doch nichts Anrüchiges. In Schweden jedenfalls existiere dieses Tabu nicht.

Im Lauf der Jahre zogen alle drei Töchter zum Vater. Eva mit 17 Jahren als letzte, das hatte sich so ergeben wegen der Schule. Bis heute wendet sie sich zuerst an ihren Vater, wenn sie  etwas beschäftigt. «Er kann mir helfen, die Dinge aus einem andern Blickwinkel zu sehen.» Auch als sie bei ihrer Mutter wohnte, sei er stets für sie da gewesen. Damals leitete Largo die Abteilung Wachstum und Entwicklung am Kinderspital Zürich, wo er die bedeutendste Langzeitstudie über kindliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum durchführte. Seine Töchter verbrachten die Wochenenden bei ihm.

Remo Largo, Sie kritisieren, Väter würden sich nur 20 Minuten pro Tag mit ihren Kindern beschäftigen. Haben Sie mehr Zeit mit Ihren Kindern verbracht?
REMO LARGO: Ich habe den Eindruck, dass ich mir relativ viel Zeit genommen habe. Da ich in der Forschung tätig war, musste ich am Wochenende keine Schichten schieben. Auch die Ferien haben die Mädchen jeweils mit mir und meiner zweiten Frau verbracht. Ich habe viele Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse, etwa an Ferien in Savognin und auf Korsika. Aber Eva muss  sagen, ob es genug Zeit war. Letztlich ist das subjektive Empfinden des Kindes entscheidend.

Sie sahen Ihre Töchter nur am Wochenende, war das nicht schmerzhaft?
REMO LARGO: Wir holten die Mädchen immer am Freitagabend ab …
EVA LARGO: Nein, das war am Samstagmittag, wir hatten Schule am Samstagmorgen.
REMO LARGO: Nein, nein …
EVA LARGO: Sicher!
REMO LARGO: (zur Reporterin) So war sie schon immer, sehen Sie. (Wieder zu Eva) Na gut, du wirst es besser wissen. Also, ich wollte sagen: Unter der Woche war es manchmal tatsächlich
schwierig. Wir haben oft telefoniert. Zum Glück war Eva so selbstständig. Sie hatte schon mit 14 einen festen Freund, ihre Schwestern erst etwa mit 18 …
EVA LARGO: Hmmm …
REMO LARGO: Warte … ich will damit nur sagen, meine Töchter sind sehr verschieden. Punkt. So, jetzt kannst du reden.
EVA LARGO: Ich glaube, ich war nicht ohne Grund so frühreif. Wenn meine Tochter mit 14 die Pille nehmen und sich in eine Beziehung stürzen würde – ich hätte da einige Fragezeichen!

Schon vor dem Interview kündigte Remo Largo an, seine Eva werde im Gespräch kein Blatt vor den Mund nehmen. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der die Gutmütigkeit und Ausgeglichenheit in Person zu sein scheint, hat die Tochter tatsächlich ein lebhaftes Temperament. Die pubertierende Eva und der fürsorgliche Vater – das muss eine explosive Mischung gewesen sein. Doch nichts dergleichen. Gekracht hat es nur in der Schule: Die Steinerschülerin war, wie es der Vater nennt, im 10. Schuljahr «ausgeschult»: Sie organisierte Streiks und legte sich mit den Lehrern an. Vielleicht war es ganz gut, dass der Vater damals noch nicht «Erziehungspapst» («Weltwoche») war, sondern ein forschender Kinderarzt, der nicht in der Öffentlichkeit stand. Als die Lehrer Eva mit dem Rausschmiss drohten, brach sie die Schule ab und lernte, was sie schon immer werden wollte und bis heute ist: Gärtnerin.

Natürlich war die Vater-Tochter-Beziehung nicht nur harmonisch. Beide erinnern sich an die Sommerferien, in denen Eva erstmals mit dem Freund verreiste. Sie war 15, er 19, das Auto, das sie bis an die französische Atlantikküste bringen sollte, alt und klapprig. Vater Largo sorgte sich, aber er wusste: «Solche Abenteuer kann man in diesem Alter nicht mehr verbieten.»  Nachdem Eva ihrem Freund eine Woche lang beim Surfen zugeschaut hatte, platzte ihr ob seines egoistischen Gebarens der Kragen. Sie liess sich von ihm zu Papi in die Toscana chauffieren. «Eine 15-Jährige und ein 19-Jähriger. Und ein Streit wie nach vierzig Jahren Ehe. Es hätte mich nicht gewundert, wenn das Haus in Flammen aufgegangen wäre», sagt Remo Largo. Also stellte er die beiden vor die Wahl: «Entweder ihr schliesst Frieden. Oder ihr reist ab.»

Man muss Jugendliche wie Erwachsene behandeln, so seine Devise, damit sie lernen, erwachsen zu sein. Sie sollen ihr Ding durchziehen dürfen, aber bitte ohne den Eltern die Ferien zu  vermiesen. Vater und Tochter sind sich einig: Einen Teenager kann man nicht mehr erziehen – dafür war in den Jahren davor genug Zeit. Okay, vielleicht kann man sich den Machtkampf, ob der Sohn um 23 oder 24 Uhr zuhause sein muss, tatsächlich sparen, denn Remo Largo hat recht, wenn er meint, es sei eine Illusion zu glauben, vor 23 Uhr sei es nicht gefährlich, danach aber schon.

Nicht die Jugendlichen sind das Problem, sondern die Eltern

Aber was würde Eva Largo tun, wenn ihre Tochter im Begriff ist, einen riesigen Blödsinn zu machen? Sagen wir, sich ein Spinnennetz ins Gesicht tätowieren lassen möchte? Die Mutter bleibt dabei: Sie könnte nicht mehr tun, als über die Konsequenzen aufzuklären und ihre Meinung zu sagen – ohne zu erwarten, dass sich die Tochter danach richtet. Diese sei selbst für sich verantwortlich. «Eltern müssen einsehen», sagt Remo Largo, «dass sie die Kontrolle verlieren. Solange sie versuchen, Jugendliche vor Risiken zu bewahren, sind sie in der Defensive.» Aber welche Rolle bleibt den Eltern dann noch übrig? «Sie sind Vorbild. Und sie haben die etwas undankbare Aufgabe, für die Kinder da zu sein, wenn es ihnen nicht gut geht.»

Zu dieser Erkenntnis kam Remo Largo wahrscheinlich etwas früher als andere Väter. Und nicht ganz freiwillig: Er verlor zwangsläufig die Kontrolle über seine Töchter, als er von zuhause auszog. Eva erzog sich, wie sie sagt, über weite Strecken selbst. Das Einzige, was ihr Vater für sie tun konnte, war: Für sie da sein, wenn es schwierig war.

Eltern sollen da sein für ihre Kinder

Es ist typisch für Remo Largo, dass er nicht mit der Vergangenheit hadert, sondern das, was er dabei gelernt hat, zur Strategie erklärt. Stets hat dieser Mann das Positive im Blick. So nimmt er auch für die heutige Jugend Partei: Wie kommen Eltern dazu, das Kiffen zu verurteilen, wenn sie selbst jeden Abend Bier oder Wein trinken? Das Problem sind nicht die Computerspiele, sondern die fehlende Medienkompetenz der Eltern! Kein Wunder, machen die Jungen Krawall – sie brauchen Freiräume!

Die mediale Analyse von Phänomenen wie der Jugendgewalt findet er unergiebig. Viel nützlicher sei es herauszufinden, warum 90 Prozent der Jugendlichen zu verantwortungsvollen Erwachsenen heranwachsen. «Bestimmt nicht, weil sie folgsamer sind als diejenigen, die abstürzen.» Sondern, so seine These, weil sie drei wesentliche Herausforderungen meistern: Sie fühlen sich geborgen, sie finden bei den Gleichaltrigen Anerkennung, und sie sind in der Ausbildung oder am Arbeitsplatz erfolgreich. «Wenn ein Teenager in diesen drei Bereichen einigermassen reüssiert», ist er überzeugt, «müssen sich die Eltern keine Sorgen machen.»

Eva Largo, «Jugendjahre» vermittelt eine erzieherische Haltung, keine konkreten Tipps. Ist das im Alltag überhaupt hilfreich?
EVA LARGO: Ja, das Buch hat mir zu mehr Gelassenheit verholfen. Als ich es las, hatte Jana gerade einen Hormonschub. Einmal verkündete sie aus einer Laune heraus, sie wolle sich umbringen. Ich spürte, das ist nur unüberlegtes Gerede, und antwortete: «Kannst du noch eine Woche warten? Ich habe gerade keine Zeit.»
REMO LARGO: Genial! Aber das darf man natürlich nur sagen, wenn man sicher ist, dass die Tochter keine ernsthaften Probleme hat.

Eva Largo, fragen Sie Ihren Vater oft um Rat?
EVA LARGO: Als Jana als Baby stundenlang geschrien hat, habe ich ihn um Rat gefragt. Als die Kinder älter wurden, weniger.

Sie hatten immer alles im Griff?
EVA LARGO: Na ja, natürlich habe ich meine Kinder auch angeschrien. Und meinen Sohn Remo habe ich, wenn er einen seiner unglaublichen Trotzanfälle hatte, manchmal mitsamt den Kleidern unter die kalte Dusche gestellt.

Wie bitte? Das ist ja total brutal!
EVA LARGO: Sorry, machen wir uns nichts vor: Kinder können einen zur Weissglut treiben. Alle Eltern kommen an den Punkt, wo sie ihr Kind windelweich schlagen könnten. Wenn dieses Gefühl da ist, braucht man ein Ventil. Ich fand eine kalte Dusche besser als eine Ohrfeige. Ausserdem hat es gewirkt, es hat uns beide beruhigt. Und das nächste Mal musste ich nur sagen: Hör auf, sonst gehts unter die Dusche.
REMO LARGO (lacht): Das wusste ich nicht. (Jetzt forschend) Wie oft hast du das gemacht?
EVA LARGO: Etwa dreimal. Ich hatte nie Angst, dass unsere Beziehung deswegen gefährdet ist.
REMO LARGO (beruhigt): Entscheidend ist tatsächlich die Beziehung. Man kann nicht von einem Ereignis aufs Ganze schliessen. Eva war schon immer ein Polteri, aber ich hatte nie den Eindruck, dass sich das negativ auf die Kinder auswirkt.

Jetzt predigen Sie aber Wasser und trinken Wein. Wenn ich Ihre Bücher lese, kriege ich ein schlechtes Gewissen, nur weil ich laut werde mit meinen Kindern!
REMO LARGO (ernsthaft): Ich halte tatsächlich wenig vom Anschreien. Und meine Haltung zu einer Massnahme wie der kalten Dusche ist: Man sollte bei einem Trotzanfall einfach warten, bis er vorbei ist. Einige Mütter können das, Eva ist da anders gestrickt. Ich will ihr Verhalten nicht schönreden, sie hatte einfach keine bessere Strategie.

Die «Frankfurter Allgemeine» liegt richtig, wenn sie in Remo Largo einen «Anwalt der Kinder» sieht. Auch in diesem Gespräch stellt er sich klar auf die Seite der Heranwachsenden, wenn er sagt: «Nicht die Jugendlichen sind das Problem, sondern die Eltern.» Dennoch kann seine Tochter auf sein Verständnis zählen, wenn sie in der Hitze des Gefechts zu Erziehungsmassnahmen
greift, die nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Das ist völlig in Ordnung. Warum, fragt man sich höchstens, begegnet Remo Largo seinen Lesern nicht mit derselben Nachsicht? Wahrscheinlich geben sich doch gerade diejenigen Eltern, die seine Bücher lesen, ebenfalls grosse Mühe mit ihren Kindern?

Remo Largo, der Anwalt der Kinder

In den «Babyjahren» habe er geschrieben, wehrt sich Largo, «die Natur rechnet nicht mit perfekten Eltern. Sie hat die Kinder mit einer gewissen Anpassungsfähigkeit und Krisenfestigkeit ausgestattet.» Leider hat er diese – für Eltern – ziemlich wichtigen Sätze in den späteren Büchern glatt vergessen. Nobody is perfect.

 

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