Gesundheit
Psychiatrie-Chefarzt: «Wir Menschen sind verwundbarer geworden»
- Text: Stephanie Hess
- Bild: Shutterstock
Thomas Ihde-Scholl, Psychiatrie-Chefarzt und Präsident von Pro Mente Sana, über die Corona-Pandemie, Social Media – und die Hemmschwelle, einen Therapieplatz zu suchen.
annabelle: Mental Health ist das Thema der Stunde. Promis wie Normalbürger:innen sprechen so offen wie nie über Depressionen, Panikattacken, Burnouts. Thomas Ihde-Scholl, wie nehmen Sie heute den Umgang mit unserer Psyche wahr?
Thomas Ihde-Scholl: Er hat sich tatsächlich verändert, das finde ich sehr positiv. Psychisch belastet zu sein und sich Hilfe zu suchen, war lang stigmatisiert. Jemand aus dem Thurgau ging früher bestimmt nicht in Frauenfeld in Therapie, sondern fuhr mindestens nach Zürich. Das hat sich in den letzten 15 Jahren geändert, die Hemmschwelle ist gesunken, zumindest bei leichten psychischen Erkrankungen.
Woran erkennen Sie das?
Tatsächlich darin, dass mehr Menschen offener über psychische Gesundheit sprechen. Es gibt eine schöne Geschichte aus der Garderobe des Volleyball-Seniorenclubs in Interlaken, jetzt nicht unbedingt der Ort, wo man dieses Gespräch vermuten würde. Da soll kürzlich der eine zum anderen gesagt haben: «Wenn ich dich erzählen höre, denk ich, du solltest die Psychiatrie anrufen, die haben ein Team, das zu dir nachhause kommt und bei Familienkonflikten hilft.»
Was hat dazu geführt, dass wir heute offener über unsere seelischen Belastungen sprechen können?
Gesellschaftliche Entwicklungen, die auch vom Ausland beeinflusst werden. Wir wissen, dass es einen signifikanten Effekt hat, wenn Menschen im Rampenlicht öffentlich über ihre psychischen Erkrankungen sprechen. Studien zeigen, dass sich etwa junge Menschen öfter Hilfe gesucht haben, nachdem die britischen Prinzensöhne Harry und William in den Medien davon erzählt hatten, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter in Therapie gingen.
«Öffentliche Personen haben einen signifikanten Effekt auf uns»
Wie schätzen Sie die Rolle von Social Media bei dieser Entwicklung ein?
Sie ist wesentlich, weil Social Media dahingehende Äusserung multiplizieren. Zudem macht es der halbprivate Raum einfacher, über emotionalere Themen zu sprechen. Was mir aber wichtig ist zu erwähnen: Viele Menschen mit psychischen Problemen holen sich auch heute noch sehr spät Hilfe. Betroffene von einer Ess-Brech-Sucht beispielsweise warten durchschnittlich immer noch sieben bis zehn Jahre.
Sind denn heute überhaupt genügend Angebote vorhanden? In der Covid-Pandemie war psychologische Hilfe sehr gefragt – aber viele bekamen keinen Termin oder Therapieplatz.
Das ist so. Wir verfügen momentan weiterhin über zu wenige Therapeut:innen. Eklatant zu wenige Angebote haben wir für Kinder und Jugendliche und für Menschen im letzten Lebensviertel.
Hat man bei der Pandemie und der ganzen Fokussierung auf die körperliche Erkrankung die psychische Gesundheit vergessen?
Nun, wir haben bei Pro Mente Sana sehr schnell mehr Stunden für die Telefonbetreuung vom Bund finanziert bekommen, als die Pandemie um sich griff. Und trotzdem: Vergleicht man die vielen Milliarden, die für die Pandemie ausgegeben wurden, mit dem Mini-Teil, der in die psychische Gesundheit floss, ist das schon erschreckend. Ich habe das Gefühl, dass bei den Behörden die Bedeutung des Themas und die Auswirkung auf Wirtschaft und Familien nicht wirklich wahrgenommen werden.
«Ein Mini-Teil der Covid-Unterstützungsgelder ist in die psychische Gesundheit geflossen»
Wie viele Prozent der Gelder, die im Zusammenhang mit Covid gesprochen wurden, sind in die psychische Gesundheit geflossen?
Unter einem Prozent.
Wie wahrscheinlich ist es denn, dass wir alle einmal psychische Probleme haben werden?
Nun, es gibt unterschiedlichste Studien, die berechnen wollen, wie viele von uns einmal im Leben psychisch erkranken werden. Sie kommen auf Zahlen von 25 bis 93 Prozent. Ich habe da aber Fragezeichen. Denn wenn es um den anderen Part der Gesundheit geht, den körperlichen, ist doch allen sonnenklar, dass wir alle im Verlauf unseres Lebens einmal grössere oder kleinere Gebrechen haben werden, dass da die Wahrscheinlichkeit also bei 100 Prozent liegt.
«Wir sind alle verwundbarer geworden, reden mehr über Probleme, suchen öfter Hilfe»
Es kann uns schlicht alle treffen?
Meiner Erfahrung nach ja. Und ich glaube, wir haben alle auch in den letzten Jahren gemerkt, dass wir in diesem Bereich verwundbarer geworden sind. In die körperliche Gesundheit investieren wir ja bereits seit Längerem viel, wir gehen ins Yoga, essen gesund. Gigantisch viele Menschen in diesem Land leisten sich eine Massage. Nun ist diese Fürsorge auch auf die psychische Gesundheit übergeschwappt, wir reden mehr über Probleme, suchen öfter Hilfe.
Warum sind wir denn gerade in den letzten Jahren verwundbarer geworden?
Weil unsere Welt sehr mental geworden ist. Die Belastungen, denen wir in unserer Gesellschaft grösstenteils ausgesetzt sind, liegen heute insbesondere im psychischen Bereich. Die meisten von uns sind heute Kopfarbeiter:innen.
Wie gehen wir mit dieser Vulnerabilität um?
Wir alle fanden es ja mal hilfreich, als uns jemand sagte, wie man eine Zügelkiste hebt, ohne sich einen Rückenschaden zu holen, oder wie man gesund auf einem Stuhl sitzt. Vielleicht kann man sagen, dass die Muskeln, die wir heute brauchen, im psychischen Bereich liegen. Da macht es durchaus Sinn, dass wir diese trainieren – und uns beraten lassen.
Aber es können nicht alle eine jahrelange Therapie starten, wenn es jetzt schon zu wenige Angebote gibt.
Ich spreche da keineswegs von einer Jahre dauernden Psychoanalyse. Lange Therapien können sowieso auch die Gefahr bergen, dass sich die Selbstwirksamkeit reduziert, dass man also meint, die therapeutische Fachperson sei nötig, um das Leben zu bestreiten. Ich spreche hier vielmehr vom Bereich der Gesundheitsfürsorge und -förderung. Man sucht sich in einer Lebenskrise Hilfe, erhält von einer therapeutischen Fachperson Unterstützung oder Hinweise auf Hilfsangebote und versucht es dann nach kurzer Zeit – wenn möglich – mit dem erlernten Wissen, mit gestärkten Muskeln, allein weiter.
Thomas Ihde-Scholl ist Chefarzt der Psychiatrie der Spitäler Fmi AG in Interlaken, Präsident der unabhängigen Organisation Pro Mente Sana und Autor des Buchs «Ganz normal anders. Alles über Psychische Gesundheit, Störungsbilder, Perspektiven und Hilfsangebote». Beobachter Edition (2020). Pro Mente Sana bietet psychologische Soforthilfe unter Tel. 0848 800 858.