Gesundheit
Plädoyer: Warum wir Angehörige von Schwerkranken nicht vergessen dürfen
- Text: Isabel Gajardo
- Symbolbild: Stocksy
Bei einer schlimmen Diagnose ist auch das Umfeld betroffen. Die Bedürfnisse und Nöte von Kindern, Ehepartner:innen oder Eltern gehen aber oft vergessen. Das muss sich ändern, schreibt Praktikantin Isabel Gajardo.
Simonetta Sommaruga hat vor kurzem ihren Rücktritt als Bundesrätin erklärt. Nicht, weil sie die Nase voll hat von ihrem Amt, nicht, weil sie in Pension geht und nicht, weil sie gesundheitliche Probleme hat. Sondern weil ihr Mann einen Schlaganfall erlitt. Dies illustriert eine Tatsache, die gerne vergessen geht. Wird ein Mensch krank, ist das auch für seine Angehörigen ein alles veränderndes Ereignis. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine körperliche oder psychische Erkrankung handelt – der Einschnitt ist für Angehörige gleichermassen gross.
Ich habe im familiären Umfeld gleich mehrmals die Erfahrung gemacht, dass Angehörige schwer erkrankt sind. Damit bin ich kein Einzelfall. Gemäss der Krebsliga erkranken in der Schweiz jährlich über 43 000 Menschen allein an Krebs. Gesundheitsförderung Schweiz gibt zudem an, dass 17 Prozent der Schweizer Bevölkerung an einer psychischen Erkrankung leiden. Tausende von Menschen sind also jedes Jahr mit einer vergleichbaren Situation konfrontiert. Mir haben die Diagnosen meiner Angehörigen jeweils komplett den Boden unter den Füssen weggezogen. Gleichzeitig habe ich mich selten in meinem Leben so allein gefühlt.
Denn in dem Moment, in dem eine Diagnose fällt, richten sich die ganze Aufmerksamkeit und alle Kräfte auf die erkrankte Person. Das ist ja auch wichtig und richtig. Und das Leid, das durch eine schwere psychische oder körperliche Erkrankung ausgelöst wird, soll hier auf keinen Fall kleingeredet werden. Allerdings bräuchten Angehörige in diesem Moment ebenfalls Unterstützung. Für sie bricht in diesem Moment genauso eine Welt zusammen. Auch sie haben Angst. Fühlen sich hilflos, weil sie nichts tun können, um die Situation besser zu machen. Dazu die Ungewissheit: Wird die geliebte Person wieder gesund? Wird sie bald sterben?
Je nach Erkrankung folgen auf den Schockmoment der Diagnose langwierige Therapien, die extrem belastend und für Angehörige grausam mitanzusehen sind. Fällt ein Familienmitglied plötzlich aus und kann nicht mehr arbeiten, können zudem finanzielle Sorgen dazukommen. Alles in allem eine wahnsinnig fordernde Situation.
«Angehörige müssen nicht daran erinnert werden, dass sie gut auf ihre kranken Familienmitglieder schauen müssen»
In meiner Erfahrung ist die schwere Erkrankung einer nahestehenden Person wie ein schwarzes Loch, das alles verschlingt, was nicht unmittelbar mit der Krankheit zu tun hat. Meine Probleme – irrelevant im Vergleich zum Überlebenskampf, der gerade stattfindet. Sie zu äussern, wäre unsensibel und egoistisch. Meine Pläne – unwichtig, solange nicht absehbar ist, wie sich die Krankheit entwickelt. Als hätte jemand in meinem Leben die Pause-Taste gedrückt und alles sei in der Schwebe, immer abhängig davon, wie die nächste Kontrolluntersuchung ausfällt. Darin unterscheidet sich die Situation der Angehörigen kaum von der Situation der Erkrankten: Man ist der Krankheit genauso ausgeliefert, auch wenn man die physischen Konsequenzen davon nicht tragen muss.
Auch von aussen habe ich immer wieder vermittelt bekommen, dass meine Hauptfunktion als Angehörige darin besteht, für eine erkrankte Person da zu sein. Sätze wie: «Chemotherapie, wie schrecklich! Da musst du aber gut zu deinem Vater / deiner Schwester / deinem Kind schauen», mögen mitfühlend klingen, sind aber eher verletzend als hilfreich. Angehörige müssen nicht daran erinnert werden, dass sie gut auf ihre kranken Familienmitglieder schauen müssen. Ihr ganzes Leben dreht sich sowieso schon darum. Wie es mir dabei geht, bin ich hingegen so gut wie nie gefragt worden.
Es schien mir so, als würde ich neben der Krankheit verblassen, als würde kein anderer Aspekt meines Lebens stärker wahrgenommen als die Tatsache, dass ich ein krankes Familienmitglied habe. Niemand schien auf den Gedanken zu kommen, dass ich schon lange jenseits meiner psychischen Belastungsgrenze angekommen sein könnte. Irgendwann fühlte ich mich vollständig isoliert und allein auf der Welt – und auch ganz allein mit meinen Problemen.
Gerade bei Frauen spielt es zudem sicherlich eine Rolle, dass die Betreuung kranker Angehöriger auch als ihre selbstverständliche Aufgabe wahrgenommen wird. Und zwar bei Frauen jeden Alters. Nicht nur bei Frauen mittleren Alters, die zu ihren Eltern schauen. Sondern auch bei jungen Frauen oder sogar Jugendlichen, die Angehörige pflegen (müssen).
Gemäss einer schweizweiten Online-Erhebung der Hochschule Careum betreuen in der Schweiz 50 000 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 15 Jahren kranke oder beeinträchtigte Angehörige. Und immer noch werden laut dem Bundesamt für Statistik zwei Drittel der unbezahlten Care-Arbeit von Frauen geleistet. Auch in meiner Erfahrung sind irgendwie alle zufrieden, solange da eine Frau / Schwester / Tochter ist, die ja sowieso zum Rechten schaut. Kein weiterer Redebedarf.
«Mittlerweile weiss ich, dass es Angebote gegeben hätte, die mich hätten unterstützen können»
Jede akute Krankheitsphase ist irgendwann vorbei. Weil die Person gesund wird, weil sie stirbt – oder weil die Krankheit chronisch wird und ab da anfängt, irgendwie im Alltag mitzulaufen. Mir war in diesen Momenten jeweils, als hätte ich monate- oder sogar jahrelang die Luft angehalten und würde zum ersten Mal wieder richtig einatmen können. Erst da bemerkte ich, dass ich mich gar nicht mehr richtig gespürt hatte, nicht mehr merkte, wie sehr ich eigentlich am Anschlag war. Weil ich funktionieren musste. Mich kümmern, Aufgaben übernehmen und dabei meine eigenen Ängste irgendwie in Schach halten musste.
Mittlerweile, mit der Distanz einiger Jahre, weiss ich, dass es Angebote gegeben hätte, die mich hätten unterstützen können. Ein Gespräch mit einer Psychologin oder einem Psychologen, die bzw. der sich mit den spezifischen Problemen von Angehörigen auskennt, hätte mir sicherlich enorm geholfen. Auch der Austausch mit anderen Angehörigen hätte mich gestärkt. Immerhin hätte ich dann gewusst, dass ich nicht die Einzige bin. Dass auch andere eine solche Situation nicht einfach mit einem Schulterzucken wegstecken.
Ich hatte damals aber keine Kapazität, mich um solche Unterstützung zu bemühen, und ich wurde auch nicht auf entsprechende Angebote hingewiesen, weder von behandelnden Ärzt:innen noch von Spitalsozialarbeiter:innen, Seelsorger:innen oder sonst jemandem aus meinem Umfeld. Ich würde mir deshalb wünschen, dass wir viel mehr darüber sprechen, dass eine Krankheit immer auch die Angehörigen betrifft. Dass diese ihren ganz eigenen Kampf mit der Krankheit austragen müssen und dadurch schnell an ihre Belastungsgrenze und darüber hinaus geraten können.
«Es ist kein Scheitern, wenn man nicht alle Herausforderungen alleine stemmen kann, es ist menschlich»
Falls ihr also zu Hause jemanden habt, der krank ist, seid euch bewusst: Ihr seid nicht allein. Es ist okay, überfordert zu sein und nicht mehr weiterzuwissen. Es ist okay, wenn man Unterstützung braucht und diese auch einfordert. Und zwar, bevor man zusammenbricht. Es ist kein Scheitern, wenn man nicht alle Herausforderungen alleine stemmen kann, es ist menschlich. Und es gibt Stellen, die euch helfen können.
Und falls ihr jemanden kennt, der oder die eine:n kranke:n Angehörige:n zu Hause hat: Zeigt der Person, dass ihr da seid, falls sie über die Situation reden möchte. Bietet eure Unterstützung an, wenn ihr könnt. Weist sie auf entsprechende Angebote hin, wenn ihr denkt, dass es ihr helfen könnte. Aber vor allem: Fragt sie doch einfach hin und wieder mal, wie es ihr geht.
Betreust oder pflegst du Angehörige? Hier findest du Informationen und Angebote:
Krebsliga:
https://www.krebsliga.ch/beratung-unterstuetzung/fuer-angehoerige/pflegende-angehoerige
Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP):
https://www.angehoerige.ch
Pro Mente Sana:
https://www.promentesana.ch/angebote/beratung/beratung-fuer-betroffene-nahestehende
Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft:
https://www.multiplesklerose.ch/de/leben-mit-ms/angehoerige/
Verein ALS Schweiz:
https://www.als-schweiz.ch/angebote/
Entlastungsdienst Schweiz:
https://www.entlastungsdienst.ch
Danke, Vieles aus diesem Text trifft/ traf auch auf mich zu.
“Als hätte jemand in meinem Leben die Pause-Taste gedrückt und alles sei in der Schwebe, immer abhängig davon, wie die nächste Kontrolluntersuchung ausfällt.”
Dies war besonders schlimm, dieses Gefühl. Alle Freundinnen um mich herum voll in der Pubertät, erste Liebe, etc. nur bei mir ging es um die Familie, um Abschied…
Auch das ich endlich wieder Luft holen konnte… Leider erst, als mein Vater verstorben ist.
Liebe Nicole, das tut mir sehr leid zu hören, dass du deinen Vater verloren hast. Vielen Dank für das Teilen deiner Erfahrung. Alles Gute und einen schönen Tag. Herzliche Grüsse, Isabel