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Not Geil – Wie eine Tantralehrerin mich zum Weinen brachte

Not Geil – Wie eine Tantralehrerin mich zum Weinen brachte

Jahrelang dachte unsere Autorin, sie und Sex stünden auf gutem Fuss miteinander. Und dann ist er ihr plötzlich abhandengekommen – in der Flut des übervollen Lebens. Und das ist ein Problem. Oder etwa nicht?

«Drew Barrymore: Seit fünf Jahren keinen Sex» titelten die Klatschmagazine im September vergangenen Jahres. Man muss sich mal überlegen, was es bedeutet, wenn die Sexlosigkeit einer Frau den Zeitungen eine Schlagzeile wert ist – und zwar von den «Hindustantimes » bis zum «Blick». Vermutung eins: Diese Information ist bemerkenswert, weil nicht normal. Doch während etwa «Drew Barrymore: Fünf Jahre nicht mehr bei der Dentalhygiene» ebenso bemerkenswert und abnormal wäre, ist die Sexlosigkeit von Interesse, weil es – Vermutung zwei – nach dem Urteil der Blattmacher womöglich gar nicht so abnormal ist, vielleicht sogar einen Trend abbildet. (Ausserdem geht es natürlich um Sex, was auch heute noch ein Schlagzeilengarant ist.)

Führen wir uns vor Augen, woher wir gekommen sind: Vor nicht allzu vielen Jahren war der selbstbestimmte – also der nicht von Ehemännern eingeforderte – Sex von Frauen ein Skandal und wurde dann durch viel feministische Hintergrundarbeit und popkulturelle Thematisierung vom Schocker zur Selbstverständlichkeit. So gesellschaftlich akzeptiert, dass es sich schon fast in sein Gegenteil verkehrt und Newswert hat, wenn eine Single-Frau öffentlich sagt, dass sie seit fünf Jahren keinen Sex mehr hatte. Wobei es sich lohnt, die Quelle der Information genauer anzuschauen: nämlich ein Gespräch von Drew Barrymore mit Jane Fonda in ihrer Talksendung «The Drew Barrymore Show».

Schwierigkeiten Männer und Dating im Alltag unterzubringen

Barrymore, 46 Jahre alt, nimmt Bezug auf die Äusserung Fondas, dass sie «Männern abgeschworen habe» (von einer 82-Jährigen scheint dieser Quote keine Meldung wert zu sein), und sagt, sie sei eigentlich seit fünf Jahren in der genau gleichen Situation. Dann reden sie exakt eine Minute ein bisschen darüber, wie schwer es ist, «it» (nicht spezifiziert, aber davor ging es um «men») unterzubringen in einem vollen Leben mit Kindern, Beruf, Projekten (Fonda: «Who has the time?!»). Barrymore sagt, sie sei nicht «closed for business», aber «I can’t fit it in». Worauf Fonda meint, sie werde es schon schaffen, hie und da eine Affäre reinzuquetschen.

Das ist alles. Drew Barrymore sagt nicht, sie hätte seit fünf Jahren keinen Sex gehabt, sondern dass sie es schwierig finde, «it» (Männer, Dating) unterzubringen. Ausgehend von dieser Sequenz könnte man auch ableiten, dass sie tonnenweise Sex hat, aber mit Frauen oder tonnenweise Sex mit männlichen Prostituierten – halt einfach keine Beziehungen.

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«Es hat Newswert, wenn eine Single-Frau sagt, dass sie seit fünf Jahren keinen Sex mehr hatte»

Wie eng diese beiden Faktoren Sex und Beziehung zusammenhängen, merkt man dramatisch, sobald man nicht mehr in einer Beziehung ist. Während einer Beziehung ist es leicht, sich auszumalen, wie all das (der hoffentlich gute Sex, den man in langer Zeit zusammen erarbeitet und entwickelt hat) mit anderen sein könnte – aber dann hat man keine Beziehung mehr und merkt, dass die anderen erstens nicht einfach parat stehen, sondern dass die schiere Aufgleisung eine zeit-und aufmerksamkeitsintensive Aktion ist und dass der Akt an sich mitnichten etwas mit dem zu tun hat, was man in der Beziehung hatte. Sex kann wahnsinnig banal sein. Egal. Nichtssagend. Und das hat unter Umständen nicht mal mit dem Gegenüber (bzw. Obendrüber, Untendrunter) zu tun, sondern mit einem selbst.

Gesellschaftliche Konformität

Da dachte ich, ich wüsste, wie Sex geht – für mich! –, und finde mich wieder in Situationen, die weder mit Lust, Leidenschaft noch reinem körperlichem Druckablass zu tun haben. Sondern mit gesellschaftlicher Konformität. Ich bin dort gelandet, weil mir eingebläut wurde, dass eine gesunde, normale Frau Sex haben muss, um gesund und normal zu sein. Dass ich «es brauchen» und es «mir holen» muss, weil ich ja jetzt in meinem sexuellen Zenit bin und weil mein Leben sonst nicht komplett sein kann. Trotz allem anderen, was läuft, und das ist in dieser Vierziger-Phase des Lebens nun mal ziemlich viel – aber die Frauen von «Sex and the City» haben uns ja gezeigt, dass weder Karriere noch Kinder uns davon abhalten, sexuell hyperaktiv zu sein.

Im richtigen Leben jedoch gibt es einen Unterschied zwischen den Zwanzigern, in denen Sex ein treibender Faktor ist neben all den anderen Unverbindlichkeiten, die uns helfen, herauszufinden, wer wir sind, und der Zeit danach. Wenn einige Entscheidungen getroffen worden und Dinge passiert und Jobs gefunden und Menschen in ein Leben getreten sind, die dazu führen, dass ein ganzer Sommer vergehen kann, ohne dass man es zur Pédicure geschafft hat, und auch ein guter Tag emotional so auslaugend sein kann, dass körperliche Befriedigung Netflix und Bier in der Badewanne bedeutet. In der man abgeklärt genug ist, um sich einzugestehen, dass ein eingeführter Penis einen nicht zur sexuell erfüllten Frau macht. Und in der es eine haarsträubende Zeitverschwendung ist, sich stundenlang durch Fotos zu swipen und danach irgendwelche dummen SMS-Konversationen zu führen, nur um dann beim Treffen in echt zu merken, dass man wirklich so gar kein Verlangen hat, mit diesem Mann ins Bett zu steigen. Und es dann aber vielleicht doch tut, weil eben, das braucht man doch, was zur Folge hat, dass man danach bei Netflix und Bier in der Badewanne merkt, dass man «it» eigentlich auch einfach abschwören könnte, genau wie Jane und Drew. Denn es ist tatsächlich ein Trend, zumindest wenn man einer Studie der Universität Leipzig Glauben schenkt: Sie hat ergeben, dass 2020 bei den 41- bis 50‐jährigen unverpartnerten Frauen in Deutschland nur noch 41 Prozent sexuell aktiv sind – mit sinkender Tendenz, wie übrigens die sexuelle Aktivität der Grundgesamtheit der Befragten.

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«In den Vierzigern bedeutet körperliche Befriedigung: Netflix und Bier in der Badewanne»

Mir ist meine Sexualität abhandengekommen. Ich mochte sie sehr, solang sie da war, manchmal fast schon überwältigend wie in den Zwanzigern, dann elaboriert und niederschwellig wie in der Beziehung, jetzt ist sie weg – und ich vermisse sie nicht einmal. Kein Phantomschmerz, kein Leidensdruck. Und das ist nicht gut, habe ich das Gefühl, sagen mir Leute, sagt mir die Welt. Also hole ich mir Hilfe.

Die Netflix-Serie «(Un)Well» war eines jener Streaming-Phänomene, die in Alltagsgespräche eingeflossen sind – die kritische Beleuchtung der Wellness- Industrie traf einen Nerv, der in diesen Zeiten der Introspektion absolut freiliegt. In der zweiten Folge geht es um Tantra, weniger im Sinne von akrobatischem Sex, sondern mehr in der Urbedeutung der sinnlichen Verbindung mit einem selbst und dem Partner. Eine der porträtierten Anbieterinnen solcher Workshops ist Sasha Cobra – und irgendetwas an dieser Frau weckte mein Interesse. Vielleicht war es die Szene, in der sie, eine zierliche Frau, einen bärtigen Hünen zum Weinen brachte, indem sie ihre Hand über seinen Körper gleiten liess. Vielleicht war es die leise Stimme, mit der sie sagte, einige könnten gut kochen oder malen, ihr Talent sei es halt einfach, Menschen Ganzkörper-Orgasmen zu verschaffen. Vielleicht war es ihr irgendwie verschlafener, aber hellwacher Blick, vielleicht war es die Nüchternheit, mit der sie ihre Arbeit erklärte, die meine Augen am Rollen hinderten – was sonst bei solchen Inhalten sehr schnell passiert. Sasha Cobra lebt in Puerto Rico und bietet coronabedingt auch Skype-Sessions an. Ich buche eine «Regenerating Energy Work Session», 2.5 Stunden für 575 Dollar.

«Ich habe keine Ahnung, was in so einer Session passiert. Soll ich eine Kerze anzünden? Räucherstäbchen?»

Ich habe keine Ahnung, was in so einer Session passiert, und weiss deshalb auch nicht recht, wie ich mich darauf vorbereiten soll. Welcher Ort in der Wohnung passt am besten? Am Schreibtisch? Im Bett? Ich setze mich aufs Sofa. Soll ich eine Kerze anzünden? Räucherstäbchen? Ich mache einen Tee. Sasha Cobra trägt ein weisses Trägershirt, eine Brille, im Hintergrund sieht man ein Fenster mit Ausblick auf tropische Bäume. Sie sagt, das sei interessanterweise schon die zweite Session an diesem Tag mit einer Frau aus Zürich, sogar unser Jahrgang sei der gleiche. Sie schaut mich mit offenem Blick an, leicht lächelnd, ihre Pausen sind lang und einladend, ohne Druck zu erzeugen. Worum es bei mir denn gehe. Ich schildere ihr mein Problem oder eben das Nichtproblem, sie hört zu, regungslos, ohne zu nicken, ohne Hm-mhs, fragt nach, schweigt. Dann sagt sie, sie werde jetzt kurz etwas machen, was sie vor jeder Session tue, und zwar klären, ob es ihr guttue, mit der jeweiligen Person zu arbeiten. Sie wendet sich ab, etwas klackert in ihren Händen, dann sagt sie: «Spirit gibt sein Okay». Nicht «the» spirit. Spirit. Wie ein Haustier. Wir sprechen eine Stunde lang. Es geht nicht um Sex, so viel ist schnell klar. Sie mag sowieso das Wort «Sensuality» lieber als «Sexuality ». Das Gespräch ist intim, sehr schnell sehr vertraut und nie unangenehm trotz – oder vielleicht gerade wegen – langer Pausen. Cobra hat auf jede meiner Fragen eine klare Antwort und sie sind auf eine Art esoterisch, dass auch ich als nichtesoterische Person sie einleuchtend finde und annehmen kann. Dass ich keinen Leidensdruck verspüre durch die sexlose Zeit, glaube sie absolut und das sei auch total okay. Aber auf längere Frist könne Sex nicht ausgeblendet werden: «Wir sind wortwörtlich aus dieser Energie entstanden. Sie will sich bewegen und sich ausdrücken. » Cobra sagt, sie möchte jetzt zur Arbeit mit meinem Körper übergehen. «Let’s see what she has to tell you.» Mein Körper, sie. Klingt irgendwie viel besser als mein Körper, er.

Kamera ausgeschaltet, sie bittet mich, Kopfhörer mit Mikrofon zu tragen, weil ihr das Geräusch meines Atems schon viele Informationen liefern könne. Ich lege mich auf den Rücken, sie sagt, ich solle ein Kissen griffbereit haben. «Wegen der Nachbarn. Je nachdem, was herausmuss». Heieiei. Na dann. Ich bin nicht gut in solchen Sachen, Atemübungen, Meditation, Inmich- Gehen, aber absolut offen für alles. Sie leitet an, wie ich zu atmen habe. Tief in den Bauch, beim Ausatmen soll ich ein Geräusch machen. Was für ein Geräusch? «Einfach das, was gerade entsteht.» Sie macht es vor – ein langes, wohliges «Haaaa». Ich schaue, was bei mir entsteht: Es ist eher eine Art Seufzer. Verklemmt und ungefickt. Aber alles andere wäre aufgesetzt, also bleibt es dabei. Zusammen atmen wir, stöhnend, seufzend. Ich weiss nicht, wie lang. Unendlich lang. Ich atme und konzentriere mich auf die Körperteile, die sie nennt. Ich solle ihr sagen, was ich fühle. Ich fühle nichts. War ja klar, ich bin nicht gut in diesen Sachen. Ich bin frustriert und sie spürt es. Es sei alles okay, «sweetheart», sagt sie, das müsse man erst lernen, ich hätte mich schon lang nicht mehr so auf meinen Körper konzentriert. Stimmt. Ich frage etwas verzweifelt, was es denn eigentlich zu fühlen geben sollte, wenn ich einfach daliege und atme, mein Körper brauche doch Input, um etwas zu fühlen, nicht? «Dein Körper ist in ständigem Dialog mit dir, aber im Erwachsenenleben gewöhnen wir uns leider an, nicht mehr so genau hinzuhören.» Ich soll mich auf meine Brust konzentrieren und in meinem Geist die Frage formulieren: «Was brauchst du?» Meine Brust sagt nichts. «That’s okay, precious, that’s okay!», sagt sie im liebevollsten Ton, den man sich vorstellen kann. Einfach weiteratmen, weiterfragen. Nach einer Weile: Ob sich eine Antwort abzeichne? Nope.

«Wir sind wortwörtlich aus dieser Energie entstanden. Sie will sich bewegen und sich ausdrücken»

Sasha Cobra, Tantralehrerin

Und dann muss ich heulen. Das bedarf einer Einordnung: Ich weine nie. Weinen habe ich irgendwie verlernt, schon vor einigen Jahren. Jetzt heule ich. Ich schluchze. Ich habe keine Ahnung warum. Vielleicht, weil diese Frau so nett ist zu mir und mich «sweetheart » und «precious» nennt. Weil sie jetzt mit der liebsten Stimme leise sagt «Yes, yes, yeeees, this is wonderful», sie freue sich so, diesen Moment mit mir zu erleben. Es fühlt sich grossartig an, zu weinen. Irgendwann, ich weiss nicht, nach wie langer Zeit, beruhige ich mich wieder.

Und Sasha Cobra erklärt mir, was das alles mit der Sexlosigkeit zu tun hat. Warum es so unangenehm für mich war, einfach dazuliegen und zu atmen und mich auf irgendwelche Körperteile zu konzentrieren. Auf mich. Ein Leben bringe es mit sich, dass man Dinge erlebt, Dinge fühlt, die man nach Möglichkeit nie mehr fühlen möchte, gerade auch, wenn man eine Trennung hinter sich hat. Also legt man sein Leben so aus, dass man diese Dinge nie mehr erlebt und diese Gefühle nie mehr fühlt. Man füllt sein Leben mit Nichtfühlen, denn man hat keine Zeit für temporäre emotionale Ausfälle, schliesslich muss man funktionieren, der Job, die Kinder, die älter werdenden Eltern, Freunde mit Problemen, Probleme mit Freunden, die Liste ist endlos in diesem Alter. Und Sex – Überraschung! – hat viel mit Fühlen zu tun. «Wie kannst du von dir erwarten, Lust auf Sex zu haben, wenn du sonst alles tust, um so wenig wie möglich zu fühlen?»

Die Komfortzone verlassen

Voilà. Und so lag das in all seiner Offensichtlichkeit plötzlich vor mir. Duh. Die Therapie ist genau so simpel und naheliegend: Ich muss mehr Zeit mit mir verbringen. Meine Komfortzone – weit weg von mir – Schritt für Schritt wieder verlassen, Schritt für Schritt auf mich zugehen. «Wenn du bereit bist. Vielleicht ist diese Distanz im Moment auch noch wirklich total in Ordnung. Niemand muss Sex haben. Aber diese Energie ist in dir. Irgendwann wirst du merken, dass es Zeit ist, dich wieder mit ihr zu beschäftigen», sagt Sasha Cobra. Wenn es so weit ist, muss ich einfach nur nichts tun (was natürlich das Allerschwerste ist). Mich hinlegen und atmen, ohne Ablenkung. Badewanne, ohne Netflix und Bier. Nur ich und sie, mein Körper.

 

Michèle Rotens neues Buch «Wie mit (m)einem Körper leben» erscheint Ende Mai. Echtzeit-Verlag, 150 S., ca. 29 Fr.

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