Familie
«Mein älterer Sohn kam mit einer mehrfachen Behinderung zur Welt»
- Text: Marie Hettich, Sandra Brun
- Bild: Trice Gantner, Collage: annabelle
In unserer Rubrik «The Mamas and the Papas» kommen Eltern aus der Schweiz zu Wort: Ein ehrlicher Fragebogen über Liebe, Erschöpfung, politische Missstände und Parenting-Hacks. Diesmal mit Sara, Mutter von zwei Kindern.
Vorname: Sara
Alter: 45
Beruf: Coach, Supervisorin, Workshopleiterin und Podcasterin für die Frauenzentrale Zürich
Kinder: Zwei Söhne (20 und 17 Jahre alt)
Familienstruktur: Ich bin alleinerziehend und arbeite selbstständig zu 100 Prozent. Mein älterer Sohn, der mit einer Mehrfachbehinderung zur Welt kam, lebt seit zwei Jahren in einer Institution in Zürich und kommt an Wochenenden und in den Ferien nach Hause.
Das hat mich am Elternsein am meisten überrascht: Mit der grossen Liebe zu meinen Kindern geht auch eine riesige Angst einher, dass ihnen etwas zustossen könnte. Eine Gleichzeitigkeit der Gefühle, die ich zuvor nicht kannte.
Am anstrengendsten im Alltag mit Kindern finde ich: Die Unplanbarkeit. Es kommt immer anders, als man denkt – und häufig kommt alles gleichzeitig. Care-Arbeit ist dringend, sie wartet nicht und lässt einem manchmal keine Verschnaufpausen.
Am schönsten im Alltag mit Kindern finde ich: Die grosse Liebe und die Freude, die in mir gewachsen ist und immer noch grösser wird, je länger sie auf dieser Welt sind. Die Verbundenheit, die ich spüre, wenn wir drei zusammen sind, schenkt mir Vertrauen, Kraft und Sinnhaftigkeit.
In diesen Momenten schmerzt das Loslassen: Ich bin gefordert, ein erwachsenes Kind, das sich immer auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes befinden wird, loszulassen. Das überschreitet jegliche Dimension von Loslassen. Ich versuche die Form, welche für mich möglich ist, zu leben. Ein Balanceakt zwischen Fürsorge und Zutrauen. Er gelingt mir mal besser, mal schlechter und ist wahrscheinlich ein lebenslanger Prozess.
Eine kürzliche Erkenntnis, die sehr wichtig für mich war: Keine kürzliche, aber eine, an die ich mich immer wieder selbst erinnere, wenn mich das schlechte Gewissen plagt, weil mein älterer Sohn nicht mehr zu Hause leben kann: Nur wenn ich auch gut für mich selbst sorge, kann ich langfristig für meinen Sohn da sein. Er wird mich auch noch brauchen, wenn er 30 Jahre alt ist; das größte Geschenk, das ich ihm machen kann, ist, langfristig psychisch und physisch gesund zu bleiben. Meine Selbstfürsorge ist auch die grösste Fürsorge für meine Kinder.
«Ich würde heute viel, viel früher Hilfe annehmen und weniger alleine machen»
Die grösste Veränderung an mir selbst, seit ich Mutter bin: Es sind ganz viele Facetten dazugekommen, die ich vorher nicht kannte. Wie Jahresringe in einem Baumstamm. Die grösste Veränderung ist sicher mein verändertes Bewusstsein. Die Behinderung meines Sohnes hat mich gelehrt, die ganz kleinen Dinge im Alltag zu schätzen. Ich habe durch ihn Demut und Dankbarkeit erfahren, denn wenn nichts mehr selbstverständlich ist, wird kleines Glück ganz gross.
Das Witzigste an meinen Kindern: Es ist unmöglich, das Witzigste zu definieren – es gibt immer etwas zu lachen! Ich finde ja sowieso Kinder viel lustiger als Erwachsene.
Eine Sache, die mir in der Erziehung ganz besonders wichtig ist: Mir war immer wichtig, dass meine Kinder spüren und wissen, dass egal, ob ich mal wütend auf sie bin, sie mich nerven oder mich an meine Grenzen bringen, ich sie trotzdem liebe und dass ihr Verhalten an dieser Liebe nichts ändert. Dass diese Liebe bedingungslos ist und bleibt.
Das gönne ich mir, seit ich Mutter bin: «Gönn dir!» ist ein Satz, den ich häufig in meinen Workshops zum Thema Selbstfürsorge im Familiensystem weitergebe. Diese kleinen Alltagsressourcen, die ein warmes Herz schenken, funktionieren wie ein Schutzpolster gegen Stress. Und so gönne ich mir und meinen Kindern ganz viele Kleinigkeiten, die uns glücklich machen.
Mein Ventil: Mindestens einmal am Tag zu tanzen. Das ist meine Medizin und sie hilft fast immer.
Unterschätzt habe ich: Ich war 25, als ich mein erstes Kind bekam, und ich glaube, ich habe alles unterschätzt. Ich glaube aber auch, dass das dazugehört zum Elternsein. Dass man sich Bilder und Vorstellungen macht, die danach revidiert werden müssen.
Ein schnelles Gericht, das alle lieben: Ich bin ein großer Fan von Pyjama-Tagen. Das sind Tage, an denen man nicht rausgeht, alle im Pyjama bleiben, der TV läuft und nicht gekocht wird. Die Kinder können sich selbst bedienen mit Müsli oder Brot.
Das nervt mich an anderen Eltern am meisten: Mich nerven Eltern, die nicht ehrlich sind, will heissen, die eine Fassade aufrechterhalten und nicht über ihre Schwierigkeiten oder Überforderungen sprechen, sondern immer so tun, als ob alles super wäre.
Der beste Podcast für Eltern: Ich mag die Podcast-Folgen von «Mal ehrlich» und auch die Plattform.
Eine Sache, die ich über mich selbst gelernt habe, seit ich Mutter bin: Ich bin stärker, als ich jemals gedacht habe.
Der beste Tipp für alle frischgebackenen Eltern: Verbündet euch mit anderen Eltern, unterstützt euch gegenseitig und holt euch Hilfe, wenn ihr erschöpft seid. Ihr müsst nicht alles alleine schaffen.
In dieser Situation spüre ich die Liebe zu meinen Kindern immer ganz intensiv: Dann, wenn ich in ihren Augen das Leuchten und Glitzern sehe, das sie sich seit der Babyzeit zum Glück bewahrt haben
Das hat sich am Verhältnis zu meinem eigenen Körper geändert, seit ich Mutter bin: Ich bin heute zufriedener mit meinem Körper als früher, obwohl er als junge Frau viel normschöner war. Dies hat mit dem Bewusstsein zu tun, was er in den Jahren, seit ich Mutter bin, alles geleistet hat und dass dies nicht selbstverständlich ist. Dafür bin ich ihm dankbar.
Wovor ich meine Kinder gern bewahren würde: Ich würde meinen älteren Sohn gerne vor den gesundheitlichen Folgen seiner Behinderung bewahren, was leider unmöglich ist. Und vor Diskriminierung und Ausgrenzung. Menschen mit Behinderung haben in der Schweiz leider nicht die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderung. Dieser Missstand erschwert meinem Sohn das Leben.
Meine grösste Angst: Was mit meinem Sohn Cem passiert, wenn ich einmal nicht mehr lebe. Wenn ich mich nicht mehr für seine Rechte starkmachen kann, nicht mehr für ihn einsetzen und mich um seine Bedürfnisse kümmern kann. Leider fehlt mir das Vertrauen in unser System, dass er auch nach meinem Tod gut aufgehoben ist. Hoffnung und Zuversicht gibt mir meine Familie, die gross ist, und von der ich auch weiss, dass sie sich auch nach meinem Tod um ihn kümmern wird. Darauf versuche ich immer wieder meine Aufmerksamkeit zu lenken.
Etwas, das ich als Mutter rückblickend anders machen würde: Ich würde heute viel, viel früher Hilfe annehmen und weniger alleine machen. Ich bin über meine Grenzen hinausgegangen und habe dies mit grossen Erschöpfungsgefühlen bezahlt. Ich würde versuchen, meine Grenzen besser zu achten und zu schützen.
«Mich schmerzt es in der Seele, wenn ich sehe, dass die Schweiz aktuell an der Integration scheitert»
Die bisher toughste Phase, seit ich Mutter bin: Ich glaube, die ganzen letzten 20 Jahre waren tough. Schlimm waren für mich immer jene Phasen, in denen es Cem wegen seiner Behinderung nicht gut ging und ich ihm nicht helfen konnte. Dann, wenn ich grosse Ungewissheit aushalten musste. Mich hilflos und traurig fühlte. Wenn ich für die Rechte meines Sohnes kämpfen musste, weil er diskriminiert wurde und darunter litt. Oder wenn zur Behinderung meines Sohnes zusätzliche Schwierigkeiten hinzukamen, wie der frühe Krebstod meines Vaters oder die Trennung von dem Vater meiner Kinder.
Etwas, das mich ganz nostalgisch stimmt: Wie schnell die Zeit verfliegt. Ich versuche mit meinem jüngeren Sohn, der noch zu Hause lebt, die Zeit bewusst zu geniessen, die er noch gerne mit mir verbringt. Es wird der Tag kommen, an dem ich die herumliegenden Klamotten und das Chaos in der Küche, das er manchmal hinterlässt, vermissen werde.
Meine erste Massnahme, wenn ich Familienpolitiker:in wäre: Ich würde die UNO-Behindertenkonvention radikal umsetzen. Das bedeutet Teilhabe für alle – Inklusion in allen Lebensbereichen. Zusätzlich bräuchte es dringend ein Case-Management für alle Eltern, die ein Kind mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit grossziehen. Eine Anlaufstelle, wo sie alle Hilfe erhalten, die sie benötigen.
Mein Lifesaver Nummer eins: Ich bin dankbar, dass ich mit so vielen lustigen Menschen gross geworden bin, die mir ihren Sinn für Humor vererbt haben; er rettet mich immer wieder. Ich glaube, es gab keine Situation mit meinen Kindern, in der ich nicht irgendetwas lustig fand. Häufig ist eine Tragödie im Nachhinein auch eine Komödie, und diese Sicht auf die Welt hilft mir enorm.
Das nervt mich am Schulalltag: Nerven ist untertrieben! Mich schmerzt es in der Seele, wenn ich sehe, dass die Schweiz aktuell an der Integration scheitert und von Inklusion meilenweit entfernt ist. Es fehlt an Ressourcen in allen Bereichen.
Zuletzt so richtig verzweifelt war ich … als mein Sohn vor ein paar Monaten im Spital war.
Am besten geht es mir, wenn … es meinen beiden Kindern gut geht.
Alles wäre so viel einfacher, wenn … die unbezahlte und bezahlte Care-Arbeit die Wertschätzung erhalten würde, die ihr schon so lange zusteht.
Wenn Geld keine Rolle spielen würde, würde ich … eine grosse Wohngemeinschaft in der Stadt Zürich gründen, wo mein Sohn mit genug Assistenz möglichst autonom leben könnte.
Erziehungstipps … nicht zu ernst nehmen. Man kann Kinder nicht erziehen, sie machen einem sowieso alles nach.
Hier findet ihr alle Folgen «The Mamas and the Papas»