Familie
«Man muss für eine starke Bindung nicht zwingend biologisch verwandt sein»
- Text: Marie Hettich, Sandra Brun
- Bild: zvg, Collage: annabelle
In unserer Rubrik «The Mamas and the Papas» kommen Eltern aus der Schweiz zu Wort: Ein ehrlicher Fragebogen über Liebe, Erschöpfung, politische Missstände und Parenting-Hacks. Diesmal mit Camille, Mutter eines Kindes.
Vorname: Camille
Alter: 43
Beruf: Verlagsfachfrau / Verbands-Co-Präsidentin
Kind/er: ein achtjähriger Sohn
Familienstruktur: Ich arbeite 80 Prozent, mein Mann arbeitet 100 Prozent. Unser Sohn besucht die Tagesschule und den Hort bei uns um die Ecke.
Ein Gerücht über Eltern, das nicht stimmt: Blut ist dicker als Wasser. Also, dass man zwingend biologisch verwandt sein muss, damit es eine starke, unauflösbare Bindung gibt (Ich bin selbst Adoptivmutter).
Das hat mich am Elternsein am meisten überrascht: Dass man so viele Ausflüge machen muss – und auch noch so tun muss, als fände man das super. Langsam gewöhne ich mich dran, aber mein Sohn ist ja auch schon gross und geht zum Glück gern ins Kino.
Das hat mich regelrecht schockiert: Wie viel Verantwortung so ein Kind bedeutet und dass oft Personen ohne Kinder alles über Erziehung zu wissen glauben.
Das Schönste daran, ein Kind zu haben: Zu sehen, wie sie ihren eigenen Charakter entdecken und auf der Familienbühne mit einer neuen Stimme und eigenen Wünschen auftreten.
Am anstrengendsten im Alltag mit Kind finde ich: Fixe Vorstellungen auf allen Seiten, wie Dinge zu sein haben. Manchmal würde ich mir mehr Gelassenheit wünschen, bei meinem Sohn, aber auch bei mir selbst.
Das Witzigste an meinem Kind: Kommentare out of the blue und out of the box – von einem, der alles mitkriegt, noch nicht so lange dabei ist und darum ganz neue Aspekte mit hineinbringt.
«Mit einem Kind wird man auch in einer Stadt wie Zürich plötzlich zur öffentlichen Person»
Eine Sache, die mir in der Erziehung ganz besonders wichtig ist: Empathie, Gemeinschaftssinn und die Liebe zu guten Geschichten.
Eine Sache, mit der mich mein Kind zur Weissglut treibt: Verhandlungen über Medien- und Zockzeit. Ich wünschte hier und da, ich könnte Konsole und TV aus dem Fenster schmeissen oder per Kleininserat loswerden.
Was mir gegen unnötiges Schimpfen hilft: Rein gar nichts
Das gönne ich mir, seit ich Elternteil bin: Den Sound meiner Schritte auf Asphalt nach 20 Uhr immer noch herrlich zu finden.
Mein Ventil: Pilates oder Gemüseschneiden bei Politpodcasts finde ich recht meditativ. Und dann gehe ich einfach gern unter Leute (ins Theater, an Podien, Kundgebungen und Vereinsversammlungen oder auch in die Beiz) und freue mich über jedes bekannte Gesicht, das ich dort treffe.
Unterschätzt habe ich: Allgemein sinkende Freiheitsgrade und Zunahme von Fremdurteilen. Mit einem Kind wird man auch in einer Stadt wie Zürich plötzlich zur öffentlichen Person. Schreit dieses, fühlen sich auch unbeteiligte Dritte bemüssigt, sich dazu zu verhalten. Anonymes Grossstadtleben ist dann passé, man steht wie nackt vor allen Leuten. Das ist gewöhnungsbedürftig.
Unser Lieblingsresti mit Kind: Oh je. Aktuell und selten ist das McDonalds.
Ein schnelles Gericht, das alle lieben: Nudeln mit Thunfisch-Rahm-Sauce
Das nervt mich an anderen Eltern am meisten: Nacherzählungen von Wanderferien. Und wenn sie nicht sehen, dass Lehrpersonen und Erzieher:innen eine gute, wichtige Arbeit machen, die anstrengend und verantwortungsvoll ist und zudem gut bezahlt werden sollte.
Etwas, worüber wir Eltern ehrlicher reden sollten: Wie viel eigenen Ehrgeiz man – ganz ehrlich – in die Kinder hineinprojiziert. Da wäre es wichtig, gemeinsam zu reflektieren, ob das jetzt so sinnvoll ist für alle Beteiligten.
Eine Sache, die sich familienpolitisch in der Schweiz ganz dringend ändern muss: Na, stating the obvious: Eine Elternzeit wäre gut, für Mütter, für Väter, für Kinder.
Eine Anschaffung, die für die Katz war: So einiges an pädagogisch wertvollem Spielzeug, zum Beispiel eine Kleinkindstaffelei. Mein Sohn umschifft das Malen weiträumig.
Eine Anschaffung, die uns das Leben gerettet hat: Der Fernseher während der Pandemie
Das beste Buch für Eltern: Grad kürzlich gelesen: «Ein schönes Ausländerkind» von Toxische Pommes. Da geht es unter anderem darum, was man bereit ist, aufzugeben, damit das eigene Kind bessere Chancen hat (Heimat, Identität). Was das mit elterlicher Liebe zu tun hat. Und was das mit dem Kind macht (Internalisierter Leistungsdruck, Liebe, Abnabelungsschmerz, Identitätskrise).
Eine Sache, die ich über mich selbst gelernt habe, seit ich Mutter bin: Dass ich übermässig streng war mit meinen eigenen Eltern. Sie meinten es im Grossen und Ganzen ja eigentlich gut.
In dieser Situation spüre ich die Liebe zu meinem Kind immer ganz intensiv: Wenn es schlaftrunken am Morgen kuscheln kommt
Drei Hacks für gelungene Familienferien: Aus der Perspektive einer Einzelkindfamilie: Geht mit anderen Familien in die Ferien, die ähnlich wie ihr ticken. Guckt, dass sich die Kinder gut vertragen. Plant nicht zu viele Aktivitäten.
Ein guter Spartipp für Familien: Besucht die Gemeinschaftszentren – das ist günstig und macht gute Laune.
«Ich bin binnen Wochenfrist Mutter geworden und hatte keine neun Monate zur Vorbereitung»
Etwas, das meine Eltern komplett anders gemacht haben als ich: Meine Eltern hatten deutlich mehr Ansprüche an die Haushaltsführung, mein Vater passiv, meine Mutter sehr aktiv. Das war als Kind schön (immer alles gebügelt und gestärkt, Essen köstlich), aber auch immer stressig für meine Mutter. Jetzt haben wir ein bisschen modernere Standards (gebügelt ja, gestärkt nein, viel Pasta und unkomplizierte Küche) und weniger Stress. Ausserdem wäscht und bügelt mein Mann, ich muss bloss kochen.
Das hat sich am Verhältnis zu meinem eigenen Körper geändert, seit ich Mutter bin: Ich bin meinem Körper dankbarer als auch schon, dass er bei meinem Programm in der Regel mitmacht.
Mein schlauster Parenting-Hack: Es gibt Situationen, da hilft nur Himbeermarmelade-Toast und «Die Schlümpfe» im Fernsehen.
Das bringt mich als Elternteil sofort zum Weinen: Dramatische Wendungen jeder Art in Kinderfilmen. Das Bild von Alan Kurdi.
Wovor ich mein Kind sehr gern bewahren würde: Jede Art von Mobbing
Das beste Reiseziel für Familys: Deutsche Grossstädte wie Köln oder München, in denen einfach so viel los ist, dass man sich auch mit einem Eis vom Kiosk auf eine öffentliche Bank setzen und dem Trubel zuschauen kann. Das ist für uns als Bewohner:innen des beschaulichen Zürcher Kreis 6 schon aufregend genug, da brauchts keinen Europapark.
Ein Vorsatz, den ich wieder aufgeben musste: Pädagogisch wertvolle Erziehung mit «No Screentime», Holzspielzeug und Hausmusik.
Meine Geburt … Weder mit Schwangerschaft noch mit Geburt habe ich eigene Erfahrung. Mein Sohn ist ja adoptiert. In der ersten Zeit habe ich mich manchmal fehl am Platz gefühlt, weil mir diese Erfahrung fehlt. Auch dachte ich damals, dass biologische Mütter mehr Intuition haben, wenn es darum geht, die Wünsche des Babys zu erahnen und zu wissen, was zu tun ist. Heute weiss ich, es ist auch eine Frage der Übung. Mich hat es einfach kalt erwischt: Ich bin binnen Wochenfrist Mutter geworden und hatte keine neun Monate zur Vorbereitung. Das war sehr schön, aber auch ganz schön heftig.
Hier findet ihr alle Folgen «The Mamas and the Papas»
Genau aus der anderen Ecke: Lehrerin ohne eigene Kinder.
Ich wünschte, mehr Eltern hätten so eine entspannte und pragmatische Einstellung wie Sie. Dann wäre das Leben für viele Familien, Lehrkräfte und andere, die den Kindern einen guten Start ins Leben ermöglichen wollen, deutlich einfacher.
Aber Achtung: Bei Mobbing ist es nicht einfach, die Täter- oder Opferrolle zuzuweisen. Meistens wird ein Abblocken von Zudringlichkeiten als Mobbing bezeichnet. Dieses Abblocken findet gewöhnlich aber seinen Grund in unsozialem Verhalten des vermeintlichen Opfers. Bevor man also fordert, dass alle anderen ihr Verhalten ändern, muss man erst einmal gründlich untersuchen, ob das angebliche Opfer durch ihr/sein Verhalten die Ablehnung der Anderen nicht provoziert.
Weiterhin viel Entspannung und pragmatische Lösungen wünsche ich herzlich!