Wenn eine Mutter Mann und Kinder verlässt
- Aufgezeichnet von Evelin Hartmann; Illustration: Rahel Nicole Eisenring
Wie kann eine Frau nur Mann und Kinder verlassen für eine neue Liebe? Das fragte sich Alexandra auch – und hat es dennoch getan.
Ihr habt gesagt, ihr lasst euch nicht scheiden!», Joels* Schreie hallen durch das Haus, durch alle Zimmer, in jede Ecke – nur zu mir dringen sie kaum durch. Mein Mann Max versucht, unseren Achtjährigen zu beruhigen, hält ihn fest im Arm. Ich sitze nur da, halte den Kopf gesenkt und frage mich, wie es so weit kommen konnte.
Ich hatte Max in den Skiferien kennen gelernt. Ich war 24, wohnte in Zürich. Max in Langenthal BE. An meinem letzten Abend in Zermatt küssten wir uns zum ersten Mal. Danach verbrachten wir kaum eine Nacht mehr getrennt. Ein halbes Jahr später war ich schwanger. «Das kommt so früh», sagte ich damals. Max nahm mich in den Arm. Mit ihm war alles so klar, schien alles möglich. Sein Versprechen: «Wir schaffen das!» Ich kündigte meinen Job bei einer internationalen Bank und zog zu ihm. Drei Jahre später wurde Joel geboren. Zwei gesunde Kinder, unser Glück schien perfekt. Aber für mich war das Landleben eine Umstellung: Max ist fest verwurzelt in Langenthal. Ich nicht. Wie sehr ich mich auch bemühte, ich blieb die Zugereiste, fühlte mich oft einsam, unverstanden. Mir fehlte die Grossstadt, meine Freunde, meine Arbeit. «Lass uns nach Zürich ziehen», bat ich ihn. Max lehnte ab. Wir stritten oft deswegen.
April 2009 in einer Bar in Zürich, meine Freundin Katja feiert ihren Geburtstag. Max ist zuhause geblieben, bei den Kindern. «Ich bin Heiko», stellt sich ein Gast bei mir vor und drückt mir ein Glas in die Hand. Charmantes Lächeln, strahlend blaue Augen. Wir trinken Cocktails, tanzen ausgelassen. Zwei Drinks später streicht seine Hand sanft über meinen Bauch: «Wie schlank du bist.» Sein Mund dicht an meinem Ohr. Ich lasse es zu. Solchen Typen bin ich schon oft begegnet, auch nach meiner Hochzeit. Ich habe sie immer zurückgewiesen. Warum es in dieser Nacht anders ist, kann ich bis heute nicht erklären. Zum Abschied steckt Heiko mir seine Nummer zu. «Ich würde mich freuen», sagt er.
«Wollen wir uns sehen?»
Der Zettel liegt vor mir auf dem Küchentisch. Immer wieder streiche ich ihn glatt, wiederhole die darauf notierten Ziffern. Meine Buben sind in der Schule, Max arbeitet. «Es wird spät heute Abend», hat er gesagt, wie so oft in letzter Zeit. Wenn ich die Augen schliesse, spüre ich Heikos Hand auf meinem Rücken.
Plötzlich greife ich zum Telefon. Ich bin unsicher, spreche leise.
«Hier ist Alexandra, wie gehts?»
«Gut.»
«Wollen wir uns sehen?»
«Ja. Wann?»
Max erzähle ich, Katja habe mich eingeladen.
Heikos Wohnung ist klein. «Ich bin nur unter der Woche in Zürich», sagt er, «meine Frau wohnt in Stuttgart.» Ich nicke. Mehr will ich nicht wissen, wozu auch? Das hier hat nichts mit meinem Leben zu tun. «Meine Buben sind elf und acht», sage ich verlegen. Heiko nimmt mich in den Arm. Erste Küsse, Hände, die zaghaft auf- und abgleiten, den Rücken erkunden, die Schenkel, dann zupacken, so leidenschaftlich, wie ich es mir gewünscht habe.
Als ich in den Zug steige, wird es schon hell. Mir ist kalt. Trotzdem fühle ich mich wie berauscht. Zuhause werde ich das beste Mami der Welt sein, denke ich, während meine Finger über das Foto meiner Kinder streichen. «Wir dürfen uns nicht wiedersehen», höre ich mich drei Tage später am Telefon sagen. «Natürlich, wenn das dein Wunsch ist.» Er möchte es mir nicht unnötig schwer machen, sagt Heiko. Ich nicke, fühle mich leer, enttäuscht.
Die nächsten Tage bin ich fast wieder die Alte, lese Gutenachtgeschichten, versorge aufgeschlagene Knie, koche, gehe mit Max ins Kino. Du wirst es vergessen, sage ich mir. Aber ich vergesse nicht.
Nach drei Wochen halte ich es nicht mehr aus, sende Heiko ein SMS, mitten in der Nacht. «Können wir uns sehen?» Mit dem Handy in der Hand hocke ich im Badezimmer, die Tür abgesperrt, starre auf das Display. Dann krieche ich zurück zu Max unter die Decke – in unser Ehebett.
Von da an treffe ich Heiko alle zwei bis drei Wochen, meistens in seiner Wohnung. Der Sex ist grossartig, berauschend. Manchmal riskieren wir es auch, zusammen gesehen zu werden, und gehen essen. Dann unterhalten wir uns stundenlang, darüber, wie wir als Teenager waren, über seine Arbeit, die Städte, die wir gern zusammen bereisen würden – in unserer Fantasie. Konkrete Pläne machen wir nie. Ausgelassen laufen wir später zu ihm nachhause, Arm in Arm, glücklich. Meine Familie ist dann weit weg, in einen anderen Teil von mir verbannt. Ihnen gehört der Morgen, der Mittag und der Abend. Heiko gehört diese Nacht.
Die Versuchung war zu gross
Katja ist die Einzige, der ich mich anvertraue.
«Warum hast du das überhaupt angefangen?», fragt sie mich.
«Die Versuchung war zu gross.»
«Und jetzt?»
«Jetzt habe ich ihn von Tag zu Tag lieber.»
Aber Max liebe ich auch. Immer öfter liege ich nachts wach. Tagsüber bin ich unaufmerksam, müde, vergesse Fabians Hausaufgaben zu kontrollieren und Joels Schulaufführung. Wenn ich in ihre enttäuschten Gesichter sehe, kann ich kaum glauben, was ich da tue. Das bist doch nicht du, sage ich mir dann. Wirklich? Ich bin mir nicht mehr sicher.
«Was ist los mit dir?», will Max wissen.
«Alles in Ordnung», beteuere ich.
Katja warnt mich. «Du setzt deine Familie aufs Spiel.» Ich weiss, dass es nicht leicht für sie ist. Sie mag Max. Ich bin froh, dass sie trotzdem zu mir hält. Ein halbes Jahr geht das so, und ich werde immer unvorsichtiger. Einmal pro Woche bin ich jetzt in Zürich. Wenn Heiko anruft, gehe ich ran, egal ob Fabian und Joel in der Nähe sind, ich will seine Stimme hören.
Dezember 2009. Ich erzähle Max, dass Katja und ich gemeinsam in die Skiferien fahren wollen. Eine Woche, nur wir beiden Frauen. Max wünscht uns viel Spass. Nur die Hoteladresse soll ich ihm aufschreiben. «Falls etwas mit den Buben ist», sagt er. Ich kann mein Glück kaum fassen, sieben Tage, acht Nächte, nur Heiko und ich. Max bringt mich zum Bahnhof. «Dann bist nächste Woche», sage ich und küsse ihn. Als der Zug abfährt, drehe ich mich nicht noch einmal um, sonst hätte ich vielleicht seine traurigen Blicke gesehen – und geahnt, was kommt.
Der Anruf erreicht mich zwei Tage später auf dem Hotelzimmer: «Komm bitte runter, ich warte auf dem Parkplatz.» Max’ Stimme klingt fremd. Erschrocken lasse ich mein Handy sinken.
Zehn Minuten später stehen wir uns gegenüber, auf einem Hotelparkplatz, irgendwo in Graubünden. «Ich habe Katja angerufen.» Seine Stimme zittert. «Ich wollte es endlich wissen», sagt Max. Geahnt habe er es schon lange. Die nächsten Tage sind schrecklich.
«Du musst es beenden», fordert Max.
«Ich liebe euch beide, kannst du das nicht akzeptieren?»
Eine ungeheuerliche Bitte, ich weiss. Aber ich kann nicht anders. Max auch nicht.
«Er hat mir ein Ultimatum gestellt», erzähle ich Heiko am Telefon.
«Was willst du tun?»
«Ich weiss es nicht» … «Ich liebe dich», sage ich. Dann lege ich auf.
Es hat nicht funktioniert
«Du kannst nicht darauf bauen, dass dieser Mann seine Frau verlässt», rät mir meine Mutter und streicht immer wieder über meinen zitternden Rücken, «ob du dich von Max trennst oder nicht, musst du unabhängig davon entscheiden.» Ich sitze an ihrem Küchentisch, es riecht nach frisch gebackenem Kuchen und meiner Kindheit. «Ich kann nicht weitermachen wie bisher, dafür ist es zu spät», sage ich. Ich weine.
Es geht nicht nur um Heiko, das ist mir klar. Ich hab Max die ersten Jahre unserer Ehe sehr geliebt, und die Buben waren mein grösstes Glück. Ich habe mir immer wieder gesagt: Das ist viel mehr, als andere haben, was willst du noch?
So kann es funktionieren, dachte ich. Es hat nicht funktioniert – die Kleinstadt hat mich mehr und mehr eingeengt. Max wusste das. Ich habe es ihm oft gesagt. Aber er hat nichts getan. Das hat ihn mir fremd gemacht. «Und jetzt ist da jemand, der sich viel mehr nach mir anfühlt, nach dem, was ich wirklich will», erkläre ich meiner Mutter.
Max und ich sagen es den Kindern. Es ist furchtbar. Sie weinen, wollen es nicht wahrhaben. Dann der Schock: Fabian und Joel wollen bei Max bleiben, in ihrem Zuhause, bei ihren Freunden. Wenn ich gehe, dann ohne sie. Aber wie soll ich ohne meine Buben sein?
Ich schlafe nicht mehr, esse kaum noch. «Wir können noch einmal ganz von vorn anfangen», bittet mich Max. «Trotz allem, wenn du es auch möchtest.» Die Buben sind in dieser Zeit oft bei seinen Eltern. «So etwas kann man doch nicht aufgeben», sagt meine Schwiegermutter und schaut aus dem Fenster. Im Garten bauen Joel und Fabian gerade einen Schneemann. Max’ Schwester sagt es mir direkt ins Gesicht: «Was ist das für eine Mutter, die ihre Kinder im Stich lässt?» Weinend laufe ich aus dem Haus. Seitdem holt Max die Buben ab. Ich kann die vorwurfsvollen Blicke nicht mehr ertragen.
Natürlich: Das Glück meiner Kinder steht über meinem. Doch sie sollen auch lernen, was Wahrhaftigkeit heisst, dass man sich selbst treu bleiben muss, zu seinen Gefühlen steht. Das sage ich mir immer wieder. In diesen Momenten fühle ich mich stark – um im nächsten Moment wieder in die Knie zu gehen, vor meiner Angst, meinen Zweifeln.
«Du kannst erst einmal bei mir wohnen, wenn du möchtest», bietet mir Katja an. «Vielen Dank», sage ich. Ihr übel nehmen, dass sie Max nicht belogen hat, wie könnte ich? Auch andere Freunde rufen an, wollen wissen, wie es mir geht, bieten ihre Hilfe an. Einige gehen mir aber auch aus dem Weg. Sie stehen auf Max’ Seite. Ich muss das akzeptieren.
An einem kalten Februarwochenende ziehe ich aus. Ich weiss nicht, was mir letztlich die Kraft zu diesem Schritt gegeben hat. Es war auch keine bewusste Entscheidung, kein «So, jetzt gehe ich». Eher ein Hineingleiten in ein anderes Leben, das schon viel früher begonnen hatte – in dem Moment, als ich erstmals seine Nummer wählte. Irgendwann fing ich an, meine Sachen zu packen, wie automatisch, ferngesteuert; meine Kleider, meine liebsten Erinnerungsstücke. «Dann ist es wohl jetzt entschieden», fragte Max. Ich nickte.
Joel und Fabian sind übers Wochenende bei ihrer Grossmutter, sie sollen nicht sehen, wie ihre Mutter die Koffer packt, der Möbelwagen vorfährt.
Rabenmutter sagt keiner
Die ersten Tage in Zürich sind schrecklich, ich fühle nichts, funktioniere nur. Nachts schrecke ich hoch, rufe die Namen meiner Buben. Sie sind nicht da. Ich arbeite wieder, habe eine Stelle in einer Bank gefunden, zum Glück. Der Job hilft, er strukturiert meinen Tag. Abends sehe ich Heiko. Er hält mich im Arm, und wir reden viel, fragen uns, ob eine Beziehung unter solchen Startbedingungen eine Chance hat. «Lass es uns versuchen», bittet er.
Am ersten Besuchswochenende meiner Buben stehe ich um 6 Uhr auf, koche Fabians und Joels Lieblingsessen. «Warum weinst du denn, Mama, freust du dich nicht?», fragt mich Joel am Bahnhof. Ich lächle und streiche ihm über das dunkle Haar.
Langsam geht es besser – in meiner Wohnung, meinem Quartier, meinem neuen Leben. Natürlich erzähle ich auch von Joel und Fabian, wenn Arbeitskolleginnen Fotos ihrer Kinder herumzeigen. Ich bin schliesslich auch ein Mami. «Warum leben sie nicht bei dir?», wollen manche dann wissen. «Weil ich mich entscheiden musste.» «Ja, aber …»
Das Wort Rabenmutter sprechen sie nicht aus. Das tut niemand. Nicht vor mir. Aber auch ihr betretenes Schweigen macht mich wütend. Ich fühle mich dann wie eine Aussätzige, moralisch minderwertig, kalt. Mit der Zeit lerne ich, mit diesen Situationen besser umzugehen. Und ich erfahre, dass die Zeit viele Wunden heilt – dass ich am richtigen Ort beim richtigen Mann lebe, wie selbstständig meine Buben schon sind, wie gern sie uns besuchen. Aber auch, dass ein kaum zu ertragender Schmerz bleiben wird – weil ich Fabian und Joel nicht immer bei mir haben kann.
* Alle Namen von der Redaktion geändert