Lynne Greene kennt die Kosmetikbranche wie kaum eine andere. Die Clinique-Präsidentin über Teamwork, Konkurrenzkampf, Kundinnenwünsche und ihr privates Leben in New York.
Das Erste, was einem auffällt, sind ihre Augen. Noch bevor wir uns hingesetzt haben, hat Lynne Greene gestrahlt, als seien wir das Highlight in ihrem gestopft vollen Tagesplan («So nice to meet you!»), dann wieder entschuldigend geblinzelt und uns so für zehn Minuten Wartezeit entschädigt. So würde Hollywoodschauspielerin Natalie Wood wohl heute aussehen. Ihr warmes Lächeln wird in den nächsten zwei Stunden, je nach Thema, zwischen intensiv, konzentriert und beinahe aufgeregt changieren. So wie man das wohl automatisch macht, wenn man seit zwei Jahrzehnten in einem grossen Beautykonzern arbeitet, dessen Gründerin, Estée Lauder, einst sagte: «Wir verkaufen keine Lippenstifte, wir verkaufen schönere Lippen!» Lynne Greenes Lippen sind dezent geschminkt, ihr Make-up ist beinahe unsichtbar, perfekt verkörpert sie ihre eigene Vision einer Clinique-Kundin, deren Schönheitsideal eine dezente, ewige Jugendlichkeit ist. Wir setzen uns an einen perlweissen Konferenztisch, auf dem Mini-Schokoladen-Croissants sowie ein ausgesuchtes Sortiment feiner Früchte parat liegen. Um uns herum der atemberaubende Blick aus dem Eckbüro im 37. Stock auf den New Yorker Central Park, der deutlich macht: Wer hier arbeitet, der hat es nach ganz oben geschafft.
Lynne Greene, seit Ihrem Wiedereinstieg bei Estée Lauder 1997 führte Ihr Weg kontinuierlich nach oben, bis zur Global-Brand-Präsidentin von Clinique, Origins und Ojon. Ist es für Frauen einfacher, im Kosmetikbusiness Karriere zu machen als anderswo?
Na ja, Frauen sind in der Kosmetikindustrie zwar in der Überzahl, aber die meisten Führungspositionen haben immer noch Männer inne. So gesehen ist es hier weder einfacher noch schwieriger.
Als Sie 2006 das Ruder bei Clinique übernahmen, kriselte der Markt für Prestige-Beautyprodukte bedenklich, und Clinique selbst wies erste Alterserscheinungen auf. Heute gilt Clinique in der Kosmetikbranche als «the brand to beat». Ihr Erfolgsrezept?
Eine klare, starke Vision, die unter Berücksichtigung des markeneigenen Kapitals für Clinique eine Zukunft entwirft. Das Konzept von Clinique war bei der Lancierung 1968 revolutionär und ist es bis heute: die erste von Dermatologen entwickelte Kosmetikmarke, ohne Allergierisiko, hundert Prozent parfumfrei, dazu die Überzeugung, dass die 3-Schritte-Systempflege aus Seife, Lotion und Feuchtigkeitspflege jeder Frau zu einer schönen Haut verhilft. Diese Systempflege ist das Kapital, das Fundament für alle Weiterentwicklungen, die den Hautbedürfnissen der heutigen Zeit entsprechen und für spezifische Probleme dermatologische Lösungen bieten.
Nun scheinen Frauen weltweit nicht dieselben Hautprobleme zu haben. Das bisherige ökonomische Mantra «Think global» wird auch in der Kosmetikbranche zunehmend abgelöst von einer Konzentration auf die Besonderheiten lokaler Märkte.
Das stimmt und gilt vor allem für den Marktauftritt eines Produkts. Die Werbung für Even Better Clinical zeigt beispielsweise in der westlichen Welt braune Eier mit dunklen Flecken, die sich allmählich auflösen, um die Wirkungsweise des Produkts zu zeigen. In China wiederum heisst das Produkt Derma White Clinical Brightening Essence, und die Werbung zeigt schwarze Flecken auf porzellanweissen Eiern. Dieser Unterschied ist tatsächlich den kulturellen Eigenheiten der jeweiligen Regionen geschuldet. Ansonsten aber geht meine Haltung eher in die Richtung, dass ich die bestmöglichen Produkte allen Frauen dieser Welt zugänglich machen möchte. Der Erfolg unserer Even-Better-Linie bestätigt diesen Ansatz: Seit Jahrzehnten haben asiatische Frauen gegen Pigmentflecken gekämpft. Plötzlich haben wir bemerkt, dass dies auch ein Thema in anderen Regionen der Welt ist. Aus lokal wurde global.
Jahr für Jahr bringen die Kosmetikunternehmen Neuheiten über Neuheiten auf den Markt. Woher wissen Sie eigentlich, was die Frauen wollen?
Ganz einfach: Indem wir sie fragen. Wir beginnen mit Meinungsumfragen in verschiedenen Ländern. Wir wollen beispielsweise von den Frauen wissen, was ihre zehn grössten Hautprobleme sind. In China ist es die Haut um die Augen, in den Vereinigten Staaten Falten generell. Anschliessend fragen wir beispielsweise nach der Textur der Lieblingscrème. Und so weiter. Dazu kommen die Forschungsresultate unserer Labors, Meinungsumfragen bei der Konsumentinnen und die Akzeptanz unserer Testprodukte bei Probandinnen.
Sie sind seit dreissig Jahren im Kosmetikbusiness tätig, seit zwanzig Jahren bei der Estée-Lauder-Gruppe. Noch kein Anflug von Routine?
Nein, ganz ehrlich, ich finde meinen Job aufregend wie am ersten Tag. Ausserdem ist Clinique meine grösste Erfolgsgeschichte, die ich gern noch weiterschreiben würde. Vor allem aber fasziniert mich die Kosmetikbranche wie keine zweite. Denn mit der Zeit ist mir bewusst geworden, wie menschlich die Kosmetikindustrie eigentlich ist. Viele Menschen glauben, dass die Kosmetik sich nur um Lippenstifte, Lidschatten oder Crèmes dreht und alles enorm oberflächlich ist. Aber wenn man wirklich involviert ist, merkt man, dass es vor allem um Gefühle geht. Indem wir Frauen schönere Haut, Augen oder Lippen ermöglichen, beeinflussen wir, wie diese Frauen sich sehen, wie sie sich mit sich selbst fühlen.
Routiniert bringt diese Superprofifrau ihr Credo rüber, man glaubt ihr jedes Wort, einfach, weil sie es wohl wirklich ernst meint. Sie trägt eine dramatische Seidenbluse zu ihrem Deuxpièces, an ihrem Handgelenk klunkert das glamouröse Gliederarmband von Diane von Furstenberg für H. Stern, ihre langen Beine stecken in coolen Stiefeln – Lynne Greene trägt die Insignien der weiblichen Macht mit Charme und Stil. Und ist doch vor allem ein Mensch, eine Frau, der man abnimmt, dass sie auch an sehr verregneten Wochenenden mit den Hunden durch den Park läuft. Und überhaupt: sich nicht nur für ihren Beruf interessiert, sondern auch für das Leben drum herum, an den Wochenenden, in den Ferien. Gebildet wirkt sie, klug, vielseitig interessiert. Wie jemand, die den «New Yorker» abonniert hat, neben «Vogue» und «Harper’s Bazaar».
Nehmen wir mal an, es gäbe die Beautyindustrie nicht. Wer oder was wäre Lynne Greene heute?
Immer noch keine Lehrerin, obwohl ich ja ursprünglich auf diesen Beruf hin studiert habe. Aber mir war sehr schnell klar, dass ich in die Geschäftswelt will und mich mit Erwachsenen auseinandersetzen. Vermutlich wäre ich im Verlagswesen oder im Journalismus gelandet.
Und wären damit Teil einer sterbenden Branche – oder glauben Sie daran, dass es auch in Zukunft noch Zeitungen und Magazine geben wird?
Aber ja, davon bin ich überzeugt! Es gibt nach wie vor genügend Menschen, die das Gefühl von Papier zwischen ihren Fingern mögen. Ich bin der Meinung, dass man mit Papier auch besser arbeiten kann: Ich kann in einem Buch oder Magazin Textzeilen unterstreichen, umranden oder Seiten rausreissen, was man bei einem iPad nicht kann. Eine Freundin hat vor kurzem gesagt: «Ich fühle mich so viel kreativer, wenn ich einen Stift in der Hand halte und damit schreiben, zeichnen oder malen kann als vor einem Computer oder einem iPad. Das ist so viel intuitiver.» Ausserdem habe ich gerade erst gelesen, dass die meistgelesenen Artikel im Internet immer noch aus klassischen Zeitungen oder Zeitschriften stammen.
Als Global Brand President sind Sie für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich. Hat sich Ihr Führungsstil mit der zunehmenden Verantwortung verändert?
Das sollten Sie besser meine Mitarbeiter fragen! Aber ich glaube, dass mein Führungsstil sich nicht wesentlich geändert hat. Ich bin einerseits durchaus teamfähig, habe aber eine sehr klare Meinung zu den Dingen, die ich auch vertrete. Und ich erwarte von meinen Leuten, dass sie sagen, was sie denken. Meine Aufgabe besteht dann vor allem darin zu entscheiden, was erfolgversprechend ist und was nicht.
Hand aufs Herz: Bevorzugen Sie Frauen oder Männer in Ihrem Arbeitsumfeld?
Da mache ich keinen Unterschied. Ich will einfach die beste Person für den Job. Das Geschlecht ist mir egal.
Wie schwierig ist es angesichts des harten Wettbewerbs, die Nummer eins nicht nur zu werden, sondern auch zu bleiben?
Ich glaube, die grösste Gefahr für den Misserfolg ist nicht harte Konkurrenz, sondern das Gefühl, sich auf den Lorbeeren ausruhen zu können. Das liegt nicht drin, will man oben bleiben. So banal es klingen mag, wir haben enorm viel erreicht, aber wir müssen zwingend Richtung Zukunft sehen und denken. In unserem konkreten Fall heisst das: Wir werden noch intensiver mit unseren Dermatologen zusammenarbeiten, denn wenn man weiss, was der Dermatologe und seine Patienten diskutieren, dann weiss man auch, worauf die Kosmetikindustrie vorbereitet sein muss. Unsere Konkurrenz sind nicht nur andere Kosmetikfirmen, sondern inzwischen auch die Prozeduren beim Dermatologen oder beim Schönheitschirurgen. Auch da müssen wir mithalten können.
Während man ihr so zuhört, fragt man sich, ob sie wirklich glaubt, dass es eine Crème aufnehmen kann mit dem Chirurgenmesser. Doch das ist offenbar nicht ihr Punkt – viel bedeutender als einzelne Falten findet sie die gesamte Erscheinung, die Ausstrahlung einer Frau. Und sie braucht Kundinnen, die das verstehen, noch wichtiger: ein Verkaufsteam, das es versteht, diesen Approach zu vermitteln. Wer einmal einen typischen Clinique-Counter besucht hat, weiss, was sie meint. Hier trifft man andere Frauen als an den anderen Countern, das Personal trägt den typischen Laborkittel und unterscheidet sich auch im Kontakt wohltuend von den Kolleginnen anderer Brands: Die Kundinnen können selber entscheiden, ob sie mithilfe einer Diagnose-Lampe sowie einem Computer erst eine Hautanalyse oder gleich nach Herzenslust Make-up-Produkte und Farben ausprobieren wollen.
Wie gehen Sie persönlich mit Erfolgsdruck um? Wäre es für Sie ein schwarzer Tag, an dem von der Dramatically Different Moisterizing Lotion nicht alle 4.8 Sekunden ein Exemplar über den Counter ginge?
Bestimmt nicht. Ich kann sehr gut abschalten, lese sehr viel und weiss auch, wie ich mich bewusst entspannen kann. In den Ferien wandere ich oder erkunde fremde Kulturen. Vor zwei Jahren war ich in Tibet. Ich wollte unbedingt das Land und seine Einwohner kennen lernen, zumal mich der Buddhismus schon immer fasziniert hat. Im letzten Jahr habe ich mein Haus renoviert, da wird die Frage nach dem richtigen Spannteppich plötzlich ungemein entscheidend …
Sie leben und arbeiten in New York – ist das nicht ohnehin sehr anstrengend?
New York kann sehr entspannend sein. Ich liebe das Theater, habe sogar selbst schon in ein Theaterstück investiert! An meinem letzten freien Tag war ich einfach nur den ganzen Tag zuhause, habe nichts unternommen, ausser mit meinen Hunden spazieren zu gehen und dieses wunderbare Buch «Rules of Civility» von Amor Towles in einem Rutsch zu lesen.
Mit wie vielen Hunden teilen Sie denn Ihr Leben zurzeit?
Mit zwei Cocker-Pudel-Mischlingen. Der eine von den beiden benimmt sich gern mal daneben und lässt kein Fettnäpfchen aus. Aber beide sind enorm klug. Und ich bin sehr gern mit ihnen unterwegs.
Im Central Park?
Genau, das ist mein liebster Ort in ganz New York. Hier erlebe ich die Jahreszeiten, sehe, wie sie kommen und gehen. Wenn es jetzt Frühling wird, beginnt wieder die Periode, die wir New Yorker besonders lieben. Wenn die Dämmerung, die Spanne zwischen Tag und Nacht, dieses ganz besondere Licht hat. Die grosse Joan Didion hat das Phänomen in ihrem letzten Buch beschrieben, als «Blue Nights». Diese unbeschreibliche Stimmung im Park auf sich einwirken zu lassen, das ist jedes Mal wieder etwas ganz Besonderes.
Die besondere Zeit mit Lynne Greene ist jetzt abgelaufen. Wir schauen noch einmal hinunter in den Central Park, noch ist es früher Nachmittag und das Licht leicht winterlich unterkühlt. Auf dem Weg hinaus bitten wir eine Mitarbeiterin um einen Rundgang – mal sehen, wie es sich so arbeitet bei Clinique, wenn man nicht die Chefin ist. Wir traben vorbei an Einzelbüros, gepflastert mit Moodboards, um die kreativen Gedanken in Gang zu halten. Entlang an alten und neuen Werbemotiven. Platzen beinahe in ein Meeting, offenbar wird hier eine neue Strategie gesucht für ein bestimmtes Produkt, jedenfalls wird laut gelacht über einen Vorschlag vom Ende des Tisches. Wir seufzen, leicht neidisch: Dies hier scheint ein Ort, wo die schlechte Laune nicht wohnt. Wo die Menschen davon überzeugt sind, dass sie mit ihrem Produkt die Welt verbessern können. Oder mindestens einbisschen verschönern.
Schöne Karriere
Lynne Greene wuchs in der Kleinstadt Lebanon im US-Bundesstaat Missouri auf. Sie studierte Theater- und Literaturwissenschaften an der Universität von Missouri in Columbia. Weil sie nicht Lehrerin werden wollte, nahm Lynne Greene einen Job bei Estée Lauder in St. Louis an und zog drei Jahre später nach New York, wo sie Schulungsleiterin für Estée Lauder wurde. In den folgenden Jahren arbeitete sie in verschiedenen Positionen für Chanel, Yves Saint Laurent und Lancôme, um 1997 zu den Estée Lauder Companies zurückzukehren. Im Jahr 2006 wurde sie dort Präsidentin von Clinique.