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Liebeskummer: Wenn das Herz an der verflossenen Liebe hängt

Liebeskummer: Wenn das Herz an der verflossenen Liebe hängt

  • Text: Antje Joel; Illustration: Marcos Chin

Manche Männer gehen uns einfach nie mehr aus dem Kopf. Für unsere Autorin ist dieser Mann Bernhard.

Ist so lange her, Bernhard. Bist schon so lange weg. 17 Jahre, fast so lange, wie wir uns kannten. Bist einfach so verschwunden, ohne Ankündigung, kein Aufwiedersehen. Nicht mal ein Lebewohl. Hast eine Frau gefunden, aus Texas, und schlichst dich klammheimlich mit ihr davon. Für immer. So sieht es aus. Sag, alter Freund, denkst du noch manchmal an mich? Weil: Ich denke noch immer und ziemlich oft an dich. Erzähle von dir, hier und da. Die alten Geschichten, na ja, was soll man machen, neue haben wir, du und ich, ja leider keine.

Wir kannten uns zwanzig Jahre, seit der 5. Klasse. Ich weiss gar nicht, wann ich dich das erste Mal sah. Ich meine: so richtig. Mit deinen Locken, der Brille, den Sommersprossen. «Sunnyboy!», hat unsere Lehrerin gesagt. Sie mochte dich, ganz offensichtlich. Na, Bernhard, wer denn nicht. Vor allen anderen mochte dich ich. Einmal, es muss die schiere Verzweiflung gewesen sein, brachte ich den Mut auf, dir das zu sagen. «Frau!», riefst du ehrlich erschrocken. «Du machst mir Angst!» Blöderweise wusste ich nicht, was dagegen tun. Nicht in Primarschultagen und später höchstens sporadisch.

Einmal schriebst du mir vorne auf brandneue Stiefel BERNIE. Mit schwarzem Filzstift, wasserfest. Die Buchstaben zwei Zentimeter hoch, mindestens, im Halbrund über und um die Zehen gezogen. Ich hielt atemlos still. Trotzdem ist ein N dir ein bisschen verrutscht. «So», sagtest du. «Jetzt hast du mein Autogramm.» Das Glücksgefühl hielt, bis ich nachhause kam und mein Vater BERNIE sah.

Um den Nachhilfeunterricht in Mathematik hatte ich dich gebeten, damit ich mir auch nach der Schule mal ein Stündchen mit dir ergaunern konnte. Ich hielt das für ziemlich clever. Auf deinem Pult hattest du ein Konfitürenglas stehen. Darin faulte ein Apfel. Die untere Hälfte war schon Matsch. Ich sagte «Ärgh», schraubte den Deckel auf, und du brülltest: «Mann, Frau! Das ist mein Experiment! Jetzt hast dus verkackt.» «Hä?», fragte ich. Du hattest sehen wollen, wie lange es braucht, bis der Apfel verschwindet. Im Glas, ohne Sauerstoff. Ohne alles. Wenn man ihn wegschraubt, abdichtet, wenn man nichts, aber auch gar nichts dazutut. So erklärtest du es.

Dieser Apfel, denke ich, bin jetzt vielleicht ich. Denn du sitzt da, in Texas, sagst nichts, schreibst nicht, tust nichts. Schweigst noch auf jedes vereinzelte Mail von mir. Wartest einfach, wie lange es braucht, bis auch ich nichts mehr tue, dir nicht mehr schreibe. Bis auch ich verschwinde. Und dann schicke ich doch noch einmal ein E-Mail hinaus, in dein Schweigen. Einfach so. Und habs auf unbestimmte Zeit noch mal für dich verkackt.

Zum Schulabschluss fuhren wir mit der Klasse zelten, am See. Du und ich knutschten unter freiem Himmel, im Schlauchboot, die ganze Nacht. Mit allen Kleidern an. Ich machte gleich am nächsten Tag freudig mit meinem Freund Schluss. Dass du nicht verstehen wolltest, warum, brach mir mal eben das Herz. Du verliebtest dich statt in mich, Antje, in eine, die hiess Swantje. Tatsächlich. Sag mal, Bernhard, fandest du das nicht selbst ein bisschen transparent?

Ich heiratete, mit 18. Meine Ehemannwahl: durchgehend bescheiden. Dass du das durchschautest, nervte mich mindestens so sehr wie dich. Wir liessen einander ziehen, für ein paar Jahre. Als wir einander wiedersahen, war ich Mutter zweier Söhne. Der jüngere war noch kein halbes Jahr. Du pflanztest ihn auf den Plattenboden in der Küche, du glaubtest, er könne schon allein sitzen. In den folgenden Jahren haben wir oft über den Knall und das Babygekreisch gelacht. Bernhard, ich kann dir flüstern, nicht viele Mütter hätten dir so leicht vergeben.

Wir sahen uns wieder, und ich war geschieden. Mann, Bernie, du warst die Sonne meiner alleinerziehenden Tage. Was hätten die Buben und ich gemacht ohne dich? Wir fuhren mit den Kindern zum Baden, wir gingen spazieren, besuchten den Zoo. Wir ratterten hierhin und dorthin in deinem himmelblauen Deuxchevaux. Fährt heute kaum noch ein Mensch, diesen Döschwo, aus gutem Grund. Mal versagte bergab die Bremse. Wir brüllten, kreischten, gurkten den Berg runter in Serpentinen. Wir brachten die Karre glücklich vor einer Mauer zum Stehen. Ein andermal fiel uns auf grosser Fahrt der linke Kotflügel ab. In einer Papeterie kauften wir farbiges Klebband und klebten ihn auf dem Pannenstreifen wieder an. Das Blau war nicht ganz das gleiche. «Frau!», riefst du. «Was ich mit dir erlebe, erlebt kein Mensch.»

Wenn ich draussen bei den Pferden bin oder im Garten arbeite, stelle ich mir oft vor, wie das wäre, stündest du plötzlich da. Einfach so. Ich stelle es mir so angestrengt vor, dass ich dich manchmal schon stehen sehe. Am Zaun. Oder Tor. Locken, Brille, Hände in den Hosentaschen, kleines Lächeln. «Na, Frau», sagst du, «sprichst du noch mit mir?» Mann, Bernhard. Immer! Darum kann ich ja dein Schweigen nicht und wieder nicht verstehen.

Wenn wir im Wald und auf den Feldern herumspazierten, sagtest du, der Gärtner: «Komm mal her, Frau, kennst du diesen Baum. Weisst du, wie diese Pflanze heisst.» Immer im Dienst meiner Bildung. An einem Sommertag, auf jener Wiese, fragtest du: «Kennst du eigentlich diese Pilze hier?» Die aus den Kuhfladen wuchsen. Du sagtest: «Komm, wir nehmen ein paar.» Dann lagen wir rücklings im Gras, starrten hinauf zu den Wolken, und nichts geschah. «Ist das blöd», sagte ich. «Noch blöder als kiffen.» Was ich so gut wie aufgegeben hatte, weil es mir, wann immer ich es versuchte, nie mehr brachte als eine pelzige Zunge und kalten Schweiss auf der Innenseite der Hände. «Warte noch», sagtest du. Aber ich hatte so etwas wie einen Trotzanfall, fühlte mich vielleicht fatalistisch. Oder hielt auch nur die sagenhafte Wirkkraft dieser Kuhfladengewächse und Gott für den gleichen Käse: eine fantastische Spinnerei. Ich sagte: «Ich fress noch ein paar.» Und nicht lange darauf dachte ich, ich müsse jetzt vielleicht sterben. Alles war plötzlich so wacklig. Alles zoomte ständig rein und raus.

Ich weiss nicht mehr, wie wir von der Wiese zurück in meine 2-Zimmer-Altbauwohnung kamen, und auch sonst nicht mehr viel. Was ich weiss, ist: Du warst da. Als sich nach unzählbaren Stunden die Welt endlich wieder stabilisierte, sagtest du: «Frau, das Gute an dir ist doch: Langweilig wirds mir mit dir sicher nie.» Ich hielt das für ein Versprechen.

Manchmal träume ich von dir. Immer in Schüben, so fünf, sechs Nächte am Stück. Gibt es Auslöser dafür? Ist das so eine Art Sehnsuchtsventil? Ist es normal, noch nach 17 Jahren? Ich weiss es nicht. Weiss auch nichts von den Traumweltdetails, das Wichtigste nur: Du bist wieder da. Alles ist gut. Und wenn ich aufwache, bist du weg, und ich fühle mich ziemlich leer und allein. Alles so sinnlos, irgendwie. Was Blödsinn ist, natürlich, und dieser Blödsinn dauert den ganzen Tag. Manchmal bin ich träumend hellwach und versuche, mich vor dem Schlimmsten zu bewahren. Ich sage zu dir: «Ist ja nicht so, dass ich dich nicht gern bei mir hätte, Bernhard. Aber ich weiss genau, das hier ist nur ein Traum, und wenn ich aufwache, ist es doppelt schwer.» Dann wache ich auf, und es ist doppelt schwer.

Wir hatten Sex, damals, im wirklichen Leben, und konnten danach einander für Wochen nicht ertragen. Wir haben es trotzdem noch und immer noch mal versucht. Einmal schlief ich ziemlich mittendrin ein, dampfte einfach so unter dir weg. War nicht persönlich gemeint. Es war nur so spät, und ich war so müde und das Wasser in der Badewanne so lauschig warm. Na, und nicht zuletzt fühlte ich mich mit dir wohl. Wohl genug. Ich weiss, das erschien dir ein schlapper Trost.

An den Winterabenden sassen wir in meinem Altbauzimmer auf dem Teppich, rücklings an die Heizung gelehnt. Tranken Tequila. Oder rauchten uns auch mal eine pelzige Zunge und schwitzige Hände. Nach solchen Tagen, an solchen Abenden fühlten wir uns schon wie Familie. Ich schnitt dir die Haare, und wir sponnen rum. Vom Haus, das wir kaufen würden, und den Kindern, die wir bekämen. Gemeinsam. Wir hatten einen genauen Plan, von dem wir stillschweigend wussten, wir würden ihn niemals leben. Aber er machte uns für den Augenblick glücklich. Wer weiss, warum.

Klar, manchmal frage ich mich, bist es tatsächlich du, den ich hier beweine? Oder ist es die relative Unbeschwertheit unserer jungen Tage? Geht es nicht um den Verlust von dir, nicht allein, sondern bist du das Synonym für jeden Verlust, den ich über die Jahre erlitten habe? Ich habe nie mehr einen Freund wie dich gefunden. Will es nicht mal versuchen. Meine Güte, Bernhard, ehrlich, was wir miteinander hatten, bietet mir sonst doch kein Mensch.

Ab und zu, gar nicht so selten, suche ich nach dir im Internet. Meist mitten in der Nacht. Ich finde nicht mehr als Brocken, hier und da. In einer Zeit allgemeiner Auffindbar- und Durchsichtigkeit hast du es geschafft, weitgehend unentdeckt zu bleiben. Kein Facebook. Kein Foto. Fast nichts. In meinen paranoiden Momenten fürchte ich: wegen mir. Und verstehe doch nicht: warum? Ich fand eine E-Mail-Adresse, an die schickte ich dir einen Satz: «Du fehlst mir.» Du schriebst nie zurück.

Einmal tat Google mir im Zusammenhang mit deinem Namen das Wort «Beerdigung» an. Auf Englisch. Mein Herz setzte einen Schlag aus, und mir stockte der Atem. Ich klickte mit zitterndem Finger auf den Link und las: Du warst nur der Träger des Sarges gewesen. Lagst nicht selber drin. Puh. Aber ich fragte mich auch, was wäre, wenn, na klar. Wenn wir uns niemals mehr sähen, bevor. Und ich dachte an das Abkommen, das wir getroffen haben. Damals, mit zwanzig, vielleicht auch früher. Auf jeden Fall, als ein möglicher Tod noch in lachhafter Ferne lag. Du sagtest: «Wer immer von uns beiden zuerst stirbt, muss versprechen, dass er zurückkommt und dem anderen Bescheid gibt. Wenn ihm das möglich ist.» Darauf gaben wir uns die Hand. Später wollte mir die Vorstellung, du könntest des Nachts tot auf meiner Bettkante sitzen und mich mit kalter Hand aus den Träumen rütteln, nicht mehr behagen. «Abgemacht ist abgemacht!», sagtest du streng.

Ich lernte einen Mann kennen, den fandest du, wie gehabt, blöd. Als wir das erste Mal miteinander ausgingen, du, der Blöde und ich, nahmst du die paar Minuten, die ich mich auf die Tanzfläche absetzte, als Gelegenheit wahr. Zum anderen sagtest du: «Weisst du, du hast Glück, dass ich so ein guter Verlierer bin.» Pause. «Aber eigentlich habe ich ja noch gar nicht verloren. Ich gebe dir fünf Wochen, höchstens, dann hat sie die Nase voll. So läuft das nämlich bei ihr.»

Der andere hat es mir später erzählt. Ich war erst sprachlos, dann tobte ich vor Wut. Na ja, so ein bisschen. «Was denn», hast du gesagt. «Ist doch wahr.» Ernsthaft, Bernhard, dass ich ein halbes Jahr später trotz Nase voll den Kerl geheiratet habe, daran gebe ich dir die Schuld. Wenigstens so ein bisschen. Du zogst fort. Fürs Erste nur in die Stadt, siebzig Kilometer. Weit genug, um ein guter Verlierer zu sein. Nah genug, dass wir uns nicht verloren. Du kriegtest dich ein, nach und nach. Ich kriegte mehr Kinder. An den Wochenenden kamst du uns besuchen, fuhrst mit ein paar Bier, einem Säckchen Gras und selbst gefangenen Fischen zu uns aufs Land. Erst in einem zugemüllten Opel Kadett, später in einem Golf. Wenn dein Auto mit Traktorgedröhn vor dem Haus vorfuhr, kreischten die Kinder. Diesmal vor Glück. An unseren Sonntagmorgen, über dem Frühstück, fragtest du jahrelang immer das Gleiche: «Wie finde ich die Richtige?» Ich tat so, als sei mir daran gelegen. Legte die Stirn in Falten. Präsentierte diesen und jenen Tipp. Ganz so, als ob ichs wüsste. Einmal lachtest du, da am Tisch, und riefst: «Ach, Frau, weisst du. Eigentlich suche ich doch immer nur dich!»

Tatsächlich fandest du jene. Aus Texas. Kamst uns noch einmal ein Wochenende mit ihr besuchen. Sie liess ihre Intimseife in unserer Dusche stehen. Mehr hab ich zu ihr nicht zu sagen. Und du sagtest nicht mehr viel zu mir. Ich rief dich ein letztes Mal an. Ich hatte ein neues Kind, ich dachte, das könnte dich interessieren. «Hey!», riefst du. «Ich komme das Baby bewundern, sobald es nicht mehr nur rot und blau ist, okay?» «Okay!», rief ich froh. Dann hörte ich, du bist weg. In Texas. Hast alles und jeden zurückgelassen. Die Stadt, Eltern, Brüder, Bekannte. Na klar, und vor allem mich.

Ich hörte, du hast geheiratet. Da war ich schon von dem Blöden geschieden. Ich hörte, du hast jetzt selbst Kinder. Zwei Mädchen. Meine Mutter hatte ihre Namen in der Todesanzeige deines Vaters gelesen. Erzählte beides so nebenbei. Die Anzeige hatte sie schon ins Altpapier geworfen. «Ich konnte ja nicht ahnen, dass dich das noch interessiert.» Ist es zu fassen? Um ein Haar hätte ich dir geschrieben. Dass ich es nicht tat, lag daran, dass ich nicht wusste, was. Und an meinen Kindern, die mit den Augen rollten und mich «Stalker» nannten. Was selbstverständlich Unsinn war. Oder? Ersatzweise dachte ich wieder mal an dich. Über Tage. Und Wochen. Fragte mich, wies dir wohl geht. Da drüben, in deinem mir fremden Leben. Und ich verstand, dass du niemals am Gartenzaun stehen wirst. Einfach so, Hände in den Hosentaschen. Worüber würden wir reden?