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Sexologin Dania Schiftan über Lustlosigkeit: «Viele leben ihre Sexualität unbewusst»

Liebe & Sex 

Sexologin Dania Schiftan über Lustlosigkeit: «Viele leben ihre Sexualität unbewusst»

Die Schweizer Sexologin und Psychotherapeutin Dania Schiftan widmet sich in ihrem neuen Buch «Das Comeback deiner Lust» der Lustlosigkeit. Ein Gespräch über Geschlechterunterschiede, verschiedene Erregungsarten – und Sex in langjährigen Beziehungen.

annabelle: Menschen haben immer weniger Sex, das sagen verschiedene internationale Studien. Haben wir ein Lustproblem?
Dania Schiftan: Es soll in der Sexualität keine Standards und keine Wertungen geben. Manche Menschen haben mehr Lust, andere weniger. Solange sie damit zufrieden sind, ist es gut. Zu einem Problem wird es erst, wenn man darunter leidet. Ich glaube nicht, dass wir ein allgemeines Lustproblem haben.

Ist Lust eine Sache der Einstellung?
Nein. Lust ist ein Synonym für Vorfreude. Freude auf das, was kommt. Wenn mein Gehirn etwas mit einer positiven Bilanz verknüpft, dann empfinde ich Vorfreude; mit einer negativen Bilanz freue ich mich nicht. Hören wir zum Beispiel das Wort Pizza, spielt bei den meisten Menschen ein positiver Film im Kopf ab: Pizza ist lecker, Pizza ist einfach zu bekommen, Pizza ist nicht so teuer … Und weil das so ist, essen Menschen auch immer wieder Pizza. Sie empfinden Vorfreude, also Lust auf Pizza.

Und was heisst das nun auf die sexuelle Lust übertragen?
Wenn die Sex-Bilanz beim partnerschaftlichen Sex zum Beispiel durch Anstrengung, Druck, Langweile, Streitsituationen geprägt ist – oder weil man Angst hat, dass die Kinder aufwachen –, dann ist das eher negativ. Man empfindet keine Vorfreude, ergo hat man keine Lust und zieht sich vielleicht sogar aktiv zurück.

Die These Ihres neuen Buches «Das Comeback deiner Lust» ist: Wir können unser Lustgefühl beeinflussen.
Genau. Indem wir durch positive Erfahrungen neue Bilanzen schreiben. Ganz vereinfacht: Wir können neu lernen, was uns erregt, durch Ausprobieren und Wiederholung. Wenn uns etwas gefällt, dann wollen wir mehr davon.

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«Die Vagina wird oftmals als kompliziert, anfällig oder sogar eklig dargestellt»

Wie genau entsteht Erregung in unserem Körper?
Erregung ist ein körperlicher Reflex, der sich von selbst auslöst. So wie unser Knie ausschlägt, wenn man an einen bestimmten Punkt drückt, wird der Erregungsreflex durch bestimmte Berührungen ausgelöst. Diese sexuellen Reflexe können trainiert werden.

Das müssen Sie erklären.
Ein Beispiel: Die meisten Frauen lernen früh, dass durch die Stimulation des Klitoriskopfes der Erregungsreflex schnell ausgelöst wird. Aber auf der Vulva, am Vaginaeingang, in der Vagina – da sind überall Nervenzellen, die nur darauf warten, gekitzelt zu werden. Allerdings werden sie gar nie richtig in Gang gesetzt, wenn immer nur der Klitoriskopf stimuliert wird. Das Gehirn koppelt die Empfindungen dann nicht mit dem Erregungsreflex.

Ist das Entstehen und Empfinden von Lust unterschiedlich für die Geschlechter?
Nein. Alle Geschlechter haben das gleiche Lustpotenzial. Aber wir lernen Lust anders. Mädchen haben so gesehen zwei Genitalien: aussen die Vulva, innen die Vagina. Die Vagina wird in der Erziehung oftmals als kompliziert, anfällig oder sogar eklig dargestellt. Daher bleibt dieser Teil oftmals unberührt und wird nicht als lustvoll wahrgenommen. Bei Jungs hingegen ist der Penis von klein auf «vollständig», sie können sich schon die ganze Zeit erkunden. Mädchen sind sozusagen hinterher, weil sie oft lange nur das Äussere erkunden, also den Klitoriskopf. Der Rest wird viel seltener berührt – oder gar nicht erst richtig kennengelernt.

In ihrem Buch bilden sie hauptsächlich Vulvas ab. Wieso?
In der Einleitung des Buches betonen wir ausführlich, dass das Buch für alle ist. Das Geschlecht spielt überhaupt keine Rolle, wenn es um Lust geht. Die Übungen sind für Menschen mit weiblichen Genitalen beschrieben, aber sie können genauso gut von anderen Menschen angewendet werden. Was dabei zu beachten ist, wird im Buch auch beschrieben. Die Fragen sind für alle die gleichen: Was braucht die Person, um sich beim Sex gut zu fühlen? Und wie kann die Person das am besten kommunizieren?

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«Wir können lernen, unser Erregungsgefühl von der Aufregung unabhängig zu machen»

Sie schreiben, Lust und Liebe hängen nicht zwangsläufig zusammen.
Bei ganz vielen Menschen wird der Erregungsreflex durch Aufregung ausgelöst. Ist man frisch verliebt, ist meistens alles sehr aufregend. Oft führt das zu viel Lust und viel Sex. Wenn man länger in einer Beziehung ist, verfliegt diese Aufregung. Das ist ganz normal und hormonell begründet. Viele Paare haben dann weniger Sex und dazu kommen auch mehr negative Gefühle und Emotionen. Sie denken: Wenn die Lust weg ist, ist die Liebe im Arsch.

Und das stimmt nicht?
Oftmals fehlt schlicht die Aufregung, an die man sich gewöhnt hat – und es hat überhaupt nichts mit dem Gegenüber zu tun. Wir können lernen, unser Erregungsgefühl von der Aufregung unabhängig zu machen. Wir können neue Dinge lernen, die unseren Reflex auslösen. Ob man überhaupt an der Sexualität mit dem Gegenüber arbeiten will, ist aber wirklich jeder Person selbst überlassen.

Beim Lesen Ihres Buches kann man den Eindruck gewinnen, dass die Menschen wenig über ihre eigene Sexualität wissen. Sollten wir uns mehr damit beschäftigen?
Ja, absolut! Ich sehe es bei meinen Kindern in der Schule: Es gibt immer noch keine einheitliche, sexpositive Sexualerziehung. Das Thema wird nach wie vor stiefmütterlich behandelt, vieles nach wie vor ausgeblendet. Zum Beispiel wie ein Orgasmus funktioniert oder die genaue Anatomie einer Klitoris. Ich kann nicht glauben, dass ich das vielen Erwachsenen immer noch erklären muss! Damit man seine Sexualität frei und erfüllend ausleben kann, muss man erst einmal wissen, was einem alles zur Verfügung steht. Nur dann kann man wählen.

In ihrem Buch gibt es Self-Tests: Einen, um herauszufinden, welcher Erregungstyp man ist, und einen anderen, um die eigene Motivation beim Sex mit anderen zu erforschen. Was bringen diese Ergebnisse?
Mit den Tests will ich zeigen: Lust und Sex sind keine Magie! Es gibt Konzepte und Ideen, die einem diese Dinge ganz klar veranschaulichen können. Viele Menschen leben ihre Sexualität unbewusst. Dabei ist es total wichtig, sich über seine Motivation im Klaren zu sein. Schlafe ich mit jemandem, weil ich mich dann emotional nah fühle? Weil ich mich begehrt fühlen will? Ein Grund, dass wir weniger Lust empfinden, kann nämlich sein, dass unsere Motivation wegfällt.

Wie das?
Wenn man zum Beispiel ein Kind bekommt, dann absorbiert das viele Emotionen. So stark, dass es das Bedürfnis an Verbindung decken kann. Damit fällt die Initialzündung für Sex weg, wenn der durch den Wunsch nach emotionaler Nähe motiviert war.

«Je mehr man ausprobiert und übt, desto sicherer und besser fühlt man sich»

Welche verschiedene Erregungsarten gibt es?
Die ursprünglichste Art, den Erregungsreflex zu aktivieren, ist durch Druck. Das sieht man bereits bei Babys, die sich bäuchlings liegend mit der Windel gegen die Unterlage drücken. In dieser Phase können sie ihre Hände noch nicht nutzen. Viele praktizieren diese Form jedoch weiter, insbesondere Frauen, zum Beispiel indem sie sich beim Solosex ein Kissen zwischen die Beine klemmen.

Auch wenn sie als Erwachsene ihre Hände ja benutzen könnten?
Ja. Die meisten Menschen entdecken dann irgendwann den Reibungsmodus: Männer wichsen, Frauen massieren den Klitoriskopf. Vibratoren sind die krasseste, schnellste Form dieser Reibungsbewegung. Der dritte Erregungstyp ist Bewegung: Sich sinnlich bewegen, zum Beispiel die Hüfte kreisen lassen. Es ist wichtig, sich das bewusst zu machen, um sich selbst besser zu verstehen – und zu sehen, was man mal ausprobieren könnte.

Im dritten Teil Ihres Buches wird es praktisch. Sie stellen ein Lust-Micro-Training vor, das folgender Strategie folgt: Erst der Körper, dann der Kopf. Was heisst das konkret?
Mein liebstes Beispiel: Joggen. Fängt man neu mit dem Joggen an, ist es schrecklich. Es ist eine riesige Überwindung, überhaupt die Schuhe anzuziehen. Während des Joggens tut alles weh; danach fühlt man sich auch nicht besser. Macht man es aber alle zwei Tage, erst fünf Minuten, dann zehn, dann 20, kommt irgendwann der Punkt, an dem man sich danach besser fühlt. Und irgendwann fühlt man sich währenddessen auch gut. Sehr gut sogar. Das Joggen hat sich so fest automatisiert, dass es einem fehlt, wenn man es nicht hat. Vom Körper in den Kopf. Das Gleiche möchte ich mit Lust erreichen.

Und wie?
Bleiben wir beim Joggen: Je mehr wir üben, je besser wir uns dabei fühlen, desto mehr Endorphine rasen durch unseren Körper, desto glücklicher fühlen wir uns. Und je besser sich etwas anfühlt, desto mehr Vorfreude empfinden wir. Genauso funktioniert es mit der sexuellen Lust: Wir bringen unserem Körper durch Übung und Wiederholung bei, wie toll sich eine neue Berührung oder Bewegung anfühlen kann. Ob Joggen, Klettern oder Musizieren – wir brauchen in jedem Lebensbereich Übung, Wiederholung, Gewöhnung. Wieso glauben wir eigentlich, dass das nicht auch auf unseren Körper, unser Genital oder Sex zutrifft?

Dania Schiftan ist Psychotherapeutin und klinische Sexologin in Zürich. Mit ihrem ersten Buch «Coming Soon» über den vaginalen Orgasmus wurde sie zur Spiegel-Bestsellerautorin. Jetzt ist ihr neuster Ratgeber erschienen: «Das Comeback deiner Lust: So entfachst du das Feuer in dir» (25 Fr.). Am 23. September 2024 spricht Dania Schiftan mit Podcasterin Ellen Girod in Zürich im Kaufleuten über das Thema «Mit weiblichen Orgasmen gegen das Patriarchat?». Hier gibts Tickets.

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