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«Lieben» von Emilia Roig: Lohnt sich der Essayband?

Liebe & Sex 

«Lieben» von Emilia Roig: Lohnt sich der Essayband?

Die Politologin und Autorin Emilia Roig hat ihr drittes Buch veröffentlicht, den Essayband «Lieben». Darin hinterfragt sie überkommene Liebesnormen – und plädiert für einen spirituellen Zugang. Autorin Darja Keller hat den Band gelesen.

«Ich liebe die Liebe so sehr, dass mein ganzes Leben auf sie ausgerichtet ist. Ich denke ununterbrochen über sie nach und sehne mich jede Sekunde nach ihr.» Diese Sätze bilden nicht umsonst den Anfang von Emilia Roigs neuem Essayband «Lieben». Was die Politologin und Aktivistin schreibt, gilt nicht nur für sie. Nachdenken über Liebe ist eine gesamtgesellschaftliche Obsession. In der Welt des Schwärmens und Schwelgens – Popmusik, Kitschromane, Rom-Coms – ist das nichts Neues.

Aber in den letzten Jahren scheint eine bestimmte Art von Liebes-Analyse Hochkonjunktur zu feiern. Die 2020er-Jahre, so scheint es, sind die Zeit der feministischen Liebes-Sachbücher, die Liebe neu zu denken und von ihren patriarchalen Verstrickungen zu bereinigen versprechen. «Radikale Zärtlichkeit» von Şeyda Kurt, «Freunde lieben» von Ole Liebl, «Modern Heartbreak» von Laura Melina Berling, «Das Ende der Ehe» (ebenfalls) von Emilia Roig.

In all diesen Büchern geht es darum, das romantische Liebesideal (Monogamie, Heirat, Kinder, Valentinstag) zu hinterfragen, die eigenen bürgerlich-sexistischen Wurzeln zu entlarven. Es geht darum, Beziehungsformen zu überdenken, Normen zu hinterfragen, nicht das ganze Leben auf einen Menschen auszurichten.

Und so entstehen Kernaussagen wie diese: Ein breites Netz an Freundschaften ist besser als eine unglückliche Paarbeziehung. Single-Frauen sind statistisch gesehen glücklicher als verheiratete. Die Kleinfamilie ist überholt. Liebe ist politisch. Liebe ist ein Handeln. Der Kapitalismus schadet der Liebe; Dating-Apps (als Verkörperung des Letzteren) schaden der Liebe. Verliebtheit ist mit Vorsicht zu geniessen, da sie mit (ungesunder!) Projektion einhergeht.

Vordenkerinnen dieser Bücher sind die israelische Soziologin Eva Illouz, die den Zusammenhang von Romantik und Kapitalismus in zahlreichen Büchern untersucht hat (z. B. «Warum Liebe wehtut», 2011) sowie die afroamerikanische Autorin Bell Hooks, die die Vorstellung von Liebe als Praxis und feministischen Akt geprägt hat (z. B. «Alles über Liebe», 2000).

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«Roigs Analyse ist überzeugend – enthält aber auch nicht viel Neues oder Ungesagtes»

Es ist etwas Gutes, dass wir der Liebe so viel Zeit widmen. Dass wir versuchen, sie offener, wertfreier, weniger heteronormativ, weniger absolut zu denken. Diese Bücher zu lesen, hat etwas Heilsames, wenn man mit dem US-amerikanisch geprägten Romantikideal der 2000er aufgewachsen ist. Alle paar Monate kam damals ein neuer Film ins Kino, in dem Julia Roberts oder Sandra Bullock ihren Traumprinzen fanden. Ich bin froh, dass diese Zeit vorbei ist. Aber: Ich habe auch das Gefühl, dass sich die neuen Liebes-Essays in ihren Kernaussagen wiederholen.

Eifersucht als «Produkt des kapitalistischen Knappheitsmythos»

«Lieben» bildet hier leider keine Ausnahme. Es ist ein solider Essay, in der persönliche Erfahrungen und brutale Traumata eingeordnet werden mit Hilfe von feministischer Theorie. Die Analyse ist überzeugend und stringent, enthält aber auch nicht viel Neues oder Ungesagtes – vielleicht einfach, weil in den letzten Jahren schon viel Wichtiges geschrieben wurde, unter anderem von Roig selbst in ihrem Spiegel-Bestseller «Das Ende der Ehe».

An einzelnen Stellen kippt der Text ins Phrasenhafte, etwa wenn das Gefühl der Eifersucht als «Produkt des kapitalistischen Knappheitsmythos» definiert wird. Dass Eifersucht psychologisch komplexer ist als das und unser Wirtschaftsmodell unmöglich der einzige Auslöser dieser Emotion sein kann (sonst wäre sie keine literarische Konstante durch jegliches ökonomische System hindurch), wird unterschlagen.

Die Liebe zum Kosmos: Spiritualität als neue Verbundenheit

Gegen Ende des Buchs schlägt Roig jedoch noch einmal ein neues Kapitel auf, indem sie den Fokus weglenkt von der zwischenmenschlichen Gefühlswelt. Sie erforscht das Potenzial einer Liebe, die unsere nicht-menschliche Umgebung – Pflanzen, Tiere, Sterne, Meere – nicht als blosse Kulisse, sondern als Teil des Ökosystems betrachtet, in das wir hineingehören. Wie können wir Natur und Tiere nicht herablassend, paternalistisch oder mit einem Eroberer-Gestus, sondern auf Augenhöhe innig lieben? Angesichts von Artensterben und Klimakatastrophe sind das drängende Fragen.

Im letzten Kapitel geht es um die spirituelle Verbundenheit mit dem Universum. Roig erzählt, wie sie als Kind und als junge Erwachsene sexuellen Missbrauch erfahren hat. In diesen Momenten habe ihr Gehirn auf Pause geschaltet und sich an einen «kosmischen Zufluchtsort» zurückgezogen – sie habe sich intuitiv vorgestellt, mit dem Universum zu verschmelzen. Ihr Körper verblieb an Ort und Stelle, aber ihr Gehirn erinnerte sich später nicht im Detail an den Vorfall. «Dissoziative Amnesie» nennt sich dieser überlebenswichtige Vorgang im psychologischen Jargon.

Bis heute empfindet sie den Kosmos und die ihm zugeschriebene Macht als etwas Tröstliches. Den Kosmos zu lieben, hat Roig gewissermassen also das Leben gerettet. Bis heute habe sie ein enges Verhältnis zu astrologischen und spirituellen Praktiken. «Astrologie nährt meine Intuition», schreibt Roig, «sie kann den Lauf der Welt nicht beeinflussen, aber sie bietet Kontinuität in der Unvorhersehbarkeit des Lebens.» In der Astrologie gebe es kein Richtig und Falsch, kein Urteil. Zudem stifte sie ein Gefühl von Zugehörigkeit, davon, eingebettet zu sein in etwas Grösserem.

Auf diesen letzten Seiten fügt Roig durch die Hinwendung zum Nicht-Menschlichen den redundanten Liebeskritiken unserer Zeit eine neue Ebene hinzu: Liebe als gemeinschaftsstiftendes, fürsorgliches und übersinnliches Gefühl, als wabernde Verbundenheit, die uns allen gegeben ist. Auf diesen Ansatz muss man sich einlassen wollen. Doch lesen sich Roigs Passagen über Spiritualität und Astrologie so tröstlich und hoffnungsvoll, dass auch Esoterik-Unbegeisterte daraus etwas mitnehmen können.

Und so hinterlässt «Lieben» schliesslich doch ein warmes Gefühl, das den Blick über zwischenmenschliche Beziehungen hinaus weitet. Ein warmes Gefühl, oder, um mit Roig zu sprechen: den Hauch einer «kosmischen Kraft».

Emilia Roig (41) ist Politologin und Autorin. Ihre ersten beiden Bücher «Why we matter» und «Das Ende der Ehe» waren Spiegel-Bestseller. Sie spricht zu feministischen, intersektionalen und gesellschaftspolitischen Themen und leitete von 2017 bis 2019 das «Center for Intersectional Justice» in Berlin. Der Essay «Lieben» ist Teil der Reihe «Das Leben lesen – 10 Bücher über die 10 wichtigsten Themen des Lebens», die im Verlag Hanser Berlin erscheint. 

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