Johanna Degen ist Psychologin und forscht zur Nutzung von Tinder. Sie erklärt, wie sich Online-Dating verändert hat und warum ihr euer nächstes Date vielleicht zum Klettern mitnehmen solltet.
Laut einer neuen Umfrage der Dating-App Bumble haben sich in den Lockdowns fünf Dating-Trends etabliert, die Zukunft haben. So bezeichnen sich etwa 36 Prozent der Befragten als «Deepdivers»: Im Fokus steht bei ihnen kein Smalltalk, sondern das Kennenlernen auf einer tiefen Ebene, bevor man sich überhaupt im echten Leben trifft. Auch «Active Dates», bei denen man etwas unternimmt, statt sich in Bars oder Cafés zu treffen, und «Sober Dates», also Dates ohne Alkohol, sind hoch im Kurs. Die deutsche Psychologin und Wissenschafterin Johanna Degen forscht zur Nutzung der Dating-App Tinder. Mit uns hat sie über Dating-Trends gesprochen.
annabelle: Johanna Degen, wie hat die Pandemie die Art, wie wir daten, beeinflusst?
Johanna Degen: Vor der Pandemie haben wir eher eine Beschleunigung im Dating erlebt, die wurde mit Corona ausgebremst. Wir konnten uns nicht mit anderen treffen, es gab weniger schnellen Sex und viel weniger Dates. Im öffentlichen Diskurs hiess es, dass Online-Dating mit den Lockdowns obsolet geworden ist, da es eh nur ein Tool für Sex ist. Es hat sich aber gezeigt, dass das nicht stimmt: Es wurde sogar mehr als vorher online gedatet. Die Aktivität hat zugenommen, aber die Nutzung hat sich stark verändert.
Wie hat sie sich verändert?
Ich sage gern: Es ist der Verlust der Lust, wenn Online-Dating nur noch online stattfindet. Ich würde nicht sagen, dass Online-Dating vorher nur für Sex da war. Aber wenn er ausgeschlossen ist, ist die Spannung raus. Wenn Online-Dating nicht mehr das Vehikel für Erlebnisse und Treffen im realen Leben ist, dann scheint es zwar nicht weniger benutzt zu werden, aber deutlich weniger lustig zu sein. Ich habe nicht eine Person getroffen, die gesagt hat, es sei ein grosser Spass, während einer Pandemie zu tindern.
Warum tinderte man dann trotzdem im Lockdown?
Das Bedürfnis, sich auf Apps mit anderen auszutauschen und Kontakte zu suchen, ist geblieben. Dazu kommt, dass sich andere soziale Prozesse in diesen Onlinekontext verlagert haben, zum Beispiel Selbstvalidierung, Bewältigungsstrategien für die Situation oder auch der Umgang mit Langeweile.
36 Prozent bezeichnen sich laut einer Bumble-Umfrage als «Deepdivers», die Menschen auf einer tiefen Ebene kennenlernen wollen, bevor es überhaupt zu einem Treffen kommt. Warum haben wir jetzt weniger Interesse an Smalltalk, wenn wir jemanden kennenlernen?
Ich erlebe das auch: Die Gespräche werden tiefer und auch die Bereitschaft, länger miteinander zu schreiben, ist da. Vorher war diese Bereitschaft, lang zu chatten, oft nicht besonders gross, bevor man sich getroffen hat. Manche hatten sogar klare Regeln: Acht Mal schreiben, wenn es dann nichts geworden ist, Haken dran und ab zum nächsten Chat. Diese Regelwerke haben sich jetzt notgedrungen verändert. Man möchte nicht mit vierzig Menschen Smalltalk machen – es wird eher Tiefe gesucht. Weil es eben auch andere Beziehungen ersetzt.
Was meinen Sie?
Sagen wir mal, ich hatte sonst meine tiefen Gespräche in der Bar mit meinen Freund:innen und hatte auch noch Spass, wenn ich an einer Party flirtete. Dieses Gefühl sucht man jetzt im Chat, weil sich nicht mehr alles kombinieren lässt. Hinter dem Online-Dating steckt eine Investment-Logik. Man möchte möglichst wenig geben, möglichst viel bekommen und möglichst keine Zeit verschwenden. Wenn man jetzt eine Person pro Woche trifft, muss man ein Risiko kalkulieren – und dann sollte dieses natürlich gut gesetzt sein. Ich muss vorher abschätzen, wem ich meine Zeit schenke und bei wem ich mich dem Risiko aussetze, mich anzustecken. Da spricht man schon mal lieber länger miteinander, bevor man dann beim Treffen nach acht Minuten wieder geht und das dann quasi der einzige, miese soziale Kontakt der Woche war.
Johanna Degen«Alle suchen besondere Momente. Keiner ist da, um sich zu langweilen und Menschen zu treffen, die einem nichts sagen»
«Sober Dates», also Dating ohne Alkohol, und «Active Dates», bei denen man etwa draussen etwas unternimmt, sind ebenfalls beliebt. Ein langfristiger Trend?
Ja. Was beim Online-Dating alle gemeinsam haben, ist, dass sie als besonders gesehen werden wollen. Alle suchen schöne und besondere Momente. Keiner ist da, um sich zu langweilen und Menschen zu treffen, die einem nichts sagen. Man kann sich streiten, ob das kurzfristige oder längere Affären sind, aber es geht allen darum, etwas zu erleben, was einen irgendwie erfüllt. Dieses Bedürfnis war vorher auch schon da. Es kann sein, dass man in der Pandemie gemerkt hat, dass ein Date nicht immer nur im Pub stattfinden muss – und dass sich dieses Bedürfnis nun verstärkt hat. Das wissen wir übrigens auch aus der Psychologie: Es lohnt sich, bei einem Date etwas Aufregendes zu machen.
Warum?
Die körperliche Aufregung wird auf den anderen projiziert und man kann das Gefühl bekommen, sich gerade zu verlieben. Im Hochseilgarten klettern zu gehen ist ein gutes Investment: Die andere Person wird deswegen erregt sein und diesen Moment, den man zusammen erlebt, auch der Beziehung zuschreiben.
Präsentiert man sich auf Tinder und anderen Apps heute anders als vor oder zu Beginn der Pandemie?
Ja, das hat sich verändert. Seit 2017 analysieren wir diese Bilder auf Apps. Uns ist aufgefallen, dass die Fotos vor allem da sind, um das Gegenüber einzuladen. Nach dem Motto: So ist das Leben, wenn du mich ein Stück lang begleitest. Das hat sich natürlich durch die Pandemie verändert. Jetzt zeigen sich die Leute nicht mehr unbedingt mit vielen anderen Personen. Diese sozialen Fotos und Entertainment-Bilder sind weniger geworden, stattdessen werden andere Qualitäten in den Vordergrund gestellt. Und da gibt es eine Spaltung in zwei Gruppen.
Welche sind das?
Es gibt die, die betonen, wie gut sie sich selbst beschäftigen können. Das sind die Personen, die erzählen, dass sie in der Pandemie eine Firma gegründet oder ein Buch geschrieben haben. Und dann gibt es die, die sich die Zeit vertrieben haben. Die haben Playstation gespielt und auf Netflix alles gebingt. Diese zwei Typen funktionieren nicht gut zusammen, weil sie unterschiedliche Werthaltungen haben. Aber es gibt jetzt zum Beispiel Profile, bei denen steht: «Ich habe einen Netflix-Account.» Auf anderen Profilen wird hervorgehoben, dass man stolz ist, die Zeit produktiv genutzt zu haben.
Sind die Reisebilder auf Dating-Apps also ausgestorben?
Nein, die sind immer noch da. Die sind wirklich der Klassiker. Das ist die zweitgrösste Kategorie nach Selfies, und die sind nicht verschwunden – sie werden nie aussterben. Reisebilder sind einfach attraktiv und bekommen mehr Likes.
26 Prozent der Befragten gaben bei der Umfrage an, dass das Aussehen bei der Partnersuche im letzten Jahr weniger wichtig geworden ist. Viele Apps funktionieren aber genau nach dem «Hot or not»-Prinzip. Haben sich also die Kategorien, nach denen wir unsere Partner auf Apps auswählen, geändert?
Da muss man aufpassen, denn oft ändert sich das Narrativ, aber nicht das Verhalten. Es ist vielleicht im Zeichen der Body Positivity auch einfach uncool geworden, zu sagen, dass man nur schlanke Models datet. Es ist heute eine implizite Regel, dass es nicht in Ordnung ist, zu sagen: Ich will niemanden mit Cellulite und ich finde es blöd, mit sozusagen Dicken zu schlafen. Ausserdem ist es in der Krisenzeit wichtiger geworden, was einem das Gegenüber bieten kann, ausser attraktiv beim Sex auszusehen. Dass man jetzt auch etwas anderes braucht, ist beim Online-Dating in den Vordergrund gerückt.
Was meinen Sie?
Heute heisst es schon mal: «Oh, ich bin einsam, schreib mir mal.» Diesen Tenor gab es vorher nicht. Da waren alle immer happy, healthy und unkompliziert. Jetzt ist man manchmal auch deprimiert. Das ist neu und da braucht man natürlich mehr vom Gegenüber, als dass es gut auf dem Foto aussieht. Auch weil wir wissen, dass man den Fotos nicht immer ganz trauen kann. Ich glaube aber nicht, dass das Aussehen generell unwichtiger geworden ist, sondern einfach, dass sich das Narrativ geändert hat.
Präsentiert man sich auf Dating-Apps jetzt also authentischer?
Was sich verändert hat, ist, dass man jetzt zugeben darf, dass man ein schlechtes Jahr hatte. Früher hat man immer versucht, sich gut darzustellen, weil man in dieser Gesellschaft gesagt bekommt, dass man es selbst verantwortet, wenn es nicht gut läuft. Jetzt im Moment ist eine Zeit, wo wir alle sagen dürfen: Ich langweile mich und hatte ein doofes Jahr.
Viele dürften nach den Lockdowns sozial etwas eingerostet sein. Inwiefern beeinflusst das unser künftiges Dating-Verhalten – und können wir dieses Eingerostet-Sein überwinden?
Natürlich können wir das! Ich bin überzeugt, dass wir resilient sind. Der Mensch ist nicht innerhalb eines Jahres zu einem Human Isolatus geworden. Ich habe aber vor allem von vorbelasteten Personen gehört, die jetzt mitunter Angst haben. Zwänge haben sich verstärkt, es gibt eine subjektive Not, Leute haben sich auch damit eingerichtet, nicht mehr so viele Konfrontationen zu haben oder langsamer zu leben. Und für die ist das mitunter schrecklich. Der Gedanke der Wiedereröffnung ist nicht für jeden schön.
Und wie zeigt sich das beim Dating, gibt es Unsicherheiten?
Nein, im Gegenteil. Was ich immer wieder höre, ist diese unbändige Lust darauf. Die Freude aufs Ausgehen, aufs Sex-Haben, aufs Umarmen ist gross. Bei mir als Psychologin klingeln eher die Alarmglocken, da diese Vorstellung so überhöht wird – das klingt mehr nach Enttäuschung.
Haben Sie einen Tipp für Singles, die jetzt im «New Normal» daten?
Eine Sache liegt mir am Herzen: Alle suchen danach, etwas Besonderes zu erleben. Gleichzeitig möchte man nichts investieren – und das widerspricht sich gegenseitig. Denn wenn man nicht bereit ist, etwas zu investieren, ist es auch selten ein besonderer Moment. Es bedarf der Vorbereitung und man muss bereit sein, sich Mühe zu geben und nicht nur an der Ecke ein Bier zu trinken oder zusammen joggen zu gehen, weil es billig ist und man eh joggen wollte. Eine Besonderheit muss man erschaffen, die kommt nicht von selbst. Und dann hat das Gegenüber auch eine echte Chance, besonders zu sein.
Die fünf Dating-Trends, die laut einer Umfrage der Dating-App Bumble auch nach dem Lockdown bleiben werden:
Virtual Dating: 32 Prozent gaben in der Umfrage an, dass Videodates zur Normalität im Dating geworden sind, und 28 Prozent plant, diesen Trend auch nach den Lockdowns fortzusetzen.
Sober Dating: Viele Singles gingen fürs erste Date in den Park und trafen sich am Tag und ohne Alkohol. Immer mehr wollen ihr Date ohne den Einfluss von Alkohol kennenlernen: 20 Prozent der Teilnehmenden sind neu «Sober Dater» und möchten sich jetzt und in Zukunft nüchtern verabreden.
Deepdivers: 36 Prozent bezeichnen sich als «Deepdivers» – Personen, die echte und ehrliche Gespräche darüber führen wollen, wer sie sind und was sie in ihrem Dating-Leben wollen. 26 Prozent der Befragten gaben an, dass das Aussehen bei der Partnersuche im letzten Jahr weniger wichtig geworden ist.
Active Dates: Die Idee von aktiven Dates im Freien soll auch nach den Lockdowns bleiben: 46 Prozent wollen sich für das erste Date auch nach den Lockdowns weiterhin im Park treffen. 29 Prozent planen für das erste Date ein gemeinsames Picknick draussen.
Online-Dating = Dating: Durch die Pandemie stehen 82 Prozent der Befragten Dating- Apps und der Tatsache, dass man eine künftige Partnerin oder einen künftigen Partner online kennenlernt, positiv gegenüber. Sogar unter den Menschen, die früher gegen Online-Dating waren, hat nun mehr als die Hälfte (57 %) ihre Meinung geändert.
Johanna Degen ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Psychologie-Dozentin an der Europa-Universität in Flensburg tätig. Seit 2017 forscht sie zur Nutzung von Tinder.