Liebe & Sex
Autorin Svenja Sörensen: «Kinder brauchen nicht per se monogame Eltern»
- Text: Jacqueline Krause-Blouin
- Bild: Matthias Fischer; Collage: annabelle
Svenja Sörensen (38) ist Beziehungscoach und führt eine offene Beziehung – mit Kind. Ein Gespräch über Liebe ohne Besitzansprüche, Wachstumsschmerzen und eine selbstbestimmte Beziehung als Selfcare.
annabelle: Svenja Sörensen, ist das Thema offene Beziehung wirklich noch immer ein Tabu?
Svenja Sörensen: Es leben geschätzt um die fünf Prozent der Liebespaare in dieser Art von Beziehung, wobei die Dunkelziffer sicherlich höher ist. Es ist nach wie vor ein absolutes Tabuthema, das merke ich in meiner täglichen Arbeit. Zudem ist die gesellschaftliche Stigmatisierung extrem. Das ändert sich aber langsam. Von einem Trend möchte ich nicht sprechen, aber für mich ist es doch eine Entwicklung, die vorhersehbar war. Mir war klar, dass das Thema zum Glück immer präsenter werden wird.
Warum war Ihnen das klar?
Wir leben im Zeitalter der Individualisierung und Selbstbestimmung, danach streben wir in allen Lebensbereichen und das Beziehungsleben gehört selbstverständlich dazu.
Eine offene Beziehung als Selfcare?
Nun, ich halte es für wichtig, dass wir in Beziehungen auch auf unsere Bedürfnisse achten und wir uns nicht alle in ein Konzept quetschen lassen, ohne dass wir es je hinterfragt haben. Ich sage nicht, dass Monogamie falsch ist, ich sage nur, dass sie nicht für jede:n passt. Wenn wir selbstbestimmt leben wollen, dann sollten wir auch selbstbestimmt lieben.
«Wenn wir selbstbestimmt leben wollen, sollten wir auch selbstbestimmt lieben»
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es für Sie ein Schock war, als Ihr Partner eine offene Beziehung vorschlug. Warum?
Ich kannte nichts anderes als Monogamie. Aber betrogen werden und fremdgehen, das kannte ich schon. Monogamie war für mich das einzig Wahre, die vermeintliche Sicherheit, an die ich mich geklammert habe. Aber ich hätte damals nicht behaupten können, wahrhaftig glücklich zu sein. Mein Mann ist über mehrere Jahre unserer Beziehung fremdgegangen und das kam auf den Tisch, als wir an einem Wendepunkt standen. Wir mussten uns fragen, wie wir uns in die Situation gebracht haben, dass mein Mann fremdgegangen ist. Wenn sich zwei Menschen lieben, sich so gut verstehen, so eine tolle, schöne Beziehung führen, Zukunftspläne haben, wie kann es da passieren, dass einer fremdgeht? Aber ich hatte keine Lust, das Opfer zu sein.
Was war Ihre Erklärung?
Es ist passiert, weil wir keine Alternativen zur Monogamie kannten. Mein Mann wusste nicht, dass es in Ordnung ist, sich zu anderen Frauen hingezogen zu fühlen. Er konnte das nicht ehrlich zugeben, aus Angst, mich zu verletzen. Das schmerzt, aber wir haben für uns die Entscheidung getroffen, dass wir die Beziehung weiterhin wollen. Aber anders.
«Mein Mann ist fremdgegangen, weil wir keine Alternativen zur Monogamie kannten»
Haben Sie den Vorschlag Ihres Partners persönlich genommen?
Anfangs ja, und das war genau mein Fehler, ich habe seine Anfrage mit meiner eigenen Unzulänglichkeit begründet. Ich hatte frauenfeindliche Denkweisen tief verinnerlicht: Andere Frauen waren per se Konkurrenz für mich und ich dachte, mein Mann wolle einfach nur weg von mir. Der Begriff «offene Beziehung» wird oft gleichgesetzt mit Unverbindlichkeit, Beliebigkeit – also das Gegenteil der Sicherheit, die ich mir von der Monogamie versprach.
In gewisser Weise ist so eine offene Beziehung aber doch auch unverbindlicher, nicht?
Offen ist für mich viel mehr eine Haltung meinem Partner und auch mir selbst gegenüber. Eine Haltung, die von tiefster Wertschätzung geprägt ist, nämlich der Idee, dass ich ein Individuum bin mit individuellen Wünschen und Bedürfnissen, und mein Mann ebenfalls. Es ist eine Form der Liebe frei von Besitzansprüchen.
«Offene Beziehungen werden oft gleichgesetzt mit Unverbindlichkeit»
Das könnte man doch aber auch in einer monogamen Beziehung so leben?
Auf jeden Fall. Wenn wir aber mal ehrlich sind, machen das doch die wenigsten. Wenn du eine offene Beziehung führst, dann kommen die Baustellen ans Licht und du bist gezwungen, dich damit auseinanderzusetzen. Unter dem Deckmantel der Monogamie kauft man sich ein Stück weit eine Pseudo-Sicherheit. Und wenn dann Betrug passiert, wiegt es für die Beteiligten noch viel, viel schwerer – weil ihre rosarote Seifenblase platzt.
Kann man sich eigentlich auch in einer offenen Beziehung betrügen?
Ja, auf jeden Fall, nur fusst der Begriff «Treue» nicht auf sexueller Exklusivität. Man betrügt sich, wenn man sich beispielsweise nicht an Absprachen hält. Ich zum Beispiel möchte nicht, dass mein Mann zu viel Alltagskontakt mit anderen hat, weil das unsere Familienzeit stört.
Wie lebt man eine offene Beziehung als Familie mit Kind?
Es kommt immer darauf an, wie man es organisiert, Kinder müssen das gar nicht unbedingt mitkriegen, wenn nicht ständig Menschen ein- und ausgehen. Generell nehmen Kinder aber einfach an, was ihnen vorgelebt wird, und sie hinterfragen das bis zu einem bestimmten Alter auch nicht. Wie Mama und Papa leben ist erst einmal normal und wird nicht beurteilt. Ich wünsche mir, dass unser Sohn in einer Vielfalt an Lebensformen aufwächst, damit eine offene Beziehung seiner Eltern für ihn gar nicht so eine grosse Irritation darstellen muss. Unser Sohn ist noch klein, wir mussten also bisher keine derartigen Gespräche führen. Wenn es soweit ist, werde ich aber jede seiner Fragen ehrlich und kindgerecht beantworten. Es ist auch eine Chance für ihn, nicht mit solch starren Beziehungsbildern aufwachsen zu müssen.
Dass Sie so öffentlich darüber sprechen, macht Sie auch angreifbar. Auf Social Media sind die Reaktionen auf Ihre Posts teilweise heftig, Sie werden als «schlechte Mutter» beschimpft.
Ja, und ich muss sagen, dass das auch wehtut. Natürlich wollen wir die bestmöglichen Eltern für unser Kind sein und ich habe manchmal auch Bedenken, dass unser Kind später deswegen gehänselt werden könnte. Aber Kinder werden auch wegen Zahnspangen und allen möglichen anderen Dingen gehänselt. Unser Sohn wächst in Sicherheit, Liebe und Geborgenheit auf und das ist es, was Kinder brauchen. Kinder brauchen nicht per se monogame Elternbeziehungen und Monogamie ist kein Garant für ein stabiles Elternhaus und emotional verfügbare Eltern.
«Monogamie ist kein Garant für ein stabiles Elternhaus»
Lassen Sie uns zum Schluss ein paar Klischees über offene Beziehungen reflektieren. Offene Beziehungen sind für Menschen, die nicht treu sein können …
Was ist Treue? Ist Treue sexuelle Exklusivität oder ist es eine Verbindung, Verlässlichkeit, Loyalität?
Eine offene Beziehung haben nur Paare, die sich gegenseitig nicht reichen …
Woher kommt die Idee, dass man sich als Partner:in reichen muss? Warum müssen wir bessere Hälften sein? Mein Mann ist nicht da, um mich glücklich zu machen. Die Beziehung ist dafür da, mich glücklicher zu machen. Kein Mensch kann sämtliche Bedürfnisse eines anderen befriedigen.
«Warum müssen wir bessere Hälften sein?»
Menschen in offenen Beziehungen sind bindungsscheu und kämpfen nicht für ihre Beziehung …
Offen wird fälschlicherweise mit unverbindlich gleichgesetzt. Aber nehmen Sie mich und meinen Mann als Beispiel: Wir sind seit über zehn Jahren zusammen, wir sind verheiratet, wir haben ein Kind zusammen – verbindlicher geht es nicht, oder? (lacht)
Wenn man mit jemand anderem schlafen darf, will man sowieso nicht mehr …
Es mag sein, dass es ein Stück weit an Faszination verliert, denn der Reiz des Verbotenen ist nicht zu unterschätzen. Aber man muss sich auch nicht wundern, wenn man die Beziehung öffnet und der Partner oder die Partnerin dann auch wirklich davon Gebrauch macht.
Einer ist immer traurig …
Das sollte so nicht sein! Wachstumsschmerz, ja, aber ständiges Aushalten oder Leiden, nein. Die offene Beziehung sollte das eigene Leben bereichern. Ist das nicht der Fall, sollte man ehrlich mit sich selbst sein und herausfinden, welche Art von Beziehung zu einem passt. Offene Beziehungen sind nicht der neueste Hype, den jetzt jede:r mitmachen muss.
Früher oder später wird sich einer von beiden verlieben …
Die Sorge halte ich für berechtigt, aber Angst ist grundsätzlich ein schlechter Begleiter. Ausserdem kann einem das auch in monogamen Beziehungen passieren. Wenn sich jemand verliebt, muss man darüber sprechen und man tut gut daran, Ruhe zu bewahren und nicht sofort in Panik zu verfallen. Was ist überhaupt Verliebtheit? Das Gehirn feiert eine Endorphinparty, und wenn man einen neuen Schwarm mit dem Altbekannten vergleicht, hat es das Altbekannte immer schwer. Das liegt aber nur daran, dass man die Ecken und Kanten des Neuen noch nicht kennt. Problematisch wird es eigentlich nur, wenn es in der Primärbeziehung kriselt, erst dann können andere eine Gefahr werden.
Svenja Sörensen: Offen lieben – Wie offene Beziehungen wirklich gelingen, Ullstein Verlag, 224 Seiten, ca. 24 Franken