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Liebe nach dem Lustprinzip

Liebe & Sex 

Liebe nach dem Lustprinzip

  • Text: Silvia Princigalli; Foto: Unsplash.com

Liebe, Vertrauen und eine offene Beziehung. Geht das? Ja, sagen Mira und Daniel, die seit drei Jahren die polygame Liebe leben.

Meine Freunde Daniel und Mira* sind ein Paar. Eins von denen, die gemeinsam in die Ferien fahren, Händchen halten, zusammen eine Zweizimmerwohnung teilen und mindestens fünf Kinder planen. Sie lieben sich, haben regelmässig grossartigen Sex und können sich vorstellen, zusammen alt zu werden. Trotzdem entsprechen sie nicht der gesellschaftlichen Beziehungsnorm: Sie leben polygam. Beide schlafen auch mit anderen.

Das war nicht immer so. Ich lerne die beiden kennen, als sie gerade ein halbes Jahr zusammen sind. Daniel lebt für ein halbes Jahr im Ausland, wo ich ihn erstmals treffe. Er vermisst Mira,  ist ihr treu.

Ein Jahr später leben wir drei in derselben Stadt. Unser Freundeskreis: fünf Paare, alle Mitte zwanzig, frisch verliebt und bereit, an der ersten ernsthaften Beziehung festzuhalten. Monogam, versteht sich. Jeder weiss, was er zuhause hat, und nur da wird gegessen. Daniel offenbart mir in dieser Zeit seine Lust, mit anderen Frauen zu schlafen. Es habe nichts damit zu tun, dass er mit Mira nicht glücklich oder sexuell unbefriedigt sei, manchmal habe er einfach Lust auf eine andere Frau, sagt er. Mira hat damit zu kämpfen. Sie hat Angst ihn zu verlieren, fühlt sich in die Ecke gedrängt.

Fast ein Jahr dauert es, bis sie sich einig sind. Unzählige Diskussionen und eine kurze Auszeit später möchten sie die Beziehung fortsetzen – mit neuen Spielregeln. Andere Sexualpartner sind erlaubt, der Freundeskreis ist tabu. Jedes Tête-à-Tête muss eine einmalige Sache bleiben, Telefonnummern werden nicht ausgetauscht. Wenn es nach Daniel ginge, könnten die Regeln lockerer sein, doch er fügt sich.

Mira wagt als Erste den Schritt. Sie schläft auf einer Dienstreise mit einem anderen Mann. Als sie das Zimmer verlässt, fragt er nach ihrer Nummer. Sie sagt Nein. Sie ist nervös vor dem Gespräch mit Daniel. Die Vorstellung, dass ein anderer Mann mit seiner Freundin geschlafen hat, erregt ihn. Sie haben Sex.

Daniel muss hingegen feststellen, dass es gar nicht einfach ist, in einer Beziehung fremde Frauen für einen One-Night-Stand zu begeistern. Wenige wollen mit einem Typen ins Bett, der zuhause eine Freundin hat.

Die Stadt, in der sie leben, ist plötzlich kein Meer an Möglichkeiten mehr, sondern ein Dorf. Jeder kennt jeden. Es braucht Grenzen. Tinder ist kein Thema. Dafür ist die Stadt zu klein. Einmal versucht Daniel eine Studienkollegin von Mira zu verführen. Sie knutschen. Er weiss nichts über die entfernte Bekanntschaft der beiden Frauen. Mira ist trotzdem sauer und setzt Kommilitonen ebenfalls auf die Tabuliste.

Ein Jahr später besucht Daniel ein Sommerfestival. Drei Tage: Feiern, Musik, Alkohol. Er lernt eine Frau kennen. Es bleibt nicht beim One-Night-Stand, sie verbringen das Festival miteinander, sie feiern, sie haben Sex, sie schlafen gemeinsam ein und frühstücken. Es ist das erste Mal, dass es zu Sex mit einer anderen Frau kommt, seit er mit Mira zusammen ist. Die Beziehung ist schon mehr als ein Jahr offen. Am Festival knutscht er mit zwei weiteren Frauen. Für Miras Geschmack ist er zu weit gegangen. Viel Zeit für ein Gespräch bleibt nicht. Wenige Stunden später fliegt Daniel in die Ferien. Mira trifft sich in den folgenden Tagen mehrmals mit einem Mann, den sie schon lang im Auge hat. Übernachtet bei ihm, sie schlafen mehrere Male miteinander. Daniel fühlt Trauer, Wut und Unsicherheit, schliesslich tut sie das, was sie im zuvor vorgeworfen hat. Sie weinen. Sie versöhnen sich. Sie machen weiter.

Heute sind die beiden seit fünf Jahren ein Paar, seit drei Jahren leben sie polygam. Von den fünf Paaren von damals, sind sie das einzige, das noch zusammen ist. Hin und wieder erleben sie sexuelle Abenteuer mit anderen, lassen sich davon inspirieren und finden sich wieder.

annabelle hat nachgefragt und mit Mira über Vertrauen, fremde Männer und die Gefahr sich zu verlieben gesprochen.

annabelle: Mira, wie oft haben Sie derzeit sexuelle Begegnungen ausserhalb Ihrer Beziehung?
Mira: Letztendlich sehr selten. Hinter einem solchen Abenteuer steckt auch immer viel Arbeit.

Auch als Frau? Ihr Partner war der Meinung, Frauen hätten es einfacher.
(lacht). Ja genau, das denkt er sich. Ich muss auch erst mal in Stimmung sein, dann ausgehen und jemanden kennen lernen, der mir gefällt – ich bin sehr wählerisch und will ja mit keinem Deppen ins Bett! Ich habe auch den Anspruch auf guten Sex und nicht einfach Sex. Wenn ich dann mal jemanden ins Auge gefasst habe, muss ich zuerst noch mit ihm flirten, um herauszufinden, ob er auch Interesse hat und damit klarkommt, dass ich in einer offenen Beziehung lebe.

Was passiert, wenn Sie das jeweils offenbaren?
Die meisten gehen locker damit um. Sie wollen einfach eine gute Zeit. Ich kenne aber auch viele Frauen, die unkompliziert auf eine solche Information reagieren. Es stimmt zwar schon, dass Daniel in der Vergangenheit eher auf Stolpersteine gestossen ist. Ich habe deshalb die Vermutung, dass er nicht immer direkt damit rausrückt, dass er in einer Beziehung ist. Das spielt für mich aber keine Rolle, das ist einfach ein anderes Konzept. Ich vertraue ihm vollends.

Stichwort Vertrauen. Was bedeutet das in einer offenen Beziehung?
Es ist schon merkwürdig, dass in einer Beziehung das Vertrauen stets von Anfang an an erster Stelle stehen muss. Man möchte die unendliche Sicherheit haben, dem anderen vertrauen zu können. Vertrauen muss sich meines Erachtens zuerst aufbauen. Ich hätte deshalb nicht bereits nach einem halben Jahr eine offene Beziehung führen können. Ich hätte jede einzelne von Daniels Geschichten hinterfragt. Nach fünf Jahren Beziehung weiss ich, dass diese Erlebnisse nicht unsere Beziehung tangieren. Sonst könnte wir das auf diese Weise nicht ausleben.

Was sollte und darf man sich erzählen?
Ich wollte anfangs viel mehr wissen und musste später feststellen, dass ich mein Konzept überdenken muss. Es hat sich anders angefühlt, als ich tatsächlich mit seinen Erzählungen konfrontiert war. Wir sind uns beide einig, dass Eifersucht an sich gar nicht existiert. Wir sprechen vielmehr von einem Selbstwert-Defizit, das mit Trauer und Wut ausgedrückt wird. Dazu hatten wir vor der Öffnung unserer Beziehung einen Expertenvortrag besucht. Mittlerweile möchte ich gar nicht mehr alles über die andere Frau wissen. Wenn ich aber merke, dass bei mir ein Gefühl wie etwa Wut aufkommt, mache ich mir das zunutze und kanalisiere es in ein sexuelles Gefühl. Ich habe dann ein starkes Bedürfnis, mit ihm zu schlafen und mein Revier zu markieren. Ihm geht es genauso.

Wie sieht es mit dem Fremdverlieben aus?
Dass man sich in jemand anderen verliebt, kann immer passieren. Dagegen kann sich kein Paar in einer monogamen Beziehung mit jeder Regel dieser Welt schützen. Ich bin der Meinung, dass, auch wenn sich zwei Personen extrem nahe stehen, von einer anderen Seite ein Mensch dazustossen kann. Dafür braucht es keine Lücke zwischen den ersten beiden. Das geht dann vielleicht schon in Richtung eines polyamourösen Konzepts. Eine Regel, an der wir festhalten, ist jedoch, dass, wenn man merkt, dass man jemanden nicht nur sexuell interessant findet, sondern sich mit ihm auch mehr vorstellen könnte, den Sex besser sein lässt.

Würden Sie zusehen wollen, wie er mit einer anderen Frau intim ist?
Kommt ganz auf die Situation an. Wenn wir zusammen beispielsweise in einer Bar sind, dann haben wir nur uns im Fokus. Bei diesem Konzept geht es letztendlich darum, in eine andere Rolle schlüpfen zu dürfen. Würde jemand von uns auf eine Drittperson stossen, die er interessant findet, würde ich wahrscheinlich einen Dreier vorschlagen. Das wäre die beste Lösung. Dazu ist es aber bisher noch nicht gekommen.

Was machen Sie nach dem Sex mit anderen Männern?
Bisher hatte ich das Bedürfnis zu gehen, und nicht dort zu übernachten. Das hat nichts mit Daniel oder einem schlechten Gewissen zu tun, sondern vielmehr, dass es bei einem reinen One-Night-Stand bleibt. Ich betrachte solche Begegnungen als Training. Denn meinen Körper nackt einem Fremden zu präsentieren, braucht Mut und verleiht mir neues Selbstvertrauen, mit dem ich zu meinem Partner zurückkehren kann. Ich befinde mich aber selbst noch in einem Lernprozess, in dem ich stetig mehr über mich selbst erfahre.

Was hat sich seit Ihren monogamen Anfängen bis heute verändert?
Unsere Beziehung hat sich mit der Zeit und dem Alter allgemein stark über die letzten fünf Jahre verändert. Wir reden heute ganz klar offener als früher miteinander, auch über Themen, die uns schwerfallen. Reden sehe ich als das einzig richtige Geheimrezept einer offenen Beziehung. Es gehört ebenso viel Akzeptanz dazu. Lang war ich zu wenig egoistisch und hatte bei allem, was ich gemacht habe, Daniel im Hinterkopf. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich abschalten muss, damit der Genuss nicht verloren geht. Denn letztendlich haben wir diesen Weg zusammen gewählt, und nur wenn wir das Ganze richtig ausleben, können wir diese Freiheit geniessen und gemeinsam daran wachsen.

*Name von der Redaktion geändert